Sonnentau

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Dies ist Teil 4 eines Mini-Zyklus. Teil eins: „Weltempfänger“, Teil zwei: „Die Infektion“, Teil drei: „Truck“, Teil fünf folgt.





Sonnentau
„Absolut mörderisch, ich sage es Ihnen!“
„Aber nein, nicht doch! Sie ist doch so schön!“
„Genau das ist ihre Masche! So Schätzchen, wo stellen wir dich am besten hin? Hier erst einmal?“
Jolina rückte eine leere Vase beiseite, während Frau Seifahrt den Blumentopf auf die Anrichte stellte.
„Woher haben Sie sie?“
„Von einem Bekannten. Irgendwo in Schleswig-Holstein. Ahrdorf heißt das, glaube ich. Der Züchter wohnt bei ihm in der Nachbarschaft. Ach und noch was: In der Erde werden Sie so einen Schleim oder Schwamm bemerken. Bloß nicht entfernen! Das gehört so. Das ist ein Pilz, der der Pflanze bei der Ernährung hilft. Ein Symbiont oder so ähnlich, wie mein Bekannter das nannte.“
„Wollen Sie noch einen Kaffee?“
Nein, leider nicht möglich. Unglaublicher Zeitdruck, wissen Sie? Mein Bekannter hat mir noch was ausgedruckt. Zur richtigen Pflege. Ich bringe es Ihnen nachher vorbei!“
Nachdem sich Jolina von ihrer Nachbarin verabschiedet und die Appartementtür hinter ihr geschlossen hatte, ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa und betrachtete das Gewächs auf der Anrichte. Es machte sich sehr gut.
Sie erhob sich, schritt auf die Blume zu und berührte die Blüten sacht mit der Fingerspitze. Die Stängel, auf denen die rosa Blütenblätter saßen, waren eigentümlich schlank. Je länger sie die Pflanze betrachtete, umso stärker wurde ihre Aufmerksamkeit auf die kürzeren Blätter gelenkt, die fast wie behaarte Raupen wirkten. An diesen haarigen Auswüchsen hingen glitzernde Kügelchen. Die Fangwerkzeuge.
Für einen Moment überlegte sie sich, ob sie die Pflanze im Büro aufstellen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Die Luft dort war nicht die beste. Sehr trocken. Ihr fiel wieder ein, dass Bernhard mit seinem Antrag durchgekommen war, sich ins Nebenzimmer umsetzen zu lassen. Bernhard, das Ungeheuer. Dachte, er könne ein wenig mit ihr herumspielen, sie fallen lassen, wenn er die Lust verlor, und sich dann ins Nebenzimmer verkrümeln. Die Sache war für ihn in der Sekunde erledigt, in der er sie nicht mehr sehen musste.
Sie spürte, wie die Wut wieder diesen brausenden Druck hinter den Schläfen erzeugte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Mit einem Seufzer machte sie sich auf ins Badezimmer und musterte sich im Spiegel. Ihre Augen sahen ziemlich schlimm aus. Aber nur in diesem Moment, dachte sie trotzig. So schlecht waren sie sonst nicht. Groß und braun, lange Wimpern. Sie wusste, dass den Männern ihre Augen immer gefallen hatten. Passten sehr gut zu ihrem straffen schwarzen Haar. Und die Figur – sie war jetzt fünfundvierzig. Es gab haufenweise Zwanzigjährige, die sie um ihren flachen Bauch beneideten. Aber das war es wohl – Bauch hin, Bauch her, fünfundvierzig war eben nicht zwanzig.
„Hör auf mit dem Quark!“, fauchte sie. „Sonst kommst du heute überhaupt nicht mehr aus dem Heulen raus!“ Sie presste sich die Wattepads noch einmal gegen die geschlossenen Augen und warf sie ins WC-Becken.
Zurück im Wohnzimmer betrachtete noch einmal den Sonnentau. Eines der Raupenblätter war umklappt. Zwischen den beiden Flanken, auf Bauch- und Rückenseite von den klebrigen Kügelchen gehalten, steckte eine Fliege, deren Beine nur noch schlaff in der Luft kreisten.
„Sieh an! Du bist ziemlich fleißig!“

