Sommerzirkus

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Sommerzirkus

Über uns, die Herren von der Bank,
die fahren Riesenrad zum Park
Ein blinder Mann sieht lustig aus
und geht an einer Wand entlang
Ein anderer trägt eine Maus
und fühlt sich stark

Umgedrehte Sonnenschirme
fangen den Regen
Und eine Clownerie besetzt zwei Türme
und bietet Weiterbildungskurse an:
Wie macht man ein dummes Gesicht
und weswegen und wann
Fällt ein Ball nicht
von unten nach oben?

Es lachen die Bäume
und eine Brücke wird verschoben,
die am falschen Ufer steht
Ein Maler weht im Wind
Am Sandstrand bräunen Träume
Und irgendwo dazwischen fragt ein Kind
Wer hat an der Uhr gedreht?

Das Eis ist warm
Bald ist es spät
Die Schatten werden lang
und nehmen uns in kühlen Arm

Wer jetzt schon geht,
verspricht ein weiser Mann,
verpasst zuhaus den Sonnenuntergang
und geht schon mal voraus
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Marcus Richter,

bei dem Gedicht fügen sich die Bilder im wahrsten Sinne wunderbar in die Melodie; die Strophen übergreifenden Reime vermitteln ein Erlebnis, bei dem ich unangestrengt eine Welt voller Paradoxien aus dem Kopfstand betrachte.

Grüße von Elke
 
Zuerst hatte ich die Idee von einem Bürgersteig, über den ich jeden Tag entlang gehe. Und ich glaube, ich stellte mir dort Clowns, Zauberer und Elefanten vor; wie in einem Gemälde von grauem Alltag, über das ein Zirkus wandert.
Die anderen Gedanken, der Sommer und alles andere, haben sich wie von selbst eingeschlichen.

freundl. Grüsse zurück,
Marcus
 

Andrasch

Mitglied
Ein unglaublich gutes Gedicht. Die Reime sind so gelungen, dass ich sie fast nicht lese. Ich weiß nicht, vielleicht lese ich ein wenig Rilke darin, aber der Ton ist zeitgemäßer - definitiv ;)

LG
 
Hallo Andrasch,
du wirst in mir keinen Rilke finden - hab irgendwo vor Jahren mal ein Gedicht von ihm gelesen, mehr nicht. Wenn überhaupt bin ich dem Villon verpflichtet. Aber auch das ist lange her.

Schön, dass dir meine Zeilen gefallen haben. Ich schätze, Rilke hat so starken Einfluss auf die moderne Lyrik genommen, dass seine Wurzeln ganz tief ins Bewußtsein eines jeden jungen Lyrikers reichen, auch ohne, dass er sich dessen bewußt ist. Oder Rilke hat seine Wurzel so tief in dich, als Rezipienten geschlagen, dass du ihn auch in anderen Zeilen immer wieder findest.
Wie auch immer; ohne die vor uns Geborenen wären wir identitäts- und sprachlos.
Jeder neue Dichter ist das Echo des Vorangegangenen.

Gruss, Marcus
 

Andrasch

Mitglied
Rilke war bei deinem Gedicht ein begleitendes Gefühl, mehr nicht. Du machst einen Bilderspaziergang, hier sind es Elemente aus dem Zirkus, manch anderer Lyriker blickt auf ein Karussell oder geht in den Zoo. Ganz sicher beruht mein Vergleich auf einen Zufall, das war für mich nicht die Frage. Dein Gedicht ist ganz und gar deins. Eher ist es für mich interessant in deinen Zeilen den mitschwingenden Ton wahrzunehmen, den ich vielleicht als Rilke interpretierte, ohne sonderlich belesen zu sein. Übrigens gefällt mir Rilke - dann und wann ...


Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann,
gewiß, daß eine Fülle von Gesichten
in ihm nur wartet bis die Nacht begann,

Wer jetzt schon geht,
verspricht ein weiser Mann,
verpasst zuhaus den Sonnenuntergang


Und irgendwo dazwischen ...
und ein anderer ...
und dann und wann
vielleicht ... ein weißer Elefant.


Schön zu wissen, dass sie nicht aussterben ;)
LG
 



 
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