So nah und doch so fern

Sakuntala

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So nah und doch so fern

„Siehst du dort den ganz hellen Stern?“
Anna lag auf dem Rücken im Gras, neben ihr räkelte sich Georg, ihr Freund, mit dem sie seit zwei Wochen ging. Georg war ein netter Junge, anders als ihre Schulkameraden auf dem Gymnasium schien er das unscheinbare Mädchen fast zu bewundern, hörte ihr zu und ließ sich von ihr oft bereitwillig bei seinen Hausaufgaben helfen.
Fast jeden Tag fuhren sie anschließend mit ihren Rädern herum, erst durch die Stadt, einen kurzen Halt beim Eiscafé gemacht, jeder eine Kugel, mehr konnten sie sich nicht leisten, aber verschiedene Sorten, und dann abwechselnd geleckt, so hatte man den Geschmack von zweien. Später am Abend radelten sie ´raus, durch die Wiesen, ein kurzes Stück in den Wald, und dann kam man hier an, bei dieser Lichtung, umgeben von dicht stehenden Bäumen, fast wie ein geheimes Wohnzimmer war das, zumindest jetzt im Sommer. Und nun lagen sie hier im Gras und schauten, wie in den Tagen zuvor, in den Himmel.
Für Anna war das nichts Neues. Seit sie denken konnte, betrachtete sie den nächtlichen Sternenhimmel. Zuerst auf dem Arm ihres Vaters, der ihr die ersten Konstellationen nahegebracht hatte: Orion, das war einfach, den schiefen Gürtel, bestehend aus drei Sternen, konnte man sofort wiederfinden. Oder den Großen Bären, dessen andere Bezeichnung Großer Wagen es für sie damals noch leichter machte, ihn zu identifizieren, die lange Deichsel erkannte sie sogleich.
Später dann, als sie fast alle Sternbilder mühelos finden konnte, bekam sie ein Teleskop geschenkt, und mit diesem Tag eröffnete sich ihr eine neue Welt dort oben. Nicht nur die mit dem bloßen Auge erkennbaren Himmelskörper konnte sie erkunden, nein, damit konnte man in die Tiefe des Weltraums dringen, oder aber die Planeten ganz nahe heranholen, auf Augenhöhe betrachten sozusagen. Das liebte Anna wie kaum etwas anderes, in jeder sternenklaren Nacht musste die Mutter sie ermahnen, endlich vom Balkon zu kommen, wo sie mit ihrem Vater das Teleskop installiert hatte und jedes Mal aufgeregt von einem Bein auf das andere hüpfte, wenn er gerade durch das kleine Objektiv an der Seite blickte.

„Also, siehst du ihn nun?“
„Die sind doch alle nicht besonders hell. Meinst du den da?“
„Nein, das ist Jupiter. Das ist doch ein Planet. Weiter nach links musst du schauen.“
Es war schwierig, jemandem, der noch nie den Himmel so beobachtet hatte wie Anna, die Position eines bestimmten Himmelskörpers zu beschreiben. Aber sie hatte das Gefühl, dass Georg sich große Mühe gab, immerhin war er der erste, der ein gewisses Interesse für Annas Leidenschaft zur Astronomie zeigte. Also versuchte sie es weiter. Sie drückte sich eng an ihn und streckte ihren Arm in die Höhe.
„Folge einfach meinem Finger, dann erkennst du ihn schon. Das ist Altair, einer der hellsten Sterne am Himmel. Er liegt im Sternbild Adler, das sind noch die beiden links und rechts davon, die Flügel des Adlers, und einer unten, als Schwanz.“
„Ja, ich glaube, jetzt hab ich´s, und der hellste davon ist der Kopf, stimmt´s?“
„Genau, das ist Altair. Es gibt eine schöne Geschichte dazu: Die Chinesen glaubten, dass er einen Kuhhirten versinnbildlicht, der mit einer Weberin verheiratet ist, das ist die Wega, etwas weiter oben rechts, auch ein ganz heller.“
„Ich kenn nur die „Invasion von der Wega“, war mal so ´ne komische Fernsehserie, durfte ich aber nie sehen.“
„Ich auch nicht, da war ich erst zehn, lief auch ziemlich spät abends, mein Vater hätte es vielleicht noch erlaubt, aber meine Mutter niemals, meinte immer, so was würde Kindern nur Angst machen. Dabei wusste ich da schon längst, dass es völlig unmöglich ist, dass Außerirdische von dort bis zu uns kommen könnten. Also, auf jeden Fall waren der Kuhhirte und die Weberin so verliebt, dass sie ihre Arbeit total vernachlässigten. Deshalb wurden sie getrennt durch einen Fluss, das ist die Milchstraße, man kann gut erkennen, wie das helle Band genau zwischen den beiden verläuft.“
„Das ist die Milchstraße? Hab ich mir irgendwie größer vorgestellt.“
Anna war enttäuscht. Für sie war die Vorstellung von der unendlichen Größe des Universums immer etwas gewesen, das ihr geradezu den Atem geraubt hatte, egal wie winzig diese leuchtenden Punkte dort oben auch erscheinen mochten.
Während sie ein wenig von ihm abrückte sagte sie:
„Das sind Millionen von Sternen, nur halt ziemlich weit weg. Aber zurück zur Geschichte: Einmal im Jahr im Sommer, am siebten Tag des siebten Monats bilden Elstern eine Brücke über den Fluss, also die Milchstraße, dort dürfen die beiden sich treffen, und das wird dann groß gefeiert in China.“
„Also stoßen die irgendwie zusammen, die beiden Sterne?“
„Nein, natürlich nicht. Ach, egal, ist doch sowieso nur ein Märchen.“
 



 
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