*​

„Und du? Glaubst du, dass man Männer wirklich braucht? Ich meine – so, dass sie sich in deinem Leben so richtig breit machen müssen?“
Jolina hatte die Zeitschrift neben sich auf das Sofapolster gelegt und schaute zur Pflanze hin.
„Es gibt doch auch sonst viele Dinge, von denen man erst denkt, dass man ohne sie nicht leben kann, und plötzlich geht es dann doch ganz einfach. Schließlich kann man kann sich ja auch das Rauchen abgewöhnen. Und das Trinken. Oder das Zu-viel-Essen. Erst tut’s ein bisschen weh, und dann lebt es sich ganz unkompliziert!“
Ich rede mit meiner Pflanze, dachte sie. Früher hatte sie sich über Frauen lustig gemacht, die sich mit ihren Katzen unterhielten. Was wäre das Nächste? Ein nettes Pläuschchen mit der Waschmaschine?
Sie erhob sich und schritt auf die Pflanze zu. Um den Topf herum lagen mehrere toten Fliegen.
„Ich dachte, du würdest sie essen. Oder macht du es einfach nur aus Spaß?“
Eines der kugeltragenden Blätter krümmte sich nach oben. Diese Reaktion war so unmittelbar auf ihre Frage gefolgt, dass es wie eine Antwort wirkte. Jolina fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das dichte Haar.
„Himmelherrgott! Reicht es nicht, dass ich zickig werde?“ Wie unter Schmerzen presste sie die Augenlider zusammen. „Wieso muss ich denn auch gleich noch den Verstand verlieren?“
So erschreckend der Gedanke auch war, so faszinierend war die Reaktion der Pflanze gewesen. Sie biss sich auf die Fingerknöchel. Sollte sie wirklich weitermachen? Sie zögerte und schaute zur Tür, als ob sie sich beobachtet fühlte. Na ja, muss ja niemand davon erfahren, was ich hier so mache, sagte sie sich schließlich.
„Also, noch mal: Kannst du mich wirklich verstehen?“
Ein anderes Blatt krümmte sich.
Für ein paar Sekunden traute sich Jolina nicht, sich zu bewegen. Wie eine ferne Dünung drang das Brausen des Straßenverkehrs durch die geöffneten Fenster ins Wohnzimmer.
„Und jetzt? Verstehst du mich jetzt auch?“
Eine weitere Blattspitze wanderte nach oben, während sich das vorherige Blatt langsam wieder entrollte.
„Gut, gut! Das ist richtig gut!“
Sie deutete ein Händeklatschen an, ohne dass sich ihre Handflächen berührten, wobei sie gieksend ein Lachen unterdrückte. Wahrscheinlich war sie wirklich wahnsinnig geworden – aber es fing an, ihr Spaß zu machen.
„Wir machen das so: Ich stelle dir Fragen, die du mit ja oder nein beantworten kannst. Ja ist einmal Blattknicken, nein zweimal. Warte! Ist doch ein wenig zu kompliziert, oder? Okay, du antwortest einfach immer nur mit ja! Verstanden?“
Eines der Blätter reagierte.
„Mit wem sprichst du denn sonst so? Nein, Moment, falsch gefragt! Also: Sprichst du nur mit mir?“
Ja.
Die Antwort gefiel ihr nicht. Sieht doch irgendwie nach so einer Art Beziehungswahn aus, dachte sie. Aber dann kam ihr eine neue Idee.
„Kannst du meine Gedanken lesen?“
Keine Reaktion. Was sie mit Genugtuung aufnahm. Wie ungebremster Irrsinn wirkte das jedenfalls nicht. Aber warum sollte sie ihre neue Gesprächspartnerin eigentlich nicht gleich selber fragen?
„Bin ich verrückt?“
Nichts.
Jolina lächelte.
„Möchtest du jetzt Pause machen?“
Die Pflanze antwortete.

