Sieg der Vernunft

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Heinz

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Sieg der Vernunft (Mensch Morgen)

SIEG DER VERNUNFT

© H. B. Bavendiek ( 1980 )

Heute:

"Martin, holst du Ludwig zum Essen herein?" ruft die Mutter aus dem Nebenzimmer. "Der spielt im Garten."
Mürrisch legt der Ehemann die Zeitung weg und nimmt die Pfeife aus dem Mund. Dann steht er auf und geht zur Tür. Das erste, was er sieht, als er die Tür öffnet, sind die qualmenden Schornsteine der Fabrik.
Der kleine Junge sitzt im Garten und starrt auf einen Maulwurfshügel. Er spielt nicht damit oder stochert darin herum, er starrt ihn nur an. Verwundert über das seltsame Verhalten seines Jungen geht der Vater zu ihm hinüber.
"Was machst du denn hier?" fragt er.
Der Junge blickt hoch als hätte er seinen Vater erst jetzt bemerkt.
"Ich habe zwei Ameisen gefangen, Vati." Der Mann bückt sich und sieht in der Mitte des Hügels zwei Ameisen, die sich bemühen, aus einem Loch herauszuklettern. Das gelingt ihnen aber nicht, da immer Erde nachrutscht.
"Was willst du denn mit denen anfangen?"
"Ich weiß nicht. Ich beobachte sie nur."
Einige Sekunden sitzen beide vor dem Erdhaufen und beobachten die kleinen Tiere. Dann fragt der Junge:
"Vati, was unterscheidet uns Menschen eigentlich von den Tieren?"
Der Mann schaut seinen Jungen überrascht an.
"Was uns von den Tieren unterscheidet? Hm, ich glaube, es ist die Vernunft. "
"Und was ist Vernunft?"
,,Vernunft ist die Fähigkeit, die Dinge im Leben logisch und sachlich und ohne Gefühlsduselei zu betrachten!" sagt der Mann sofort.

Morgen:

"Nun seid doch vernünftig", sagt der Polizist zu den Demonstranten. "Hier wird das Atomkraftwerk gebaut und damit basta. Ihr paar Leute könnt ohnehin nichts gegen den Staat ausrichten. Wozu also die ganze Aufregung?"
"Wozu?" meldet sich ein Sprecher der Demonstranten wütend. "Damit unsere Kinder in Zukunft in einer sauberen Welt leben können."
Beifälliges Gemurmel aus den hinteren Reihen ist zu hören.
,,Leute, die Diskussionen über die Umweltfreundlichkeit der Kernkraftwerke sind seit 15 Jahren beendet. Das bißchen Radioaktivität, das den Meilern entweicht, kann uns erwiesenermaßen nicht schaden. Seid also vernünftig und fügt euch."

Übermorgen:

"Ist das wieder ein mieses Wetter heute", sagt der junge Mann zu seinem Vater und nimmt den Atemfilter ab.
Der alte Mann sitzt in seinem Sessel und raucht eine Pfeife.
"Mach bitte die Tür wieder richtig zu", sagt er. "Es wird so schnell kalt hier drinnen." ,,Draußen ist es nur noch 2 Grad Celsius. Und das mitten im August."
Der alte Mann lächelt bitter.
"Ja, mein Junge. In meinen jungen Tagen habe ich die Sonne noch manchmal gesehen. Sie war so hell und so warm, daß ich mich noch heute genau an diese Augenblicke erinnern kann. Es war in den Tagen kurz bevor der Flugverkehr endgültig eingestellt wurde."
"Ja", sagt der junge Mann. "Das ist schon sehr lange her. Die heutigen Magnetschwebebahnen werden zwar nicht durch den Nebel behindert, aber sie können auch nicht über den Wolken fliegen, wo man die Sonne noch sehen kann."
Einige Sekunden sitzen beide schweigend imRaum.
"Dafür haben sie auch fossile Rohstoffe verbraucht", beginnt der junge Mann das Gespräch wieder. "Ich habe die neuesten Zahlen gelesen. Demnach ist der Erdölverbrauch in den letzten 2 Jahren überhaupt nicht mehr gestiegen. Ist das nicht großartig?"
,,Und wie lange reichen die Vorräte noch?"
"Noch ungefähr 3 Jahre. Aber man glaubt, bis dahin etwas Neues gefunden zu haben. Es sitzen ja kluge und vernünftige Männer an der Spitze unserer Regierung."

