Soll man Gedichte übersetzen?

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Hieronymus

Mitglied
Gedichte kann man gar nicht übersetzen.
Dies Wechselspiel von Sagen und von Singen
kann einer andern Sprache nicht gelingen;
sie muss die Ursprungsharmonie verletzen.

Was fängt ein fremdes Volk in seinen Netzen?
Kultur ist eine wunderbare Sache,
nicht jeder aber spricht die Landessprache.
Gedichte muss man einfach übersetzen.

Wer sich in fremden Versen wiederfindet
und listig Sprachbarrieren überwindet,
bringt Schmuggelware mit von seinen Reisen.

Die Ursprungsfassung, fromm und bodenständig,
war schwer gefährdet, klassisch zu vergreisen;
durch Übersetzung bleibt sie quicklebendig.
 

presque_rien

Mitglied
Hi Hieronymus,

endlich komme ich dazu, dein Gedicht zu kommentieren, das, wie ich finde, nicht unkommentiert in der Versenkung der zweiten Forumsseite verschwinden sollte ;).

Erstens finde ich es in jeder Hinsicht sehr gelungen. Es ist toll, wie du in den Quartetten die beiden gegensätzlichen Meinungen nicht explizit als solche markierst, so dass der Leser selbst auf den Trichter kommen muss, dass er es hier mit einem Dialog zu tun hat. Der dann auch sehr schön von den Versen 1 und 8 gerahmt ist.

Einige Formulierungen finde ich ganz toll, z.B.: "Wechselspiel von Sagen und von Singen", "Was fängt ein fremdes Volk in seinen Netzen?", "bringt Schmuggelware mit von seinen Reisen", "klassisch zu vergreisen"... Deine Metaphorik ergibt ganz unbeschwert ein sehr rundes Ganzes!

Zweitens finde ich das Thema sehr originell, und mich interessiert's besonders, weil ich sehr gerne Gedichte übersetze, und mich dann immer mit Leuten drüber streite, die finden, dass sei ein sinnloses Unterfangen. Ich finde, es macht einen unheimlichen Spaß, zu versuchen, sowohl der Form als auch dem Inhalt gerecht zu werden ("Sagen und Singen"), auszutesten, wieviel man auf beiden Seiten opfern darf, wie man Formen und Inhalte hin und herschieben kann, damit das Gedicht ALS GANZES ein möglichst ähnliches Gefühl erzeugt, wie das Original... Ich finde Gedichtübersetzung - wenn's klappt - sehr befriedigend :).

Danke also für dieses Gedicht!

presque
 
B

Beba

Gast
Hi Hieronymus,

deinen Text finde ich sehr gut und interessant, nicht zuletzt weil mich das Thema besonders interessiert.
Na ja, besser als meine Vorgängerin kann ich es nicht sagen, und drum probiere ich es gar nicht erst und sage nur: Prima!

Ciao,
Bernd
 

Hieronymus

Mitglied
Hallo presque, hallo Bernd,
vielen Dank für Euer Lob. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich, wenn ich ein paar Gedichte übersetzt habe, meistens auch eine Idee für ein eigenes Gedicht bekomme. So war es auch in diesem Fall.
Viele Grüße
Hieronymus
 

Limba

Mitglied
Hi,
darf ich auch als erprobt erwiesener Nicht-Lyriker etwas dazu sagen? Leider kann ich deshalb zur Analyse nichts beitragen.
Es ist sehr gelungen, finde ich und spricht zudem ein Thema an, dass mich immer wieder einmal bewegt. Ich bin ein Fan von Shakespeare und immer wieder erstaunt, wie gut manche Übersetzer (und wie schlecht andere) diese gewiss nicht Leichten Stoffe ins Deutsche übertragen können und dennoch sooo viel Gefühl hervorrufen können. Leider kann ich keine Fremdsprache gut genug, um z.B. ein Gedicht auf Russisch tatsächlich in seiner Stimmung zu erfassen, auch wenn ich etliche Brocken daraus verstehe.
Mir will scheinen, dass gute Übersetzer selber gute Dichter sein müssen. Das bist Du ja auch, wenn ich die Kommentare richtig gelesen habe und dieses Gedichtt hier sehe.
Schön, auch die hohe Punktzahl geht aus meiner Sicht in Ordnung, ich selber werde auf die neun drücken, weiß aber nicht, was dann ankomt.
Netten Gruß, Limba
 
K

KaGeb

Gast
Das ist wirklich ein tolles Gedich, und die Aussage genial.
Mir hat es so schon gefallen, aber mit Presques... Hinweis auf die Dialogform finde ich es noch runder.
Der einzige Holperer (für mich) ist Sache ... Sprache.
Ansonsten geniales Kopfkino. Eine klare 9.

LG, KaGeb
 
M

Märchenfee

Gast
Das ist hübsch in Melodie und Inhalt, gefällt mir sehr gut.
LG von Petra
 



 
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