*​

Am nächsten Morgen hatte sie sich für den grauen Rock und den schwarzen Pulli entschieden. Nicht, dass ihr wirklich nach so viel Unauffälligkeit war, im Gegenteil: Sie fühlte sich großartig. Aber gerade deshalb hatte sie das Bedürfnis, sich ein wenig zu tarnen. Sie spürte, dass es noch zu früh war, die Welt von ihrer Veränderung wissen zu lassen.
Sie saß im größeren der beiden Büros der Kreditorenbuchhaltung. Zwei Vierertischgruppen, die durch Gondeln mit Gummibäumen voneinander getrennt waren. Jolina schob die Rechnung für den Bürobedarf mit dem Unterarm an den Rand der Schreibtischunterlage und fixierte die Pflanzen. Ob es auch mit ihnen funktionieren würde? Vielleicht reichten ihre Gaben noch viel weiter, als sie sich jetzt noch vorstellen konnte?
Bernhard trat aus dem Nachbarraum, schob seine massige Figur an ihrem Schreibtisch vorbei und steuerte in den Kopierraum. Ein paar Sekunden später hörte sie durch die angelehnte Tür, wie das Gerät unter emsigem Klappern Kopie um Kopie ausspie. Darin mischten sich hektisches Knopfdrücken und Bernhards Bassstimme, die die Maschine mit unverständlichen Flüchen belegte. Die Tür wurde aufgerissen.
„Welches Genie hat denn auf fünfzig Kopien gestellt und dann nicht zurückgesetzt?“
„Ich glaube, Jolina war zuletzt daran!“, hörte sie Annegrets Stimme in ihrem Rücken.
„Na, großartig. Hat ja auch heute zum ersten Mal einen Kopierer gesehen!“
Annegret kicherte. Jolina spürte, wie sich das Blut in ihre Wangen drängte. Da war keine Funke von Humor in seiner Bemerkung gewesen, nur Verachtung. Sie zog die Rechnung wieder in die Schreibtischmitte und tat so, als konzentrierte sie sich darauf.
Was sollte sie tun? Aufspringen, vor seinem Schreibtisch in Positur gehen und ihm erklären, dass er – der gewaltige Bernhard – in Wahrheit nichts weiter darstellte als einen feigen, selbstgerechten Spießer, während sie mit Pflanzen sprechen konnte? Es erschreckte sie, wie nah sie daran war, es tatsächlich zu tun. Sie hob den Blick und starrte auf die Gummibäume. „Halt den Mund, Jolina!“, befahl sie sich. Sie wurde regelrecht wütend auf die Gewächse.
Wie sollte es denn überhaupt möglich sein, dass jemand mit Pflanzen sprechen konnte? Wo hatten die denn ihre Ohren? Oder ihr Gehirn? Sie war in schlechter Verfassung. Nur weil ihre Zimmerpflanze komische Krämpfe hatte, glaubte sie, übernatürliche Kräfte zu besitzen. Höchste Zeit, ein paar Gänge zurückzuschalten. Sich klar zu machen, wer sie wirklich war. Sie war eine Verlassene. Sie hatte Wahnvorstellungen. Sie begann, Pflanzen zu hassen. Eigentlich war sie komplett am Ende. Sie war tot.

