Sommerzeit

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Astrid

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Sommerzeit. Natürlich, was sonst. Als hätte die Sonne nur darauf gewartet. Ausgeruht erscheint sie bereits am Morgen. Hat sich geschont an den nebligen Tagen, damit sie heute selbst solche Frühjahrspessimisten wie mich überzeugen kann.
Mein Thermometerfrosch am Fenster kommt richtig ins Schwitzen, als der rote Quecksilberpfeil in seinem Bauch in die Höhe schießt. Meine Wohnung ist sonnengeflutet. Ich tanze in der Küche und drehe den Weihnachtssong auf volle Lautstärke. „Last Christmas“. Im Radio spielen sie die besten tausend Songs. Schlittenglöckchenklang und sommerliche Wärme. Es scheint zu diesem Jahr zu passen.
Winterschlaf war gestern. Vom Hof dringt Kinderlachen zu mir herauf und erinnert mich an die kreischende Geräuschkulisse in einem Freibad. Für einen Moment schmecke ich den Sommer auf der Zunge. Ich verspüre große Lust, den Ruß des Winters von den Fensterscheiben zu putzen. Ich möchte mich in die Sonne legen. Ich möchte meine schwarze Winterjacke in die Ecke feuern, meine Wände bunt streichen, Blumen pflanzen.
‚Wie schnell die Wäsche heute auf dem Balkon trocknet’ denke ich. Der leichte Wind bewegt sie und schenkt ihr seinen Duft. Es ist nicht meine Wäsche. Es ist nicht mein Balkon. Nicht mehr. Ich habe dort gewohnt. Im letzten Sommer noch, doch die Wohnung wurde zu groß für meinen Sohn und mich und mein Portemonnaie.
Ein Hauch von Wehmut legt sich über den Augenblick. Zärtlich. Zärtlich? Als berührte mich eine schüchterne Hand flüchtig an der Wange.
Meine Wäsche trocknet jetzt vor dem geöffneten Fenster und verteilt ihren Duft im Zimmer ohne Balkon. Meine Blumen pflanze ich jetzt in den Kasten auf dem Fensterbrett.
Es ist mein erster Frühling in der neuen Wohnung. Nach dem Aufbruch. Eine neue Zeitrechnung. Sommerzeitrechnung.
 



 
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