Sonntagnachmittag

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

ThomasStefan

Mitglied
Sonntagnachmittag



Ich überlege hin und her. Was hätte Herbert besser gefallen? Schließlich nehme ich Vergißmeinicht.

Den Weg danach kenne ich genau, bin ihn oft genug gelaufen. Früher gingen wir ihn gemeinsam, die Eltern besuchen. Durch das schmiedeeiserne Tor, an der Andachtshalle vorbei, den Weg hinunter bis zur Wasserstelle. Doch heute gehe ich weiter nach rechts, vorbei an dem kitschigem Engel aus Stein, der mit verklärten Blick mir die Richtung weist, zu Herbert.
Da stehe ich wieder, mit meinen Blümchen, der kleinen Schippe und einer Giesskanne, in der das abgestandene Wasser schwappt. Ich packe die Vergißmeinicht aus dem Zeitungspapier und gehe in die Hocke. Die Zeitung lege ich wie immer aufs Grab, als Unterlage für die Knie. Alles andere ginge mir noch mehr auf den Rücken.

„Vor einem Mann kniet man nicht, niemals!“, hat meine Mutter immer gesagt.

Ich habe genau fünf Pflänzchen gekauft. Das bin ich mit den Kindern. Ach ja, umgezogen sind wir auch fünf mal. Die Bundeswehr nimmt keine Rücksicht, aber das haben wir vorher gewusst. Mit einem Mal kam der Krebs, und wie brutal er unser Leben dann veränderte, war unvorstellbar. Herbert hat tapfer jede Therapie mitgemacht, um uns Hoffnung zu geben. Alles vergeblich, und er hat es gewusst. Ich habe es ihm angesehen.

„Dieser Mann ist nichts für Dich. Die beim Militär müssen ständig umherziehen, wie die Nomaden. Und dann der Alkohol, das sind alles Trinker, Du wist schon sehen!“ Wieder höre ich meine Mutter.

Die fünf Löcher, die ich inzwischen gebuddelt habe, nehmen die Pflanzen gut auf. Ich drücke sie fest hinein, kratze mit der Schippe von den Seiten Erde hinzu, festige alles. Jetzt das Wasser. Zufällig genau das Richtige für Herbert. Der mochte doch überhaupt keinen Alkohol! Für seine Kameraden beim Bund war es kein Problem.

„Du hättest `was Besseres verdient als Herbert. Stefan, der wär doch der Richtige gewesen, der hat die Praxis seines Vaters übernommen. Oder Gerhard, den sieht man ständig in der Zeitung, der hat es bis nach Berlin ins Parlament geschafft.“

Die Lebensbäumchen müssen wieder beschnitten werden, die Nebengräber sollen nicht erreicht werden. Das können unsere Söhne demnächst machen. Seinen Platz richtig ausfüllen, sich behaupten. Dabei die eigenen Grenzen erkennen und akzeptieren, so war er. Mutter hat es nie verstanden.

„Dieser Mann wird Dich eines Tages verlassen, das spüre ich, und ich sage Dir voraus: Du wirst ihm keine Träne nachweinen!“ Es klingt mir in den Ohren, und tut wieder weh.

Ständig zupfe ich welke Blätter von Grab. Ich will noch nicht gehen. Ja, Herbert, Du hast mich tatsächlich verlassen, viel zu früh und gegen meinen Willen. Wieder kämpfe ich gegen die Tränen an. Und dennoch - ich bin gerne hier, bei Dir.
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo ThomasStefan,

Wer deinen Nick liest, wird annehmen, dass du ein Mann bist, und vermuten, dass auch der Ich-Erzähler des Textes männlich ist. Ach, wieder eine Schwulengeschichte, dachte ich also. Ein schwules Paar, das vier Kinder adoptiert hat. Soll´s ja geben. Mich wunderte nur, dass die Mutter, obwohl sie sonst so viel rumquakt, sich nicht an der Homosexualität ihres Sohnes stört, sondern ihm nur einen Partner gewünscht hätte, der `etwas Besseres´ ist: Stefan, vermutlich Anwalt, Arzt oder Zahnarzt, oder Gerhard, vermutlich Politiker (genau weiß man das nicht) - offenbar auch sie beide schwul.

Immerhin zog ich auch die weniger wahrscheinliche Variante in Betracht, dass ein männlicher Autor einen weiblichen Ich-Erzähler auftreten lässt. Ich suchte nach Denk- und Verhaltensweisen, die typisch weiblich sind, fand aber ehrlich gesagt keine.