*​

Tot, Gott sei Dank. Dass da etwas auf dem Teppich lag, hatte sie erkannt, als sie das Wohnzimmer betrat. Dass es sich um eine Maus handelte, wurde ihr klar, als sie zwei Schritte darauf zu gemacht hatte. Sie lag direkt unter dem Sonnentau. Mit Handfeger, Schaufel und zweimal Klospülen schaffte Jolina das Problem aus der Welt.
Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und musterte die Pflanze mit missbilligender Miene.
„Das warst du!“
Eines der Blätter begann, die Spitze nach oben zu recken, bis sie umklappte und auf dem hinteren Abschnitt des Blattes zu Liegen kam. Jolina schlug die Hand vors Gesicht und wandte ihr Gesicht für einen kurzen Moment ab.
„Oh, nein! Damit hörst du sofort auf, du Miststück. Du willst doch bloß meine schlechte Verfassung ausnutzen, du ...“
Sie nahm einen hörbaren Atemzug durch die Nase.
„Na gut! Eine Chance gebe ich dir noch!“ Vor allem, weil ich im Moment sonst niemanden zum Reden habe, wie sie sich im Stillen eingestand.
„Es geht mir nicht gut! Wegen Bernhard.“ Gedankenverloren streichelte sie die Stängel mit dem Rücken des Zeigefingers.
„Wir waren eine ganze Zeit zusammen. Ich war seine ... na, ja ... seine Geliebte halt. Er hat eine fürchterlich neurotische Frau, Erika. Was für ein Besen! Es ist mir ein Rätsel, warum sie sich nicht schon längst getrennt haben. Gewohnheitstiere, schreckliche Gewohnheitstiere!“
Mittlerweile war sie dazu übergegangen, mit beiden Händen an den Blüten zu spielen. Als sie den Blick auf das Innere des Blumentopfs richtete, fiel ihr auf, dass der Schleim ziemlich stark zugenommen und die Erde komplett bedeckt hatte. Teilweise reichte er bis an den oberen Rand des Blumentopfs. Die eigenartige Substanz bestand aus milchigen, reiskorngroßen Bläschen, in denen winzige blaue Kristalle zu schwimmen schienen.
„Weißt du, dass er einen wahnsinnig kurzen Kopf hat? Nacken und Hinterkopf komplett auf einer Linie. Und dann diese Riesennase! Eigentlich sieht er aus wie eine dieser Statuen auf den Osterinseln.“
Ihr Blick senkte sich, sie zog die Hände zurück. „Nein, ich sage nicht die Wahrheit. Diese Nase, dieses unglaubliche Kinn – das hat mich schon unheimlich fasziniert!“
Bitterkeit fiel auf ihre Züge.
„Aber die Art, wie er mich abserviert hat, das war ... nicht schön! Kannst du das verstehen?“
Eines der Blätter gab die Antwort.
„Ich wollte, es wäre anders. Aber ich kann das nicht auf sich beruhen lassen. Los, sag die Wahrheit! Du fängst Fliegen, du bringst Mäuse um, du hast mich eingefangen! Du hast wirklich Macht, ja?“
Ja.
Ihre Brust hob sich.
„Woher kommst du? Nein, anders! Kommst du aus unserer Welt?“
Keine Reaktion. Jolina schüttelte den Kopf.
„Ach Unsinn! Was spielt das eigentlich für eine Rolle? Willst du mir trotzdem helfen?“
Ja.
„Und hast du Interesse an einen richtig großen Fang? Ungefähr eine Million Mal schwerer als eine Fliege und mit großer Nase?“
Diesmal antworteten zwei Blätter gleichzeitig. Jolina fing an zu lachen. Obwohl es eigentlich gar nicht sie selber war, die da lachte. Eher war sie eine Zuschauerin. Was da lachte, war ein bislang unbekannter, fremdartiger Teil ihrer selbst. Ein Teil, den sie nicht unbedingt näher kennen lernen wollte. Aber diesmal ließ sie ihn gewähren. Sie lachte weiter.

