Signo Blau

Markus Veith

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Es klingelt. Das Telefon. Er schaut auf. Der blasse Qualm der ausgedrückten Zigarette schwebt noch im Raum. Die Zeitung wird gefaltet und fortgelegt. Seine Zehen angeln nach dem grauen Filz seiner Hauslatschen.
Es klingelt. Er legt seine Brille auf die Zeitungen. Gedanken an den gelesenen Artikel arbeiten nach, bevor sie versiegen. Der Kaffee wird bald billiger.
Es klingelt. Er stöhnt. Die Sitzgruppe ist zu tief. Im Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Flur fällt sein Blick auf die Stellen abgekratzter Farbe. ‚Ich müsste mal neu streichen“, denkt er. Wie immer, wenn er den Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Flur passiert.
Es klingelt. Das Telefon. Modell Signo blau – auf der niedrigen Kommode mit dem Deckchen. Er hebt den Hörer ab. Unterbricht ein weiteres Läuten. „Ja? Hallo?“
Luftholen am entfernten Ende. Ein „Hallo“, presst sich durch die Leitung. „Ich ... ich müsste mal reden ... Haben Sie Zeit?“
Er rollt die Augäpfel gen Zimmerdecke. „Aaah“, murrt er gedehnt. „Ja ... ja, ja, sicher. Was gibt’s denn?“
Noch einmal ein Mut sammelndes Luftholen. „Ich ...“ Zögern. „Ich ...“
„Moment, lassen Sie mich raten. Sonst dauert Ihr Ich-ich-ich noch die ganze Nacht“, platzt er in das Gestammel. „Sind Sie geschäftlich ruiniert? Völlig pleite? Wissen weder ein noch aus? Oder sind Sie Spieler? Ist es Alkohol? Drogen? Alle Freunde weg und so weiter. Tja, schlimm so was. Da sind Sie hier aber falsch. Da müssen Sie die anonymen ...“
„Nein ... Das ... das ist es nicht“, unterbricht ihn die verstörte Stimme.
„Es ist Ihre Freundin, habe ich Recht? Ist es Ihre Freundin? Oder Ihre Frau? Ich weiß ja nicht. Wie alt sind Sie denn?“
„N-Neunzehn.“
„Ach, noch so’n Frischling. Ist sie dir weggelaufen? Oder hat sie einen anderen? Hast du sie in flagranti erwischt? Hm, das wär spannend. Oder liebt sie dich nur nicht mehr, du sie aber noch ganz doll. Da kann ich dir gleich sagen: Das ist absolut nichts Besonderes. Bist du ihr zu langweilig? Oder sagt sie, du seist schlecht im Bett? Sagt sie Schlaffi zu dir?“
„Nein, ich habe gar keine ...“
„Herrje – der einsame Bemitleidenswerte. Na gut, dann lass hören: ‘Ich bin sooo schlecht. Keiner mag mich. Was soll das alles? Ich will nicht mehr leben. Scheiß Welt.’ Kommt doch jetzt, oder ?“
Die Stimme startet einen weiteren Versuch: „Ich ... ich ...“
Seufzend lässt er sich auf der Flurbank nieder und reibt entnervt seine Stirnfalten. „Pass auf, Jüngelchen, ein bisschen musst du mir schon helfen. Aber bitte: zügig, klar und deutlich. Bring es auf den Punkt. Also?“
„Ich ...“ Die Stimme gibt sich einen Ruck. „Ich hatte einen Unfall. Gestern.“
„Kommt vor. Weiter. Mit dem Auto, oder was?“
„Ja, mit dem Auto. Auf der Kölner Straße.“
Er erinnert sich vage an eine Überschrift im Lokalteil der Zeitung. Von Kindern war die Rede.
„Kann ich mit Ihnen reden? Alle schütteln den Kopf, wenn ich darüber reden will. Und ich mag keine Abscheu und kein Kopfschütteln mehr sehen.“
Pause. „Was ist denn passiert?“
„Ich hatte mich mit einem Freund getroffen. Wir waren zusammen in der Fahrschule und hatten zusammen Prüfung. Jetzt wollten wir das feiern.“
„Ihr habt euch gleich nach eurer Führerscheinprüfung einen gekippt?“
„War nicht so viel. Drei, vier Gläschen vielleicht“, beeilt sich die Stimme.
„Vier Gläschen Bier?“
„Nein“, druckst es am anderen Ende. „Aber ich fühlte mich noch völlig fit. – Zuerst. – Und die Mädels waren dabei und schlugen vor, noch in die Stadt zu fahren. War ja nicht weit.“
„Warum seid ihr dann nicht gelaufen?“
„Jaaa“, dehnt sich die Stimme gequält. „War’n Fehler. Jetzt weiß ich das auch. Aber laufen? Mit ’nem neuen Schein? Wenn alle fahren wollen?“ Schweigen. Hektisches Atmen.
„Was war das denn für ein Unfall? Was ist überhaupt passiert?“
Erst ein Stocken, dann: „Ich fuhr die Kölner Straße hoch. Wissen Sie, im Klinikviertel, da parken doch immer rechts und links die Autos.“
„Ja, ja, ich weiß“, sagt er mit einer Vorahnung. „Ist meist ziemlich dicht beparkt da. Und zwischen den Autos sind Schilder. Und die machen auf spielende Kinder aufmerksam.“
„Ja ... genau ...“, dringt es schwer durch die Leitung. „Okay, jetzt weiß ich auch, dass ich angetrunken war und zu schnell gefahren bin. Aber ich hab mich nur einmal ganz kurz umgedreht, um irgendwas Cooles zu den Mädels hinten zu sagen, und als die plötzlich alle schrien und ich wieder nach vorn schaute, da stand dann plötzlich dieses kleine Mädchen da.“ Die Stimme wird schneller und überschlägt sich. „Und dann kam dieser Knall. Himmel, war der laut ... und dann war das Mädchen nicht mehr da. Nur noch eine große Beule in der Motorhaube. Und ich dachte nur: Scheiße, das Auto. Ich fluchte, und erst dann habe ich gebremst. Es hoppelte, und ich trat noch fester auf die Bremse, und unter dem Wagen spürte ich das Schreien, wie es unter den Rädern nachgab. Ich glaube, irgendwann nach Stunden blieb der Wagen endlich stehen. Aber ich starrte nur auf diese große Beule im Blech vor mir. Ich dachte noch: Das kann doch kein Kind gewesen sein. Ein kleines Kind kann doch niemals eine so große Beule machten. Da muss ein Felsen oder so was auf Papas Auto gefallen sein. Aber dann dachte ich, dass Steine ja unmöglich Blut verteilen können ...“