Noch später:

"Herr Präsident, wir sehen uns nicht mehr in der Lage, unsere Aufgaben zu erfüllen", sagt einer der drei Wissenschaftler zum Präsidenten der Globalregierung.
"So", reagierte dieser aufgebracht. "Und mit welchen Gründen kommen Sie diesmal zu mir?"
"Uns fehlen ganz einfach die Grundstoffe. Die riesigen chemischen Luftfilter verbrauchen Unmengen von Rohstoffen. Da die Produktion von nachwachsenden Rohstoffen durch die dichte Dunstglocke um den Planeten fast zum Erliegen gekommen ist, müssen wir auf fossile Brennstoffe zurückgreifen. Bei diesem titanischen Erdölpreis kann sich die Weltregierung einen Verbrauch von 100 Litern pro Tag aber nicht länger erlauben. Und wenn man uns den Ölhahn zudreht, gerät die Verschmutzung der Erdatmosphäre ins Unermeßliche. Und dann wird der Tag kommen, wo unsere eigene Atmosphäre für den Menschen reines Gift ist."
"Nun übertreiben Sie mal nicht", versuchte der Präsident abzuwiegeln. "Die Industrieproduktion ist in den letzten 4 Jahren um 32 % gesunken. Also muß die Verschmutzung doch auch weniger geworden sein."
"Das stimmt schon, doch der Rest der Industrien reicht aus, um die Atmosphäre weiter zu vergiften." Der Präsident sieht die drei Wissenschaftler ernst an.
"Und was schlagen Sie vor?" fragt er dann.
Der Sprecher schluckt nervös.
"Es gibt nur eine Möglichkeit, den Ölverbrauch auf 0,35 l pro Tag zu senken. Eine andere Lösung wäre zu teuer. Wir breiten über jede Großstadt einen Energieschirm aus, der die giftigen Gase abweist. Dann brauchen wir nur noch die Atemluft innerhalb der Stadt zu regenerieren."
"Und was wird mit den wenigen Dörfern außerhalb der Stadt?"
"Die wenigen Dorfbewohner, die es noch gibt, müssen natürlich auch in die Stadt ziehen. Die Unterkellerung der Städte ist weit fortgeschritten. Es ist genug Platz vorhanden. Es ist die einzige Möglichkeit, die uns noch geblieben ist. Ich hoffe, die Menschheit ist vernünftig genug, um das einzusehen."


Noch später:

Es ist 20 Uhr. Geesan Koon realisierte den Connect zur VR-Schnittstelle seines Intercoms. Im allgemeinen interessiert er sich nicht sonderlich für die Geschehnisse außerhalb der Stadt. Doch diesmal war etwas Besonderes geschehen. Etwas, das es noch nie gegeben hatte, soweit die Menschheit zurückdenken konnte. Eine Stadt war eingestürzt.
,,Guten Abend, geschätzte Arbeiter", begann der Nachrichtensprecher. Bilder des VR-Generators durchfluteten den Geist des Zuschauers und ließen ihn die Geschehnisse nachempfinden.
"Gestern Nacht gegen 2 Uhr gab es auf dem nordamerikanischen Kontinent ein schweres Erdbeben nie gekannter Stärke, das beide Städte dieses Erdteils schwer erschütterte. Der gesamte New-York-Distrikt wurde fast völlig verwüstet. Nach ersten Schätzungen sind mehrere Milliarden Menschen dabei umgekommen. Der Großteil der Bevölkerung ist aus der Stadt geflüchtet. Ohne Nahrungs- und Sauerstoffvorräte haben sie jedoch in der lebensfeindlichen Wildnis keine Überlebenschancen.
Die Ursache der Katastrophe liegt nach den bisherigen Ergebnissen an dem Energieversorgungssystem. Wie allen Arbeitern bekannt ist, wird durch das Anzapfen der heißen Magmaschichten im Innern der Erde die Energieversorgung der einzelnen Städte gesichert. Seit Menschengedenken hat dieses Verfahren zur Energiegewinnung problemlos funktioniert. Nun jedoch hat sich das Erdinnere langsam abgekühlt und zusammengezogen. Das hat dann zu Spannungen innerhalb der Erdkruste geführt, die sich jetzt auf dem nordamerikanischen Kontinent entladen haben.
Heute Nachmittag um 14 Uhr wurden konsequent alle Energieanlagen, die auf der Basis der Erdwärme arbeiten, deaktiviert. Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben die alten Fusionsmeiler die Energieversorgung sichergestellt, doch deren Schwerwasserstoff-Reserven reichen höchstens noch 140 Tage. Was danach kommen soll, ist noch unklar. Auf keinen Fall soll die Magmaschicht weiter angezapft werden, denn dann werden Katastrophen planetaren Ausmaßes die Folge sein.
Die zerstörten Städte können nicht wieder aufgebaut werden, denn dafür fehlen seit den letzten 1500 Jahren jegliche Baustoffe."
Geesan Koon schluckt. Er ist zu tief erschüttert, um etwas sagen zu können.
"Was soll denn nun werden?" fragt seine Frau neben ihm.
Geesan zuckt mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht. Aber immerhin haben wir noch 140 Tage Zeit. Bis dahin wird den Wissenschaftlern schon etwas Neues eingefallen sein."


Noch später:

Soryl Boon hat es geschafft. Schon morgen wird er als der größte Wissenschaftler aller Zeiten gelten. Er hat den einzigen Weg gefunden, der die Menschheit vor dem Untergang retten kann. Seitdem vor 50 Jahren die Energieversorgung zusammengebrochen war, kommen auf die Arbeiter mehr Probleme zu, als gelöst werden können. Und jetzt hat der Genwissenschaftler auf einen Schlag eine Lösung für alle Probleme parat.
Eine Tür öffnet sich.
,,Bitte treten Sie ein", ertönt eine Stimme.
Die fünf Wissenschaftler, darunter Soryl Boon mit der ID NGJ 6278 DDS, treten in einen großen Saal. Um einen runden Tisch in der Mitte des Raumes sitzt der Präsidentenrat der Weltregierung.
"Nun, hohe Herren. Zu welchem Ergebnis sind Sie mit Ihren Forschungen gekommen?" fragt der Sprecher der Weltregierung.
Soryl Boon tritt vor.
"Hohe Herren. Bevor ich über meine Forschungen berichte, möchte ich auf die katastrophale Lage der Menschheit hinweisen. Angefangen bei den immer größer werdenden Schwierigkeiten der Nahrungsmittelherstellung und der Atemluftgewinnung bis zum Problem der plötzlich aufgetauchten radioaktiven Stoffe in der Atmosphäre landen wir langsam aber sicher in einer Sackgasse. Die Menschheit hat in den letzten Jahrtausenden immer wieder versucht, ihre Umwelt so lebensfreundlich wie möglich zu gestalten. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem alle uns erreichbaren Werkstoffe zur Neige gehen. Wir können unsere Umwelt also nicht mehr an uns anpassen. Folglich müssen wir Menschen uns der Umwelt anpassen. Das ist aber nur möglich durch eine völlige Veränderung des menschlichen Körpers. Das zu ermöglichen, ohne dem Gehirn zu schaden, ist der Gen-Wissenschaft jetzt gelungen. Wir können durch gezielte Eingriffe die Erbinformationen derart abändern, daß schon der Mensch der nächsten Generation in der Lage ist, die radioaktive Strahlung zu ertragen, die so plötzlich aus uralten Salzbergwerken ausgeströmt ist. Ebenso kann dieser neue Mensch mit einem Zehntel der normalen Menge an Sauerstoff und Nahrungsmitteln auskommen."
Der Präsident horcht auf. "Wie soll denn das möglich sein?" fragt jemand.
"Ganz einfach", lautet die Antwort. "Der neue Mensch wird nur ein Zehntel des Gewichtes wie heute besitzen."
"Aber das ist ja absurd", protestiert ein weibliches Mitglied des Präsidentenrates.
"Warum?", entgegnet Soryl Boon mit sachlicher Kälte. "Schon heute wachsen 90 Prozent der Kinder in künstlichen Brutkästen heran. Es werden in Zukunft also 100 Prozent sein. Seien Sie also vernünftig und stimmen sie dem Vorschlag zu."


