Söhnchen Frankenstein

JCC

Mitglied
Ah, über den Titel bin ich mir noch etwas unschlüssig, aber sei's drum. ;)



Söhnchen

Das Wesen in der Glasröhre hatte nur wenig mehr als ein Jahr gebraucht, auf seine fast zwei Meter anzuwachsen, doch dem war eine ungleich längere Zeit vorausgegangen, in der der Doktor Gleichungen entwickelt und wieder verworfen, chemische Formeln auf Blöcke gekritzelt und zusammengeknüllt und Reagenzen gemischt und wieder weggeschüttet hatte.

Er legte einen Hebel um und sah zu, wie die Nährlösung langsam aus der Glasröhre abfloß.
Ein hydraulischer Apparat senkte die Glasröhre langsam von der Decke des Saals auf eine Ebene mit dem Doktor.
Silberne Scharniere glänzten zwischen den zwei Hälften der Glasröhre, unterlegt von einer Dichtung aus grauem Gummi.
Die Lösung war inzwischen ganz abgelaufen. Durchsichtige Haut umspannte das Wesen. Der Doktor berührte die Klinke.

Die Röhre kreißte und gebar einen Mann.

Der Doktor blickte auf zu seinem Geschöpf, das ihn, einen kleinen, schlanken Mann, um fast zwei Köpfe überragte.
Es trat einen unsicheren Schritt nach vorne, aus den zwei Hälften der Glasröhre hinaus, und zerriß dabei die feine Haut, die es umhüllte.
Aus weit geöffneten Augen blickte es umher, füllte dann mit seinem ersten Atemzug die Lungen und tat seinen ersten Schrei.

Wie ein Wolfsheulen klang seine Stimme durch die weiten Räume des Hauses.

Der Doktor berührte die rosige Haut des Neugeborenen und schien unschlüssig innezuhalten.
Er reichte mit der Hand bis zu dessen Schulter hinauf und versuchte, ihn sanft von der Röhre wegzuführen.
Der Neugeborene verstummte und folgte mit staunendem Gesichtsausdruck willig der Hand seines Schöpfers.

An einer Wand des Saals, unter einem Regal voll wissenschaftlicher Literatur, hatte der Doktor ein Bett vorbereitet. Mit der Ungeschicklichkeit eines jungen Fohlens ließ der Große sich darauf nieder, sein nackter Körper sichtlich angestrengt von den Strapazen der ersten Bewegungen in seiner kurzen Existenz, sein Gesichtsausdruck aber voller Verwunderung, lebendig zu sein, und gierig, mehr davon zu erfahren.

Der Doktor breitete eine Decke über den Neugeborenen und verließ den Saal, verfolgt von den Blicken seines Geschöpfs, um sich im Nebenzimmer schlafen zu legen. Das Licht ging aus.

Der Neugeborene atmete ruhig im Dunkeln, doch sein Geist blieb unruhig, unfähig, seinen neuen Zustand zu erfassen.

Er fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht, fühlte die Luftzüge aus seiner Nase, legte seine Hand auf seine Brust und fühlte sein Herz klopfen.

Er spannte Muskeln an und entspannte sie wieder und probierte das Gefühl in seinem Körper wie ein neues Spielzeug aus.

Schließlich schlug er die Decke zurück. Er stand auf und machte ein paar Schritte, diesmal ohne Führung seines Schöpfers.

Auf dem harten Fliesenboden hörte er das Klatschen seiner nackten Füße. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
Langsam und vorsichtig ging er in die Hocke, um die Kälte der Fliesen mit seinen Händen zu befühlen, verlor plötzlich das Gleichgewicht und fiel auf sein Steißbein.
Die neue Empfindung auskostend blieb er eine Weile sitzen, stützte sich dann mit den Händen auf und kam wieder auf die Füße.

Ein großer, metallener Hebel der Apparatur des Doktors stieß ihn in die Rippen, als er einen unbedachten Schritt machte. Er zog die Augenbrauen hoch und umfaßte ihn mit der Hand. Aufmerksam spürte er dessen Widerstand gegen seine Kraft. Plötzlich brach der Hebel mit einem Knirschen ab. Der Neugeborene betastete mit der Hand die Bruchstelle, legte ihn dann auf einen nahen Tisch.

Ein wenig fahles Mondlicht ließ ihn die Umrisse der Tür erkennen, durch die sein Schöpfer ihn verlassen hatte. Er trat hindurch und fand sich plötzlich vor dessen Bett.

Sein Augen glänzten und er beugte sich mit freundlichem Gesicht zu dem schlafenden Doktor hinunter.
Mit einer großen Hand berührte er dessen Wange.
Der Doktor, immer noch schlafend, sog tief die Luft ein und drehte ihm den Rücken zu.
Ein kalter Lufthauch kam durch die Tür und strich über den nackten Körper des Neugeborenen. Fasziniert von einem weiteren neuen Gefühl schloß er die Augen und nahm es dankbar in sich auf.

Langsam ließ er sich auf das Bett sinken, in dem der Urheber dieses Wunders schlief.
Er legte sich neben ihn und umschlang ihn mit den Armen.
Lächelnd und dankbar drückte er ihn fest an sich.

Als der Doktor endlich die Augen aufriß, waren seine Lungen schon nicht mehr in der Lage, ihn einen Laut von sich geben zu lassen.
Er rang vergebens nach Luft, zu schwach, sich gegen sein übermächtiges Geschöpf zu wehren.
Als sein Gesicht langsam blau anlief, warf er hilfloser Verzweiflung seinen Kopf herum.
Das letzte, was er in seinem Leben sah, war das lächelnde Gesicht eines liebenden Hünen.
 



 
Oben Unten