*​

„Ich kenne deinen Dienstplan. Du hast um sechzehn Uhr Schluss. Also?“
Während Jolina mit der einen Hand das Handy ans Ohr hielt, winkte sie mit der anderen die Kellnerin heran.
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Was versprichst du dir davon?“
Obwohl die Verbindung nicht sehr gut war, hörte sie aus diesen Worten sehr klar heraus, wie unangenehm es Bernhard war, wie sehr er sich wand.
„Weil ich das, was zwischen uns war, nicht so einfach abhaken kann. Keine Angst! Ich werde dir keine Szene machen. Nur reden. Komm einfach nachher vorbei! Wenn ich dann noch nicht zu Haus bin, kannst du dir den Wohnungsschlüssel bei Frau Seifahrt abholen. So wie früher! Ich hoffe, du erinnerst dich noch?“
„Tut mir Leid, Jolina. Aber ... das geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil ... ach was! Ich muss jetzt Schluss machen. Wir sehen uns morgen im Büro!“
Die Verbindung wurde unterbrochen. Für mehrere Sekunden starrte Jolina mit gefurchter Stirn aufs Handy, bevor sie es in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
Nachdem sie das Café verlassen hatte, flanierte sie für eine Weile über die Einkaufsmeile. Obwohl sie sich kaum auf die Schaufensterscheiben konzentrieren konnte, tat es ihr gut, sich vom Strom der Passanten lenken zu lassen, ohne sich selber über ihre Schritte Gedanken machen zu müssen.
Er war so widerlich. Und er hatte nicht den geringsten Zugang zu den Gefühlen anderer. Und trotzdem: Dass er nicht kommen wollte, könnte ein Zeichen dafür gewesen sein, dass ihn irgendein Instinkt vor einer drohenden Gefahr warnte – wie bei einem schlauen Tier. Ein schlaues Tier, genau. Nichts anderes war er.
Irgendwie bereitete ihr der Gedanke, nach Haus zu gehen, Unbehagen. Als ob sie sich vor dem Tadel der Pflanze fürchtete, die sie mittlerweile Sonny nannte.
Als sie auf ihre Armbanduhr schaute, stellte sie überrascht fest, dass sie über anderthalb Stunden durch die Straßen geschlafwandelt sein musste.
Sie steuerte das nächste Café an und bestellte einen Yogi-Tee. Einen weiteren Kaffee würde sie nicht mehr vertragen. Sie zog das Handy aus der Handtasche. „Du bist vielleicht ein schlaues Tier, aber ich bin eine verdammt geduldige Jägerin!“, dachte sie.
Sie bemerkte, dass sie das Gerät abgeschaltet hatte. Als sie es wieder anstellte, erschien auf dem Display die Meldung, dass zwei Nachrichten auf ihrer Mail-Box hinterlegt waren. Voller Anspannung presste sie das Gerät an ihre Ohrmuschel. Eine sehr vertraute Stimme meldete sich.
„Hallo, Jolina. Ich bin’s, Bernhard. Ich habe mir einfach freigenommen. Bin jetzt in deiner Wohnung. Schönes Pflänzchen, das du da hast. Tut mir Leid wegen vorhin.“ Der Wechsel in seiner Stimmlage versetzte ihr einen Stich in die Brust. „Ich war ... ich war einfach nur feige. Mein Gott, wenn du wüsstest, wie es in mir aussieht. Mit Erika geht nichts mehr. Gar nichts. Ich glaube, sie will mich nur noch fertig machen. Weißt du eigentlich, dass ich Tag und Nacht an dich denke? Nein! Woher solltest du? So, wie ich dich behandelt habe? Ich hab mich von dir wegsetzen lassen, weil ich deinen Anblick nicht mehr ertragen konnte, deine Schönheit! Aber das hat überhaupt nichts gebracht, ich ...“
Die Aufzeichnung brach ab. Hastig huschten ihre Finger über die Tastatur, bis die zweite Nachricht startete. Immer noch Bernhards Stimme.
„Komm schnell, Jolina. Wir fangen einfach noch einmal von vorn an! Ich bin in deiner Wohnung. So wie früher. Aber du bist nicht da! Ich fühle mich verdammt einsam. Meine Lippen berühren das kalte Plastik des Telefonhörers, aber sie wollen nur deine Lippen, nur deine, nur deine!“ Das Handy entglitt ihren zitternden Händen.

