Sitz Nr. 23

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dasZottel

Mitglied
So zur Mittagszeit,
Taktlos ließ mich das Schütteln
Und Zucken im ganzen Körper
Den Verstand verlieren.
Die Beine wurden schwer
Und nur mit Mühe,
Unförmig und gekrakelt,
Schrieb ich die Nachricht auf ein zerknittertes Blatt Papier.
Leise klapperte der Löffel,
Als ich die Tasse Tee
Mit zittrigen müden Fingern
Zum Munde führte.
Eigentlich ging´s mir gut.
Ich war frei,
Unbetastet von Stress und Lärm,
Weg von Last und Arbeit.
Der Tee lief mir auf die Hose,
Denn zu schwach war die Kehle,
Konnte nicht schlucken,
Konnte nicht halten.
Welch erbärmlichen Anblick,
Musste ich geboten haben,
Hilflos, lustlos, klein,
Am frühen Mittag?!
Schwankend suchte ich nach Halt,
Einer Türklinke, einem Tisch, irgendetwas,
Fiel mit voller Wucht und lautem Knall
Samt der Schrankdekoration auf den harten Boden.
Nur ein paar Minuten
Fühlte ich die Furchen,
Das Ziehen und die Zermürbtheit
In jedem Muskel und Knochen.
Es tat weh und auch gut,
Denn nur selten spürte ich
Die Teile meines Körpers und jede Faser
Je zuvor so intensiv und bewusst.
Krämpfe begleiteten meine unsicheren Schritte
Bis zur Tür und dem Schlüsselbrett.
Nur 2 Meter erschienen wie ein Marathon,
In dem das Gleichgewicht extrem litt.
Der Schlüssel, in den starren Fingern gefangen,
Bohrte sich in die Handfläche.
Der Zettel in der anderen
Landete umständlich im Briefkasten.
Ich war weg,
Die Straße weit,
Die Luft rein,
Die Tasche schmächtig gepackt.
Mit größter Anstrengung versuchend mich zu beherrschen,
Stolperte ich schmerzhaft lächelnd
Über die Straßen,
Kreuzungen und Wiesen.
Zufrieden mit mir und der Welt,
Geradewegs und ohne Zweifel,
Führten meine Schlenker, so ungelenk wie naiv,
Zum Bahnhof, dem Tor zu einem neuen Leben.
Ob sie schon zu Hause waren,
Die Nachricht schon gefunden hatten,
Schon weinten oder eher nicht,
wusste ich nicht, wollte ich nicht wissen.
Ich hoffte sie würden, so herzlos es auch war,
Ebensolche Qualen und Eskapaden
Durchzustehen haben, wie ich
Sie durch ihre Hand erfahren hatte.
Ich hoffte sie würden, so widersprüchlich es auch war,
Anrufen und betteln, mich anflehen
Voll Unterwürfigkeit, ich sollte doch bitte,
Bitte, bitte, bitte zurückkommen, nach Hause.
Ich kannte noch nie ein Zuhause,
Außer die Weite, die Ferne,
Die mich schon immer mütterlich
Und liebend in die Arme geschlossen hatte.
Niemand auf dieser Erde
Könnte auch nur im geringsten
Meine Erlösung nachempfinden
Im Moment des Abfahrtspfiffes.
Ein sanfter Ruck,
Dann rattern, Schnaufen, Ächzen,
Die Laute der Reise
Umgaben mich mit neuer Lust.
Der Drang erwachte.
Der Korpus kribbelte
Zappelig saß ich im Sitz
Mit der Nummer 23.
 
B

bonanza

Gast
sehr geheimnisvolle episode.
nach dem lesen will ich mehr wissen von diesem menschen.
und den hintergründen. ist er alt und schwach?
ist er krank? was macht sein fernweh aus?
wer sind die menschen, die ihn bitten sollen, daß er
zurückkommt?
fragen, fragen, fragen.

auch unbeantwortet mit spannung gelesen.

bon.
 

dasZottel

Mitglied
Danke für dein Kommentar, mir war bis jetzt ehrlich gesagt nicht aufgefallen, dass ich nichts über die Person verrate, als ich andere Texte durchsah fiel mir auf, dass ich es dort ebenso hielt. Vielleicht ist die Fantasie gefragt, wenn hättest du denn am liebesten auf dem Sitz Nr.23 sitzen? Doch andererseits könnte ich dir auch verraten, dass mehr Autobiografie in diesem Text steckt als in vielen anderen meiner Zeilen.