5 vor 12 Uhr:

POB 965 714 AGGPist wie alle vernünftigen, modernen Menschen ein kühler Logiker. Er hat in den letzten neun Tagen keine Minute geschlafen. Ihm, dem klügsten aller Arbeiter ist die Aufgabe zuteil geworden, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Doch was soll er finden? Die Erde gleicht einem geplünderten, verdreckten Steinhaufen. Dennoch, POB 965 714 AGGP gibt nicht so schnell auf. Über Kontaktsensoren an seinen vier Händen steuert er die größte, künstlich Intelligenz der Erde parallel, und wertet die Ergebnisse in seinem cybergenetisch optimierten Logikhirn zeitgleich dazu aus, um mit einen Ausweg zu finden. Doch es gibt keinen. Mit allen Regeln der Logik hat er es versucht. Zwecklos. Dabei wird es höchste Zeit.
Moment mal. Zeit. Das ist die Lösung. Er muß die Zeit zurückdrehen.
Sein Hauptbewußtsein realisierte eine virtuelle Verbindung.
"Hier VCC 345 673 X3NNT. Sind Sie zu einem Ergebnis gekommen?" fragt ein fremder Gedanke.
"Ja! Wir müssen eine Temporalschleuse generieren und in unsere eigene Vergangenheit reisen."
VCC 345 673 X3NNT überlegt eine Sekunde.
"Ja, es wäre theoretisch möglich, aber gäbe es denn da nicht ein Zeitparadoxon? Wir haben. noch keine Erfahrungen mit temporalen Effekten."
"Es birgt eine gewisse Gefahr in sich, doch ich glaube, die neuen Menschen sind jetzt vernünftig genug, um sich nicht zu verraten."


12 Uhr:

Ein Arbeiter bedient die Maschine. Die Zeitmaschine.
"Hier kommt der letzte Transport", teilt ein anderer Arbeiter ihm mit. "Kennst du die Koordinaten?"
"Ja, dieser Brutkasten wird auf den europäischen Kontinent transferiert. Dort sollen gute Lebensbedingungen herrschen."
"Weißt du, wie die neuen Menschen aussehen werden?"
,,Ähnlich wie wir, nur kleiner. Knapp 2 Zentimeter. Sie können nicht sprechen oder hören und haben auch keine technische VR-Com Verbindung. Sie verständigen sich durch Telepathie. Dabei betasten sie sich. Ansonsten leben sie in ähnlichen, großen Städten wie wir."
"Das ist auch gut so. Sie werden die vernünftigsten Wesen der Erde sein. Andere Lebewesen werden ihnen nacheifern, doch ihren Stand nie erreichen!"
Die Arbeiter starren mit ihren Facettenaugen den Brutkasten an, der kurz darauf im Zeitfeld verschwindet.


Heute:

"Können Tiere auch in den Himmel kommen, Vati?" fragt Ludwig.
Sein Vater lacht.
"Nein, mein Junge. Tiere kommen nicht in den Himmel."
"Aber warum denn nicht?"
Sein Vater denkt einige Sekunden nach.
"In der Bibel steht, daß nur der Mensch von allen Lebewesen das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Das heißt nicht, daß er das auch immer tut, sondern nur, daß er es kann."
"Dann ist das auch ein Unterschied zwischen uns Menschen und den Tieren?"
"Ja, vielleicht ist das ein Unterschied."
Plötzlich ertönt die Stimme der Mutter. "Nun kommt doch endlich zum Essen herein."
Ludwig blickt seinen Vater an.
"Ich mag aber doch nichts essen", sagt er.
"Danach geht es nicht, mein Kleiner. Wenn du groß und stark werden willst, mußt du jetzt etwas essen. Sei vernünftig und komm jetzt herein."
"Warum muß ich denn groß und stark werden?" fragt Ludwig.
"Komm jetzt", sagt sein Vater unwirsch, verärgert über die dumme Frage. Mürrisch steht der kleine Junge auf. Ein letztes mal schaut er auf die beiden Ameisen, die er gefangen hat. Dann springt er hoch, landet mit beiden Beinen auf dem Maulwurfhügel und zertritt die Ameisen. Anschließend geht er zum Essen
 

Nina H.