*​

Ein großer Mann in Lederjacke, der ihr den Rücken zugedreht hatte, stieß ihr den Ellenbogen gegen die Brust. Das Gedränge im Bus war so intensiv, dass sie befürchtete, es bei der nächsten Station nicht bis zum Ausgang zu schaffen.
Was hatte sie denn überhaupt gedacht, was Sonny mit ihm machen würde? Ungefähr das wie mit der Maus? Dann hatte sie ein Problem, das sich nicht so einfach mit Handfeger und Schaufel beseitigen ließ. Nein, das war es nicht. Eher hatte sie irgendwie in die Richtung gedacht, dass Sonny ihm einen Nasenstüber verpassen würde. Ja, tatsächlich, gestand sie sich ein, nachdem sie noch eine Weile nachgegrübelt hatte. Das muss es gewesen sein. Eine Pflanze, die ihren Ex ausknockt. Was für eine grandiose Idee! Das kümmerliche Erzeugnis einer komplett Durchgedrehten. Sie war schon wieder tot.
Als sie spürte, dass der Bus langsamer wurde, zwängte sie sich mit zusammengepressten Lippen an den Leibern der Passanten vorbei und sprang ins Freie.
Sie trug einen eigenen Schlüsselbund bei sich, Bernhard hatte sich nur das Ersatzpaar geben lassen. Trotzdem würde sie die Tür nicht selber aufschließen. Sie würde klingeln. Dann machte er die Tür auf und ... und? Und wenn nicht? Sie fand keinen Weg, an diesen Punkt vorbeizudenken.
Sie erreichte den Hauseingang ihres Wohnblocks. Durch die Tür steuerte sie auf den Fahrstuhl zu, aber dann wurde ihr klar, dass sie Enge jetzt nicht ertragen könnte. Außerdem musste sie irgendwo hin mit ihrer Nervosität. Also über die Treppe rauf in den dritten Stock.
„Hört er meine Schritte, hört er wirklich meine Schritte?“, hämmerte es in ihrem Kopf, während ihre Sohlen über die nackten Granitstufen wischten.
Sie war da. Ihr Finger presste den Klingelkopf. Ein langes, altmodisches Bimmeln. „Und wenn nicht?“ Noch ein Bimmeln. Ihr Herz wollte nicht ruhiger werden.
Die Tür wurde geöffnet. Bernhard lächelte ihr entgegen. Sie trat in die Wohnung und schaute ihn mit großen Augen an. Für einen Moment hatte sie das ungeheure Bedürfnis, ihn zu umarmen, aber sie zögerte. Stattdessen deutete sie auf das mit einer roten Schleife geschmückte Präsent, das auf dem Sofa lag.
„Blumen!“
„Blumen, ja!“
„Willst du sie mir nicht geben?“
Ein rätselhafter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als müsse er angestrengt nachdenken.
„Geben? Ja, ja. Natürlich.“
Sie lachte auf. Eine Spur von Verzweiflung mischte sich darin.
„Nein, nein, du hast Recht! Vielleicht sollten wir mit Blumen erst einmal warten. Wie geht es dir?“
„Oh, mir geht es jetzt wieder großartig!“ Er lächelte immer noch. Aber es wirkte nicht spontan, sondern eher so, als wartete er auf etwas.
Sie schaute zum Sonnentau.
„Und hier? Hier ist nichts passiert?“
„Nein.“ Seine Stimme klang dunkel und rauchig. Fast ein wenig verschlafen. „Sollte denn etwas passiert sein?“
Sie schritt aufs Sofa zu, schob die Blumen beiseite und ließ sich auf die Polster fallen.
„Diese Pflanze da! Ob du es glaubst oder nicht – Ich hatte Angst, dass sie dir etwas antun könnte. Verrückt, nicht wahr?“
„Antun? Mir?“ Er setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand.
„Wie könnte sie mir etwas antun?“
„Das frage ich mich jetzt allerdings auch.“
Seine mächtige Hand strich über ihre Wange.
„Nichts ist passiert. Gar nichts. Mach dir keine Sorgen. Deine Gedanken gehen immer in diese panische Richtung. Du brauchst einfach nur etwas mehr Mut! Die Dinge sind auf dem richtigen Weg.“
Er schlang seine massigen Arme um sie und zog sie zu sich heran. Ein plötzlicher Impuls, der direkt aus ihrem Unbewussten abgefeuert worden war, befahl ihr, die Augen geöffnet zu halten. Zuerst schaute sie auf seinen Nacken, ließ ihre Blicke dann aber weiter nach oben wandern. Von den Ohrläppchen tropfte ein milchiger Schleim, der aus kleinen Bläschen bestand, die winzige blaue Kristalle umhüllten.
„Wir fangen ganz von vorne an, Jolina. Und diesmal wird alles anders!“
 

jon

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Teammitglied
Solide, aber…

Schade, das hat nicht ganz die Dichte der beiden vorigen Teile und war auch irgendwie voraussehbar. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, man müsste das Hoch und Tief der Figur Jolina noch ein bisschen stärker zeichnen, die "Rhythmusänderungen" zwischen „Alltag“, "Konzentration und Staunen beim Pflanzengespräch" und den "Wut/Traueranfällen" – so dass etwas mehr innere Stuktur in den Erzählbogen kommt… (oh man! versteht jemand, was ich damit sagen will?)

PS: Was ist eigentlich mit dem "was über die richtige Pflege", das Frau Seifahrt noch vorbeibringen wollte?
 



 
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