Man erfährt überhaupt nicht sehr viel aus dem Text, außer, dass der Partner des Ich-Erzählers nach diversen Therapien an Krebs gestorben ist, dass er bei der Bundeswehr war, fünfmal den Wohnort wechselte und von seinen Mitsoldaten akzeptiert wurde, obwohl er nicht trank. Was hier erzählt wird, dürfte auf Zehntausende von Krebspatienten und Berufssoldaten zutreffen: Der Partner bleibt irgendwie gesichtslos. Ähnliches kann man vom Ich-Erzähler sagen, von dem nur berichtet wird, dass er/sie mit fünf Vergissmeinnicht-Pflanzen zum Grab des Partners geht, um diese Blumen einzupflanzen, dort über den Schnitt von Lebensbäumchen nachdenkt, vier Kinder hat und eine Mutter, die sich ständig in sein/ihr Leben einmischt, und dass er/sie um den gestorbenen Partner trauert.

Was fehlt, ist die Herausarbeitung von Charakterzügen oder Situationsmerkmalen, die individuell, einzigartig sind und den Leser zum Weiterlesen reizen. Jeder Mensch hat etwas Eigenes, und gerade das kann ihn für andere interessant machen; man muss solche ganz persönlichen Eigenheiten aber finden (durch genaue Beobachtung von Menschen) und sie so darstellen, dass sie den Leser berühren. Offenbar ist dir das nicht gelungen, sonst hättest du bisher wohl mehr Beachtung gefunden.

Ich wünsche dir für das nächste Mal viel Glück. Vielleicht wäre es auch gut, wenn du dann deine Figuren in eine Handlung verwickelst, wo sie kämpfen, Entscheidungen treffen und innere Konflikte austragen müssen.

LG,

Ofterdingen
 

sekers

Mitglied
oder auch nicht

Hallo ThomasStefan,

Wer deinen Nick liest, wird annehmen, dass du ein Mann bist. Ich vermute, dass der Ich-Erzähler des Textes eine Frau ist. Ach, wieder keine Schwulengeschichte, dachte ich also (ein bisschen enttäuscht). Ein schwules Paar, das vier Kinder adoptiert hat, das wäre echt eine individuelle, ja einzigartige Geschichte. Soll´s ja geben. Mich wunderte nur, dass die Mutter, obwohl sie sonst so viel rumquakt, nicht schon die Homosexualität ihres Sohnes gefördert hatte, ihm einen Partner gewünscht hätte, der `etwas Besseres´ ist: Stefan, vermutlich Anwalt, Arzt oder Zahnarzt, oder Gerhard, vermutlich Politiker (genau weiß man das nicht) - und sie beide schwul.

Immerhin zog ich auch die viel wahrscheinlichere Variante in Betracht, dass ein männlicher Autor einen männlichen Ich-Erzähler auftreten lässt. Ich suchte nach Denk- und Verhaltensweisen, die typisch männlich sind, fand aber ehrlich gesagt keine (was dann eh wieder stimmig mit meiner ersten Annahme war).

Man erfährt überhaupt einiges aus dem Text, dass der Partner des Ich-Erzählers nach diversen Therapien an Krebs gestorben ist, dass er bei der Bundeswehr war, fünfmal den Wohnort wechselte und von seinen Mitsoldaten akzeptiert wurde, obwohl er nicht trank. Was hier erzählt wird, könnte auf manche Krebspatienten und Berufssoldaten zutreffen, auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist. Der Partner bleibt irgendwie gesichtslos. Ähnliches kann man vom Ich-Erzähler nicht sagen. Von dem wird berichtet, dass er/sie mit fünf Vergissmeinnicht-Pflanzen zum Grab des Partners geht, um diese Blumen einzupflanzen, dort über den Schnitt von Lebensbäumchen nachdenkt, vier Kinder hat und eine Mutter, die sich ständig in sein/ihr Leben einmischt, und dass er/sie um den gestorbenen Partner trauert. Die Geschichte endet, dass trotz Trauer und gegen den Willen Verlassen worden sein die Erzählerin gerne "hier - bei Dir" ist.