Mitglied
Ich sehe es sehr positiv, daß hier nicht nur sinnlose Action im Vordergrund steht, sondern der Versuch unternommen wurde, eine Botschaft rüberzubringen. Allerdings geschieht das meiner Ansicht nach etwas zu sehr mit dem erhobenen Zeigefinger und gerade die Gespräche zwischen Vater und Sohn wirken unnatürlich. Ich habe zwar (auch?) nicht so viel Erfahrung im Umgang mit Kindern, aber daß ein kleiner Junge (-wie im Text geschrieben wird. Unter "klein" stelle ich persönlich mir so zwischen 2 und 8 Jahren vor) zutiefst philosophische Fragen stellt, erscheint mir unglaubwürdig. Daß der Vater diese Fragen - obwohl er wohl schon ungeduldig darauf wartet, bis die ganze Familie endlich zum Essen versammelt ist und obwohl er eben noch "mürrisch" seine Zeitung weggelegt hat - noch geduldig beantwortet und ohne zu überlegen ("sofort") eine eindeutige Definition parat hat, dürfte auch nicht gerade der Realität entsprechen.
 

Heinz

Mitglied
Sieg der Vernunft (Mensch Morgen)

Der erhobene Zeigerfinger liegt nun mal in der Natur dieser Geschichte. Daran kann ich wenig tun.
Kleine Kinder hinterfragen die Dinge mehr als die meisten erwachsenen Menschen. Die Frage nach dem Sinn, was nach dem Tod kommt und wo wir herkommen stellen die Kinder zwischen 6 und 9 Jahren. In diesem Alter hatte ich mir den kleinen Jungen gedacht.
Das ein Vater sich keine Zeit nimmt, wenn andere Dinge anliegen, stimmt leider oft. Aber manchmal bemerkt ein Vater, wenn eine Frage wichtig ist. Und dann nimmt er sich Zeit. In diesem Fall war nicht einmal viel Zeit nötig.
Und die erste Antwort, die hier der Vater gibt, entspringt nicht einem tiefen Nachdenken, sondern eher einer durch die Gesellschaft vermittelten Botschaft. Vernunft als Ziel und Sinn im Leben.
Erst durch das Hinterfragen des Jungen wird der Vater genötigt, noch einmal nachzudenken. Das ist etwas, was unsere Kinder uns schenken.

Gruß Heinz
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Kann es sein, dass ich das schon mal (anderswo) gelesen habe?

Davon abgesehen: Beim (jetzt) ersten Lesen fand ich den Zeigerfinger-Stil unerträglich. Das liegt daran, dass eigentlich nicht erzählt wird, sondern spürbar "nur Infos verpackt" werden. Beim zweiten Lesen war es dann erträglich – da man weiß, worauf die Geschichte zusteuert. Beim dritten Lesen erscheint es dann als der einzig mögliche Tonfall (, dabei fallen dann aber auch inhaltliche "Stolperstellen" auf).
Das Hauptproblem (neben dem penetranten "Noch später" – gibt's da nicht eine elegantere Lösung?) ist, dass man beim ersten Lesen über "Gefällt mir" oder "Gefällt mir nicht" entscheidet – im Normalfall wird sich niemand einen Text „schönlesen“.


