Siegfried wäre beinah gestorben

Haarkranz

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Siegfried wäre beinah gestorben.

Siegfried liegt in seinem Bett, es geht ihm schlecht. Guckte direkt in die Augen seiner Frau. Seit zwanzig Jahren hatte er ihr nicht mehr in die Augen geschaut, wenn überhaupt je. Sie sieht auf ihn runter, an ihrer Nase vorbei direkt auf ihn runter, wie ein Kameraobjektiv. Er sieht das braun ihrer Iris, die schwarze Pupille, das Sehloch.
Er liegt da, angstvoll die nächste Schmerzattacke erwartend. Die Attacke, die er allein so schlecht bewältigen kann. Darum hab ich doch nach ihr gerufen, dass sie hier bei mir sitzt.
Sie war ins Zimmer gekommen, hatte ihn angeherrscht: „Schrei nicht so! Die ganze Straße hört dich!“ Dabei, er wusste es genau, hatte er nicht geschrien. Den Schrei hatte er in der Brust zerquetscht, dann erst nach ihr gerufen, ob zu laut konnte er nicht sagen.
Jetzt steht sie da und sieht auf ihn runter. Warum nimmt sie nicht meine Hand, setzt sich auf den Bettrand, streicht mir über die Stirn?
Schließlich sind wir seit vierzig Jahren verheiratet, schlafen all die Zeit im gleichen Raum nebeneinander. Sicher gab es schon lange keine Umarmungen mehr, aber das wusste er auch von Anderen, war nach so langer Ehe normal.
Doch jetzt in seiner Not, steht da eine Fremde neben seinem Bett. Fremde? Wenn es eine Fremde gewesen wäre, vielleicht nähm die meine Hand. Doch neben seinem Bett stand der Feind. So war das, bitter aber wahr, aus diesen braunen Augen sprach kein Fünkchen Mitleid. Sie will, dass ich verrecke!
Die Erkenntnis traf ihn siedend heiß, machte ihn eiskalt. Die will meine Rente allein verzehren. Wird zwar ein Drittel weniger sein, aber immer noch mehr als mit mir. Mörderin schreit es in ihm, obwohl das war nicht wahr, sie tat ihm nichts. Was zu erkennen war, die kalte Genugtuung in ihrem reglosen Gesicht.
Also reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen wie damals, als der Turmdrehkran im Sturm kippte, du hochoben sechzig Meter über dem Boden in der Kabine gefangen saßt, auf den Grund zurastest, in Sekunden zerschmettert sein würdest. Wie war das damals? Du hast die Sekunden nicht zur Kenntnis genommen, hast sie gedehnt, hab Zeit, hast du gedacht, die Tür der Kabine geöffnet und mit einem Hechtsprung in die Zweige der Pappel die neben dem Kran stand. Die Zweige hielten dein Gewicht nicht, bremsten aber den Fall, sodass du mit blond und blauem Arsch davon kamst.
Also auch jetzt Ruhe. Sieh sie an. Befehl ihr den Notarzt zu rufen. Sag steh hier nicht rum, ruf 110 und verlang den Notarzt. Na wirds bald! Da geht sie los, zögerlich, aber du hörst, sie ruft an. Wach bleiben, Siegfried, auch wenn dir nach Ruhe wie nie ist, wach bleiben. Hören was sie sagt.
Der Arzt kommt sagt sie, setzt sich auf die Bettkante, streicht dir die Haare aus der Stirn. Zu spät, denkst du, zu spät.
 



 
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