Hier hast Du in einer speziellen Situations einen Charakterzug herausgearbeitet, der individuell stimmig für die erzählende Person ist: Flucht in die Phantasie. Vielleicht ist der Charakterzug nicht einzigartig, aber er könnte den Leser zum Weiterdenken reizen: der könnte sich fragen, mache ich das etwa auch so? Drifte ich bisweilen in eine Phantasiewelt ab? Jeder Mensch hat etwas Eigenes, und gerade das macht ihn für andere interessant; man muss solche ganz persönlichen Eigenheiten finden (durch genaue Beobachtung von Menschen) und sie so darstellen, dass sie den Leser berühren - indem Sie doch wieder das Gleiche, nicht-Individuelle darstellen. Offenbar ist dir das gelungen. Auch wenn der Text wohl ein bisschen mehr Beachtung verdient hätte.

Ich wünsche dir für das nächste Mal nix, weil ich wünsche nie anderen etwas. aber ich wünsche mir etwas: Ich könnte mir auch gut Texte von Dir vorstellen,wo du dann deine Figuren in eine Handlung verwickelst, wo sie kämpfen, Entscheidungen treffen und innere Konflikte austragen müssen.

Liebe Grüße

G. - oft guter Dinge
 

ThomasStefan

Mitglied
Hallo Sekers/Ofterdingen!
Zunächst vielen Dank für deine ehrliche, ausführliche Kritik. Damit kann ich was anfangen.
Dass dieser Text nicht gezündet hat, habe ich natürlich auch bemerkt.
Dass der Erähler ein Schwuler sein könnte und keine Frau, darauf bin ich nun wirklich nicht gekommen. Obwohl das Problem des männlichen Autors (der ich bin), der in die Gestalt einer Frau als Ich-Erzählerin schlüpft, mir durchaus bekannt ist. Erst kürzlich habe ich einen anderen Autor auf diese mögliche Irritation hingewiesen - und es bei mir selbst nicht bemerkt. Na ja, das Unkraut im eigenen Garten übersieht man leicht.
Schade, dass meine Vorstellung von diesem Ablauf auf dem Friedhof keinen Wiederhall findet, muss ich akzeptieren. Ich werde nochmal nachdenken, ob das Ganze noch zu retten ist.
Vielen Dank, beste Grüße, Thomas
 

Ternessa

Mitglied
Hallo Thomas,
warum sollte dieser Text nicht zünden?

Hast du vielleicht auch schon einmal daran gedacht, dass viele sich hier nicht zu Texten äußern, wenn sie gut sind?
Viele sich auch nicht dazu äußern können, was sie gut finden?

Dieser Text ist dir gelungen- wobei auch ich den Erzähler als eine Frau ansah ( Erzähler und Autor gleichsetzte)- doch wer gibt vor, dass ein Erzähler der Autor sein muss?
Als Mann in die Perspektive einer Frau zu schlüpfen, kann riskant sein, doch es ist dir gut gelungen, "Sie" in ihren Gedanken darzustellen.

Es gibt immer Stellen an einem Text, die man überarbeiten kann/sollte- doch alleine Du solltest das entscheiden und dich nicht messen wollen daran, was "zündet".
LG
Ternessa
 

Ternessa

Mitglied
Und noch eins-

eine Frau erfährt sehr viel aus diesen Text, auch wenn die Personen ähnlich einer Kurzgeschichte nur angedacht sind....also nicht entmutigen lassen!
Den Wechsel zwischen Handlung und Reflektion zur Mutter finde ich sehr gelungen- es sind die Wechsel zwischen Vorurteil und Wirklichkeit, wie sie uns im Leben begegnen.
Liebe Grüße
Ternessa
 

ThomasStefan

Mitglied
Hallo Ternessa!
Danke für deine Ermutigung.
Ich werde nochmal über einige Stellen nachdenken, die mir irgendwie immer noch nicht richtig gefallen. Es ist Kurzprosa, keine KG oder Erzählung, da entstehen nur Konturen der Figuren, werden nicht vollständig ausgemalt. Dennoch muss es in der Gesamtheit überzeugen. Ofenbar nicht jeden.
Beste Grüße, Thomas
 

sekers

Mitglied
richtig Stellung

Hallo Thomas Stefan,

nur damit kein Missverständnis: ich wollte mit meinem Kommentar dasselbe ausdrücken, was Ternessa schnörkellos tat. (ich) finde Deinen Text inhaltlich gut und die Begebenheit gefühlvoll erzählt.

war nur etwas erzürnt über Ofterdingens nach meiner Meinung unsachliche Kritik, die sich mehr gegen den Schreiber als das Stück zu richten schien und in der Sache nach meinem Gefühl nicht stimmig war/stimmte. Deswegen habe ich seinen (ihren?) Text umgedreht;
eine Versuch in Ironie, der in Unverständlichkeit endete.

Liebe Grüße
G.
 