LIebe Grüße
Zottelchen
 
B

bonanza

Gast
zottel

aber ein paar hinweise könntest du doch einem
interessierten leser geben. da ich keine ahnung von deiner
biografie habe.

gruß
bon.
 
D

Denschie

Gast
hallo zottel,
dein gedicht hat seine längen.
gerade im mittelteil hätte es jeder
zweite satz auch getan.
ich habe das gefühl, dass es um ein junges
mädchen geht, das von zu hause "wegläuft".
deine umsetzung nähert sich diesem thema
sehr ernst, was mir gefällt. es macht nicht
den anschein eines teenies, der nach einem
streit seinen rucksack packt und für die
nächsten drei stunden ganz ernsthaft beschließt,
sich nie wieder zu hause blicken zu lassen.
diese person sitzt tatsächlich im zug und fährt.
das ist spannend, wenn auch, wie gesagt,
an manchen stellen zu wortlastig.
viele grüße,
denschie
 
B

bonanza

Gast
komisch, daß ich nicht an ein mädchen dachte oder an
eine sehr junge frau. dabei hatte ich die weglauf-
phantasien früher auch.
ich dachte an eine alte oder kranke frau.
vielleicht liegt das daran, daß ein mädchen diesen
text nie so geschrieben hätte. das führte mich in die
irre.

bon.
 
D

Denschie

Gast
na ja, ich finde gerade die mischung interessant.
text einer älteren frau, handlung einer jungen.
vielleicht irre ich mich auch, aber in zottels
profil siehts mir doch sehr jugendlich aus,
und wenn sie schreibt, es sei autobiographisch...
mal schauen, vielleicht erfahren wir des rätsels
lösung noch.
 
B

bonanza

Gast
du hast recht, denschie, mit sicherheit dreht es sich
um ein (altes) mädchen, das von zuhause ausreißt.
kennst du den beatles song "she`s gone"?
wunderschön.

gruß
bon.
 

dasZottel

Mitglied
Ihr habt wohl beide ein wenig Recht. Ich war vielleicht dreizehn, als ich verschwand, ohne ein Wort, ohne Erklärungen. Heute erscheint es mir nicht so gut durchdacht gewesen, nicht die Handlung eines reifen Fräuleins, eher eine Kurzschlussreaktion nach vielen vielen Auseinandersetzungen mit dem Wozu.
Es ist sicher oft so, dass man auf Dinge zurückschauen kann, feststellt sie waren dumm, ja unnütz, man kann sie belächeln und hinnehmen(, ohne an der Vergangenheit etwas ändern zu wollen).

Liebe Grüße
Claudi
 
B

bonanza

Gast
zottel, diese "dummheiten" gehören zu unserem leben.
waren es dummheiten?
oder braucht es diese erfahrungen? ich glaube - ja.
sie sind wichtig, weil wir uns ausprobieren.
sie zeigen uns, daß wir als individuen leben.
auch sind es wichtige grenzerfahrungen.

bon.
 

dasZottel

Mitglied
Natürlich gehören sie dazu. Woraus sollen wir lernen, wenn keine Dummheiten oder Fehler begangen werden? Grenzerfahrungen? Im Bezug auf die Grenze zwischen pubertärer Sinn- oder Richtungsfindung und der tatsächlichen Richtung, oder einfach nur anderen Ansichtsweisen, vielleicht sogar etwas Reife?

Liebe Grüße
Claudi
 
B

bonanza

Gast
phasen wie die pubertät sind sturm und drang zeiten.
da passiert sicher viel aus der geistigen und körperlichen
entwicklung heraus, die inflationär von statten geht.
damit ist aber der geistige reifungsprozeß lange nicht
abgeschlossen. er wird nur etwas träger.
grenzerfahrungen sind während des gesamten lebens
wichtig, wie ich meine. wir müssen uns doch ständig
körperlich wie geistig neu entdecken. ansonsten dümpeln
wir dahin. vegetieren dahin. automatisiert. vom termin-
kalender abhängig.
wie gerne würde ich auch heute manchmal ausreißen.

bon.
 



 
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