Weil mir die Pointe des Textes gefällt, bin ich unbedingt für eine Überarbeitung. Und weil die Struktur durchaus was hat (eigentlich: zwingend ist), hab ich gegrübelt, wie man das Zeigefinger-Phänomen mildern könnte.
Ich glaube, es kommt vor allem deshalb so störend rüber, weil im ersten Abschnitt zum Erzählen ausgeholt wird (, man sich auf „Bilder“, „Gefühle“ und vor allem auf „Zwischentöne“ einstellt), der Ton aber dann doch nicht sooo anders ist, dass man die „inhaltliche Klammer“ sofort lesen/erkennen würde. Das bedeutet, man nimmt automatisch an, dass es „schön erzählend“ weitergeht, bekommt dann aber „nur Infos“ serviert. Das wirkt ein bisschen „unfertig“.
Anderseits wird die Pointe erst dadurch richtig schön pointiert, wenn man die „Klammer“ nicht sofort erkennt. Was m.E. bedeutet, dass im ersten Abschnitt weniger erzählt werden sollte...
Das könnte so aussehen:

"Martin, holst du Ludwig zum Essen herein?" ruft die Mutter aus dem Nebenzimmer. "Der spielt im Garten." [blue]Da die Personen nicht als Charaktere wichtig werden, würde ich höchstens dem Kind einen Namen geben – aber auch „nur“ deshalb, weil es seltsam klingen würde, riefe die Mutter „Holst du mal unseren Sohn zum Essen herein?“[/blue]
Mürrisch legt der Ehemann [blue]Stil: Mutter und Vater ODER Frau und Mann – nicht „ruft die Mutter“ und „reagiert der Ehemann“ / höchstens: „ruft die Mutter“ und „reagiert ihr Mann“[/blue] die Zeitung weg und nimmt die Pfeife aus dem Mund. Dann steht er auf und geht zur Tür. Das erste, was er sieht, als er die Tür öffnet, sind die qualmenden Schornsteine der Fabrik. [blue]Das betont (wegen des umständlichen Schachtelsatzes, zu sehr – dicker fetter Zeigefinger!. Wie wäre es mit: „Es ist sonnig draußen, nur von den Schornsteinen her quellen schwarze Schwaden über den Himmel.“ (oder so)?[/blue]
Der kleine Junge sitzt im Garten und starrt auf einen Maulwurfshügel. Er spielt nicht damit oder stochert darin herum, er starrt ihn nur an. [blue] Es reicht, einmal zu sagen, dass er starrt. So betont, bekommt es eine Bedeutung, die der Handlung weder in sich noch im Rahmen der Geschichte entspricht.[/blue] Verwundert über das seltsame Verhalten seines Jungen geht der Vater zu ihm hinüber. [blue]Dass es den Vater wundert, ist unerheblich – diese Info (dass der Junge ansonsten eher herumtollt) ist belanglos für die Geschichte. Einfach nur: „Der Vater tritt näher.“[/blue]
"Was machst du denn hier?" fragt er.
Der Junge blickt hoch[red]Komma[/red] als hätte er seinen Vater erst jetzt bemerkt.[blue]Das heißt, er hat ihn bemerkt, lässt sich das aber nicht anmerken. Man fragt sich sofort, was zwischen den beiden nicht stimmt – aber das ist für den Text völlig belanglos. Mal davon abgesehen, dass es im Folgenden nicht untermauert wird …[/blue]
"Ich habe zwei Ameisen gefangen, Vati." Der Mann bückt sich und sieht in der Mitte des Hügels zwei Ameisen, die sich bemühen, aus einem Loch herauszuklettern. Das gelingt ihnen aber nicht, da immer Erde nachrutscht.
"Was willst du denn mit denen anfangen?"
"Ich weiß nicht. Ich beobachte sie nur."
Einige Sekunden sitzen beide vor dem Erdhaufen und beobachten [blue]Dopplung von „beobachten“[/blue] die kleinen Tiere. Dann fragt der Junge:
"Vati, was unterscheidet uns Menschen eigentlich von den Tieren?"
Der Mann schaut seinen Jungen überrascht an.
"Was uns von den Tieren unterscheidet? Hm, ich glaube, es ist die Vernunft. "
"Und was ist Vernunft?"
„Vernunft ist die Fähigkeit, die Dinge im Leben logisch und sachlich und ohne Gefühlsduselei zu betrachten!" sagt der Mann sofort. [blue]Dass er sofort antwortet ist schon dadurch „ersichtlich“, dass zwischen Frage und Antwort nichts steht (kein „Er überlegte kurz“, noch nicht mal ein Atemholen oder eine noch so winzige Geste wird erwähnt…). Also: Einfach nach den Ausführungszeichen aufhören.[/blue]