ThomasStefan

Mitglied
Hallo sekers!
In bin jetzt ziemlich konsterniert, da ich erst jetzt merke, dass Ofterdingen und sekers zwei Personen sind. Peinlich. Ich habe an eine Doppelung gedacht, auch einen Zweitaccount (eigentlich völlig sinnlos!!). Tut mir leid.
Deine ermunternden Kommentare nehme ich gerne auf. Du kannst hier im Forum durchaus längere Texte von mir finden, in der die Figuren deutlicher an Gestalt gewinnen.
Gruß zur Nacht, Thomas
 

Ofterdingen

Mitglied
Lieber ThomasStefan,

Schön, dass du mich von sekers unterscheidest. Jener hat "eine Versuch in Ironie, der in Unverständlichkeit endete" gemacht. Ich dagegen mag Menschen, die ein gewisses Niveau haben und zum Beispiel auch Deutsch können.

Gruß,

Ofterdingen
 

Clara

Mitglied
hallo
was ich grad noch vor augen habe, sind Vergissmeinnicht...
ein klares Bild -
und da buddelt wer in der Erde und hört immerzu die Sprüche der Mutter - ich glaube schon, das es ein Teil typischer Weiblichkeit ist -

Ich habe mitnichten an eine Homogeschichte gedacht - aber ich muss zugeben, es hat etwas gedauert, bis ich feststellte : ein Mann schlüpfte hier in ein Frauengewand - und dieses Gewand möchte einfach nur nicht vergessen werden - wie zB vielleicht von der Mutter, die ja mit dem wenig gut ausgesuchtem Ehegespons die Tochter vielleicht auch für weniger würdig halten könnte.
Könnte - das ist keine automatik, es sei denn in Kreisen, wo die Bindungen nach Vitamin B ablaufen, und nach Kosten - Nutzen
und nicht Liebesbeziehungen sind.

Das ein Toter einen nicht vergessen soll - ist allerdings ein bisschen unlogisch

Der Schnitt der Lebensbäume, die Kennzeichnung dessen, wer da eigentlich begraben liegt - das ist zwar für mich ein sehr gutes Bild - aber, es könnte hier ein inneres Zwie- oder sogar Streitgespräch mit der Mutter ablaufen, untern Tränen evtl. die die Situaton klarlegt, was man an diesem Mann schätzte und vermisst, evtl im Gegensatz zu Herrn Dr. soundso, den man nicht heiratete. Oder ganz anders - aber halt etwas ausführlicher, wo dann auch deutlich wird, warum sie die Vergissmeinnicht besorgte und nichts anderes
 

Clara

Mitglied
sekers und ofterdinger - ich habe in beiden schreibern nicht mal unterschiede im text bemerkt - so ähnlich klang es -
und sekers hat dann noch so ähnlich unterschrieben - wie ofterdinger sich nennt - meine güte, wer soll sowas verstehen?

sorry für den einwand - aber ich lese die meinung anderer auch immer
 

ThomasStefan

Mitglied
Hallo Clara!
Danke für deinen ausführlichen Kommentar. Ob ich als Mann die weibliche Innenwelt treffend dargestellt habe, kann wohl nur eine Frau beurteilen. Zumindest von dir und Ternessa habe ich eher Zustimmung erfahren, das beruhigt mich, sagt mir, doch nicht ganz falsch zu liegen. Ich habe mich immer schon gefragt, was Menschen an den Gräbern so denken, ob sie Zwiesprache halten, immer noch alte Kämpfe ausfechten, mit dem Toten, mit sich, der Familie.
Beste Grüße zum Sonntag, Thomas
 

Clara

Mitglied
ich glaube, das ist en Zustand, wie bei einem Gebet, das man ja auch still in sich hervorträgt
an einem Grab kann man dann auch Dinge loswerden, die man sonst unterdrückt hat - hier vielleicht sogar die Liebe zu Herbert - die ja nicht weiter besprochen wird
sondern indirekt der Mutter eine Schuld gibt, das Herbert da nun liegt - weit hergeholt, ja, irgendwie -
denn jeder trägt doch zwiegespräche über dies oder das in sich - und es muss aussen nicht immer zum Eklat kommen.

Ebenso wäre denkbar, das die Mutter von der Person des Vergissmeinnichtpflanzer distanziert hat, und nun sind weder Mutter noch Herbert da - der Pflanzer kann traurig sein in seiner Einsamkeit, aber ebenso auch wütend, über seine Situation
 



 
Oben Unten