Das Schluchzen im Hörer bebt. „Mein Freund war draußen. Und irgendwie bin ich auch ausgestiegen ... Ich weiß aber nicht mehr ... Und ich wollte zurücklaufen, aber da war gar nichts. Nur die Spur hinter den Rädern. Das Kind lag noch drunter ... vor dem einen Hinterrad ... ist mitgeschleift worden, das Kind. Ganz schmutzig war es ... an den Beinen ... überall hatte es Schrammen und war ganz dreckig. Da habe ich mich gebückt und an den Füßen gezogen. Es schrie ja nicht mehr. Und da dachte ich: Dann tut’s bestimmt auch nicht so weh. Ist bestimmt nicht so schlimm. Also nahm ich es hoch und auf den Arm, und ihr Bein, das stand so komisch von ihr ab ... Das blonde Köpfchen auch ... und das Gesicht war ganz schmutzig und rot, und ich hab’ gedacht: Du kleines Ferkel, hast gespielt und irgendwas klebrig süßes, rotes ... Gummibärchen oder so was, genascht und dich vollgeschmiert, und jetzt ist alles an Papas Auto.
Da kamen dann Leute. Jemand schrie was von Arzt und Krankenwagen und Liegenlassen und, ach, was weiß ich. Aber ich dachte: Das mit dem Arm ist sicher nicht in Ordnung. Irgendwas verstaucht oder so. Und das Krankenhaus ist doch gleich nebenan. Da kann man doch eben hinlaufen. Ist ja nicht so weit. Jetzt hab’ ich sie schon mal auf’m Arm, da kann ich sie auch gleich hinbringen. Also lief ich los. Hinter mir hörte ich noch das Rufen von ’ner Frau. ‚Jennie, Jennie, Jennie!’ Und ich dachte: Ah, die Mutter. Gut. Kann sie sich den Schaden gleich mal angucken, den ihre kleine Göre da angerichtet hat. Und dann lief ich los. Und ich schaute auf das Kind und sah, dass nun auch meine Jacke rot war und ich dachte: So ein Mist, wie ärgerlich. Erst Papas Auto und jetzt die Jacke. Hoffentlich bekommt man das alles wieder raus. Und ich lief und ich lief. Und das Beinchen schlackerte so seltsam hin und her und rauf und runter, und ich dachte: So ein tapferes Mädchen. Weint gar nicht.
Irgendwann kam ich in der Klinik an. War weiter weg, als ich gedacht hatte. Und Leute waren hinter mir ... Ich weiß gar nicht mehr, was dann genau war ... Man untersuchte, und man fragte, und man schrie und zeterte mich an.
Irgendwer sagte dann, das Mädchen, ihr Genick ... Sie hätten nichts mehr ... Ich solle mich jedenfalls auf eine Menge Ärger gefasst machen und ... aber ich, ich konnte doch gar nicht ... sie sehen. Die war einfach so da. Ja gut, ich war angetrunken und das Auto war nicht meins ... und mein Schein ... Ich ... ich weiß jetzt gar nicht mehr, was ich ... was soll ich denn ... jetzt ...?“ Dann bricht die Stimme vollends zusammen. Hemmungslos schluchzt es in der Leitung.
Langsam lässt er den Hörer sinken und atmet einmal tief durch. Grübelfalten haben sich in seine Stirn gegraben. Einen Augenblick noch hält er kopfschüttelnd inne. Dann umfasst er den Hörer so fest, dass seine Fingerknochen weiß werden. „Du kleines, fieses, pubertierendes Arschloch“, raunt er in die Sprechschale. „Was willst du jetzt hören? Dass mir so was Leid tut? Du erzählst mir, du bist hackenstramm Auto gefahren, obwohl es dir wahrscheinlich auch noch verboten war und dazu noch mit einem Auto, welches nicht dir gehört. Fährst so mir nichts, dir nichts ein Kleinkind um und suhlst dich jetzt in Selbstmitleid. Ach, du arme geplagte Seele!“ Es trieft aus seiner Stimme.
„Aber ... ich ... ich dachte eigentlich, dass Sie mir helfen ...“
„Helfen? Helfen?! Wobei? Soll ich dich auch noch verteidigen? Was soll ich dir sagen? Nimm’s nicht so tragisch? Kann jedem mal passiert? Was macht es schon? Du wirst schon sehen, was es gemacht hat. Mit was, glaubst du, wirst du davon kommen. Mit Geld? Oder ein paar Monaten? Oder Jahren? Aber solche wie du kommen ja meistens davon, durch irgendwelche Klauseln oder zu gute Anwälte. So ist das doch immer. Aber warte, wenn die Nachbarn und die kleinen Kinder erst hinter dir her schreien: ‚Kindermörder, Kindermörder!’ und dann diese Träume anfangen ... Du hast doch sicher das Gesicht der Kleinen gesehen, oder? Die blutverschmierten Händchen, wenn sie sich nach dir ausstrecken werden und knirschend flüstern: ‚Warum hast du das getan? Warum? Warum hast du mir das angetan?’ Du kleiner Wichser, ich wünsch’ es dir. Lass dich besser auch überfahren!“ Knacken in der Leitung. Stille.
Er zuckt mit den Schultern und legt auf. in seinem Hals kratzen die Spuren seiner letzten, geröchelten Worte. Er räuspert sich. Auf der Rückseite des Telefonbuches, das seinen Platz neben dem blauen Signo-Modell hat, verharrt
Sein Blick bei einer Zahlenfolge.

