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Stierfrau

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An einem windigen, sonnigen Sommertag machte sich Anna auf in den Prenzlauer Berg zum Enkelkinderhüten. Kein schwieriges Unterfangen für sie, sie liebt ihre Enkel und hilft überhaupt gern, wann immer sie Gelegenheit dazu bekommt. Außerdem hält es jung, findet Anna.
Und so schnappte sie die drei munteren Mädchen und ging mit ihnen auf den Spielplatz. Ganz im Geheimen freuten sie diese Ausflüge immer besonders, da sie selbst mit Begeisterung Schaukel und Rutsche frequentierte, was ohne die Enkel im Schlepptau wohl ziemlich albern gewirkt hätte.

Nach einer guten Stunde jedoch war Anna froh, dass auch die Mädels leichte Erschöpfung und Durst überkamen.
Also ging es auf ans Eck in einen der vielen Kiezmärkte der Gegend, der in Wirklichkeit ein Lädchen mit einer integrierten Kneipe ist.
Die Inhaberin Kathrin ist ne echte Berlinerin, Endvierzigerin, kunstvoll tätowiert, und eine Fanin von Annas Enkelkindern. Eis und ein Kaffee zum Gehen wurden erworben, die beiden Frauen schwatzten noch ein bisschen, während die Kleinen schon vor dem Lädchen am Tisch saßen, und ihr Eis lutschten.

Anna wollte nun auch hinaus, öffnete schwungvoll rückwärts die Tür, und stieß fast mit Ihm zusammen.
Er - einsachtzig groß, lange graue Haare, leicht patinierte Lederjacke, ehemals elegante Wildlederschuhe, schöne grüne Augen, Bart, und eine abgewetzte Ledertasche unter dem linken Arm. Ihr Typ eigentlich.
Er hielt ihr freundlich die Tür auf, obwohl sie ihn fast über den Haufen gerannt hätte.
Sie sah Kathrin heftig den Kopf schütteln, erkannte deren Signale jedoch nicht.

„Na, bisschen stürmisch heut, was?“, sprach er. „Meinen sie jetzt das Wetter oder mich?“, fragte Anna.
„Ach, Mädel“, antwortete er. „Mich hat seit Jahren niemand mit - Sie - angesprochen. Ich hab ja schon fast meinen Vornamen vergessen. Aber dir verrat ich ihn jetzt. Ich mag flotte Mädels. Konstantin heiße ich eigentlich, aber so nennt mich kein Mensch. Und mir ist´s egal, wie mich einer nennt. Hauptsache, er gibt mir ´n Bier aus.“
Die Beiden standen mitten in der Tür, Kathrin schaute inzwischen sehr grimmig und rief: „Soll ick euch ne Couch bringen?“
Das lockerte ungewollt die Situation, Anna murmelte etwas wie - schöner Name, und wünschte dem Türaufhalter noch einen guten Tag. Da hörte sie ihn leise sagen: „Auch ewig her, dass mir einer ´n guten Tag gewünscht hat. Ich weiß eh nich mehr, was das ist.“
Später konnte Anna nicht mehr benennen, wer oder was sie in diesem Moment ritt - sie fragte ihn, ob sie ihm ein Bier ausgeben dürfe, und er antwortete: „Nur, wenn du eins mittrinkst.“
Die Kinder waren inzwischen auf den Spielplatz entschwunden, in ihrem Blickfeld selbstverständlich, sie setzte sich mit Konstantin vor die Kneipe, und er erzählte von sich.
Ja, klar, eine wahnsinnig traurige Geschichte, derer sie viele kannte, doch nicht alle endeten so.
Im Abseits, in Armut, und - was Anna am schlimmsten fand - in Selbstverachtung. Er erzählte sozusagen im Zeitraffer. Bildhauer und Grafiker war er, ein Plakat seiner letzten Ausstellung befand sich zerknittert in seiner Tasche.
„Weißte, was das Schlimmste ist? Ich könnte mich jedesmal selbst anspucken, wenn ich mal in den Spiegel sehe, meist tu ichs ja nich, weil ichs gar nicht mehr bis zum Spiegel schaffe. Und wenn ich dann mal jemanden treffe, so wie Dich, der nich so lebt, wie ich jetzt, dann schäm ich mich noch mehr. Dass der mich so sieht. Wie es anders sein könnte, das kann ich mir überhaupt nich mehr vorstellen.“ Anna war sehr versucht, irgendetwas Tröstliches zu sagen, aber - was sollte das sein ?

„Nu guck nich so traurig,“ sagte er. „Wenn du mich abends getroffen hättest, hättest du dich nich mit mir hingesetzt. Danke fürs Bier und fürs Dazusetzen. Ich hab schon lange nich mehr mit jemandem geredet, der so nüchtern war.“
Er stand auf, gab ihr die Hand zum Abschied und ging hinein in sein Wohnzimmer, wie er es nannte.

Und Anna stand da.
Sie brachte die Enkelkinder zurück, machte Abendbrot, legte die Kleinen schlafen, unterhielt sich noch mit ihrer Tochter, die inzwischen vom Spätdienst gekommen war, und fuhr dann zu sich nach Hause.

In den nächsten Tagen dachte sie oft an Konstantin.

Zwei Wochen später waren ihre Omadienste wiederum gefragt, natürlich inclusive Eis und Kaffee bei Kathrin im Markt. Diese empfing Anna schon mit einem Redeschwall. „Was hast Du eigentlich neulich mit Konstantin angestellt? Der kommt jetzt nüchtern jeden Tag um zweie, trinkt mindestens drei Stunden keen Alkohol, sitzt da, als wenn er auf jemanden wartet, und dann schießt er sich regelmäßig ab. Haste dem irgendwas versprochen oder gesagt, dass Du wiederkommen wirst? Ick werd hier noch verrückt mit dem!“
Oh, dachte Anna, er konnte nüchtern bleiben, wenn er wollte. Sie lächelte, ging zu Konstantin an den Tisch und sagte ihm, dass sie sich freue, ihn zu sehen. Er strahlte sie an und lud sie zum Essen beim Italiener ein, wenn sie denn ihre Enkel wieder nach Hause gebracht hätte.

Es wurde ein sehr langer Abend, den beide genossen. Sie erzählten sich viel, Anna begann schon im Kopf Pläne zu schmieden, wie sie Konstantin helfen wollte. Konstantin war glücklich und fühlte sich fast wie früher. Anerkannt und gemocht, ein bisschen verehrt sogar. Von Annas Plänen wusste er noch nichts.

Gute Pläne. Tausendfach erprobt.

An einem Sonntag, ein halbes Jahr später, versuchte Anna vergeblich, Konstantin zu erreichen. Sie hatte Angst. Kathrin hatte sie angerufen.

Konstantin lag auf dem Bett und atmete nicht mehr. Auf dem Nachttisch lag ein Zettel auf dem stand – Hättest Du mich nur in Ruhe gelassen.
 



 
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