Sonnenanbeterin

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Valentine

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Sonnenanbeterin

Mit einem Ruck riss sie den Spiegel von der Wand. Er zerschellte direkt neben seinem Kopf.
Sie bückte sich und blitzte ihn aus dunklen Augen an. Langsam ging sie auf ihn zu, eine Scherbe wie ein Messer in der rechten Hand, scheinbar bereit, zuzustechen. Die Splitter auf dem Boden, die winzigen Scherben, die glitzerten wie Diamanten, in denen sie sich tausendfach spiegelte, nahm sie nicht wahr unter ihren Füßen. Sie spürte nur, wie Wut durch ihren ganzen Körper strömte und ihr fast den Atem raubte.
Noch einen Schritt. Wie um sich zu schützen, hob er die Hand, doch er wich zurück, so weit, bis er mit dem Rücken an das Fenster stieß. Sie lachte ihn aus und taumelte dabei. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als verliere sie das Gleichgewicht und fiele vornüber, aber sie fing sich. Er schluckte und merkte, wie er zu zittern begann. Er saß in der Falle, einer Falle, die er sich selber gestellt hatte. Dabei war er doch nur noch einmal gekommen, um sich zu erklären, um sich und sein Verhalten zu erklären.
Sie aber wollte keine Erklärungen, sie hatte genug gehört. Gehört und gelesen. „Meine Sonnenanbeterin“, die Worte hatten sich tief in ihr Herz gebrannt wie ein flammender Pfeil, „ein Abschied ist immer auch ein bisschen wie sterben...“. Traurigschöne Worte, die sie beim Lesen einer Liebestragödie sicher sehr berührt hätten. Gestern allerdings, als sie seinen Brief in den Händen hielt, hatte sie nicht einmal weitergelesen, sondern das blütenreine Büttenpapier sogleich zerknüllt und wie einen heißen Feuerball weggeworfen.
Jetzt sah er auf, direkt in ihre Augen, die ihn aufzuspießen schienen. Plötzlich ließ sie die erhobene Hand sinken und die Scherbe fiel wie in Zeitlupe zu Boden. Sie schaute hinterher und betrachtete das Mosaik aus Glas, bevor sie ihren Blick wieder auf ihn richtete.
„Raus“, zischte sie durch die Zähne, „raus“.
Er machte einen Schritt auf sie zu, doch als sie sofort wieder zum Boden griff, ließ er es sein. Es knackte hier und da, als er mit schweren Schritten aus dem Zimmer ging und es knallte, als die Haustür hinter ihm zuschlug. Sie sackte zusammen und fühlte, wie sich die Scherben wie kleine Nadeln in ihre nackten Beine bohrten.
Es wurde warm. Fasziniert beobachtete sie die kleinen, roten Rinnsale, die sich ihren Weg durch die unzähligen Minispiegel bahnten. Wie durch einen Schleier sah sie, wie mehrere es bis zu dem zusammengeknüllten Blatt Papier schafften, das immer noch wie ein Schneeball vor ihr auf dem weißen Teppich lag, der nun aussah, als sei er mit Adern übersät. „Meine Sonnenanbeterin“ stand darauf. Man konnte es nicht mehr lesen, aber sie wusste es ja auch so. „Meine Sonnenanbeterin“, so hatte er sie i m m e r genannt. Warum also hätte es diesmal anders sein sollen?
Sie erhob sich und wollte nach dem Knäuel greifen, doch bevor sie es erreichte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie knickte ein und kippte vornüber, mitten in die größte Scherbe des zerbrochenen Spiegels. Es knackte.
Abschied ist immer ein bisschen wie sterben.
 



 
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