11102 – Telefonseelsorge. Reden Sie mit uns. Wir sind für Sie da. Rund um die Uhr.

Am Telefon befindet sich unter einem durchsichtigen Plastikteil ein weißes Schildchen mit weiteren Ziffern 110 für Polizei. 112 für Feuerwehr. Daneben seine eigene Nummer. 111102. Einfach zu merken und schön schnell zu tippen. Vor allem die vier Einsen. Wenn die Finger nervös zucken, kann man sich da schon mal leicht vertun.
Lächelnd schüttelt er den Kopf und legt den Hörer zurück in die dunkelblaue Kunststofform. Dann schlurft er in seinen Pantoffeln zurück ins Wohnzimmer. ‚Ich müsste mal neu streichen’, denkt er im Türrahmen. Er lässt sich in die Sitzgruppe fallen und schüttelt sich die Puschen von den Füßen. Umständlich setzt er die Lesebrille auf und entfaltet die Zeitung.
Tragischer Unfall auf der Kölner Straße.
Übertrieben schnalzt er mit der Zunge. Neben dem großen Artikel noch Kleinanzeigen. Der Kaffee wird bald billiger und die Selbstmordrate steigt weiter an und so weiter und so weiter.
Er liebt es, abends in Ruhe die Zeitung zu lesen.



Juli – August 1996
überarbeitet Juli 2003
 
Hallo Markus Veith,

eine... atemberaubende Geschichte. Ich rätsle noch, ob der Mann Journalist ist und einfach zu faul für eigene Recherche ist oder ob er sich daraus einfach einen makabren Spaß macht. Jedenfalls hab ich es mit großem Interesse gelesen.
Spannend geschrieben, der Charakter des Protagonisten ist recht scharf gezeichnet, ich tendiere noch zwischen Verrücktem und Schaulustigem :)

gefällt mir ausgesprochen gut.

viele Grüße
schickt
Klabautermann
 

Markus Veith

Mitglied
Hallo, Klabautermann!

Vielen Dank für dein Lob. Aber ich schreib dazu erst einmal noch nichts. Mal sehen, wie andere noch so urteilen.
Markus
 

wondering

Mitglied
Hallo Markus,

wie immer, super erzählt. Ich frage mich nur gerade, ob es tatsächlich sein kann, dass es eine der Telefonseelsorge derart ähnliche Nummer für normale Teilnehmer gibt. Die Nummern mit 11 vorne sind ja meist der Polizei, Feuerwehr, TS, Auskunft etc. vorbehalten...
aber ok, in deiner Geschichte ist es so und ist der Alte ganz schön abgebrüht inzwischen,hm? ;)

Gruß wondering
 



 
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