Mal ganz kurz von der Textarbeit weg: Nach diesem Text ist es eigentlich wurscht, was wir machen – jede der ergriffenen Alternativen führt letzlich in den Untergang. Da stellt sich für mich die Frage, was der hörbare Zeigefinger eigentlich bewirken soll…
 

Heinz

Mitglied
Sieg der Vernunft (Mensch Morgen)

Hallo Jon

vielen Dank für die ausfühliche Rezension


Ursprünglich veröffentlicht von jon
Kann es sein, dass ich das schon mal (anderswo) gelesen habe?
[/i]

Durchaus möglich. Der Text ist um 1980 in einem Atlan Heft als Leser-Kurzgeschichte erschienen.
Außerdem steht er auf meiner Internetseite.


Davon abgesehen: Beim (jetzt) ersten Lesen fand ich den Zeigerfinger-Stil unerträglich. Das liegt daran, dass eigentlich nicht erzählt wird, sondern spürbar "nur Infos verpackt" werden. Beim zweiten Lesen war es dann erträglich – da man weiß, worauf die Geschichte zusteuert. Beim dritten Lesen erscheint es dann als der einzig mögliche Tonfall (, dabei fallen dann aber auch inhaltliche "Stolperstellen" auf).


Es war einer meine ersten Kurzgeschichten. Und ich habe den Text aus nostalgischen Gründen ;-) auch hier bisher nicht überarbeitet.

Aber einige Vorschläge sind durchaus berechtigt. Ich werde sie gelegentlich umsetzen. Dieses "Original" möchte ich hier aber unberührt lassen. Ich werde es als zweiten Text einstellen.


Das Hauptproblem (neben dem penetranten "Noch später" – gibt's da nicht eine elegantere Lösung?) ist, dass man beim ersten Lesen über "Gefällt mir" oder "Gefällt mir nicht" entscheidet – im Normalfall wird sich niemand einen Text „schönlesen“.


Ich glaube, es liegt in der Natur dieses Textes, dass die meisten Leser ihn zwei Mal lesen werden um den Werdegang nochmal nachzuvollziehen.


.... Was m.E. bedeutet, dass im ersten Abschnitt weniger erzählt werden sollte...


Der Wechsel vom alltäglichen Erzählstil zum "weitergeben von Informationen" ist Absicht. Das soll etwas den Wechsel zur nüchternen, vernunftbetonten Gesellschaft rüberbringen.


Mal ganz kurz von der Textarbeit weg: Nach diesem Text ist es eigentlich wurscht, was wir machen – jede der ergriffenen Alternativen führt letzlich in den Untergang. Da stellt sich für mich die Frage, was der hörbare Zeigefinger eigentlich bewirken soll…


Ob Zeigefinger oder nicht, hier habe ich einen Gedanken bis zur letzten Konsequenz zuende gedacht. Der Zeigefinger ist nicht beabsichtigt. Und möglicherweise macht ihn auch jeder für sich selber.

Die Alternative, die Du suchst, muss Heute gewählt werden. Wenn die "Ereignisse" erst einmal ihren Lauf nehmen, ist nicht mehr viel zu halten.
Die einzige Frage, die wir uns stellen müssen, ist: wollen wir diesen Weg weitergehen?

Dabei kann diese Frage nur jeder für sich beantworten. Eine echte Wahl hat der einzelne Mensch nicht. Genaus wenig wie eine Armeise. ;-)

Gruß Heinz
 

LeseWurm

Mitglied
Hallo Heinz,

insgesamt ein gelungenes Werk.
Der erhobene Zeigefinger stört mich nicht so sehr. Das sehe ich wie du: Er ist hier unvermeidbar und gewollt.
Die Einwände von jon finde ich fast alle berechtigt und gut. Das "sofort" am Ende des ersten Abschnittes finde ich in Ordnung.
Bin gespannt auf die bearbeitete Fassung.
 



 
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