Sorgenfalten

Raniero

Textablader
Sorgenfalten

Ungläubig starrte Jürgen Beumer auf den Fernsehschirm.
Was er da im Videotext las, fand er so ungeheuerlich, dermaßen skandalös, dass es ihm glatt die Sprache verschlug. Nun gut, sagte er sich, man war ja schon so einiges gewohnt, bei diesen Texten der kommerziellen Sender, die im Gegensatz zu den Öffentlich Rechtlichen doch verbal immer wieder ausrutschten und hierin stark dem gedruckten Boulevard nacheiferten, aber musste das sein, eine Meldung in dieser Form?
Es war schon spät abends, und Jürgen freute sich, nachdem seine Frau Ingrid bereits ermüdet das Nachtlager aufgesucht hatte, auf den nächtlichen Horrorfilm, der in zehn Minuten beginnen würde. Um sich die Zeit bis dahin zu vertreiben, schaltete er den Videotext des privaten Senders ein und wäre fast vom Stuhl gefallen. Unter der Überschrift ‚Sorgenfalten beim Orgasmus’ wurden Ratschläge erteilt, wie der interessierte Zuschauer diese störenden Falten beim Geschlechtsakt vertreiben oder gar nicht erst aufkommen lassen könne. Diese Sorgenfalten, so die Meldung weiter, wären bisher ausschließlich beim weiblichen Geschlecht aufgetreten und folgerichtig schlug der Sender den Herren der Schöpfung ernsthaft vor, ihren Partnerinnen den Kopf frei zu halten, von den Alltagssorgen, für den Höhepunkt, indem sie beispielsweise vor dem Akt gründlich die Wohnung saugen oder andere selten ausgeübte häusliche Tätigkeiten verrichten sollten.
Jürgen Beumer war mit seiner Ingrid seit mehr als dreißig Jahren verheiratet, in einer mehr oder weniger harmonischen Ehe, die Kinder waren längst schon erwachsen und hatten das Haus verlassen. Obwohl beide ihren Ehepflichten in den letzten Jahren nicht mehr so häufig nachkamen, wie früher, war Jürgen sich absolut sicher, nicht eine einzige Sorgenfalte auf den Gesichtszügen seiner besseren Hälfte bemerkt zu haben, von Beginn an, bei Ausübung dieser wichtigen Aktionen, unabhängig davon, ob er vorher die ganze Wohnung gesaugt hatte oder nicht.
„So ein Quatsch“, lachte er amüsiert und blendete den Videotext aus, da in einer Minute der Horrorschinken beginnen sollte.
Dieser begann in der Tat pünktlich und Jürgen lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück. Je mehr jedoch der äußere Horror auf dem Monitor zunahm, stieg in seinem Inneren ein ganz anderer Horror auf, der sich bald zur Panik steigerte, derart, dass er dem Horror auf der Mattscheibe nicht mehr folgen konnte und verärgert den Fernseher ausschaltete.
‚Und wenn da doch etwas dran ist, an der Meldung’, dachte er, ‚auch wenn das Ganze blödsinnig klingt, ein Körnchen Wahrheit ist vielleicht doch dran.’
Er war sich jetzt nicht mehr so sicher, ob ihm nicht ab und an ein Sorgenfältchen auf Ingrids Gesicht entgangen war, beim Schäferstündchen, weil er nicht genau hingeguckt hatte. Auf der anderen Seite, dachte er, auch wenn ich tatsächlich nicht so darauf geachtet habe, war es denn nicht auch so, dass viele Frauen ihren Partnern den Orgasmus vortäuschen, wie soll man da an Sorgenfalten denken?
‚Um Gottes Willen’, schoss es ihm durch den Kopf, ‚und wenn sie mich auf diese Art betrogen hat, von Anbeginn unserer Ehe, oder gar vorher schon! Wie kann ich da absolut sicher sein? Vielleicht hätte ich früher doch öfter mal die Wohnung saugen sollen.’
Schweißgebadet suchte Jürgen das Bad auf und nahm eine Dusche, etwas, was er in seiner ganzen langjährigen Ehe um diese Uhrzeit noch nie getan hatte, selbst nach dem stärksten Fernsehhorror nicht. Als er die Schlafzimmertür öffnete, fiel ein Lichtstrahl auf die entspannten, sorgefaltenfreien Gesichtszüge seiner Frau.
‚Kein Wunder’, sagte er sich, ‚sie hat ja jetzt auch keinen Sex’ und erschrak über seine eigenen Gedanken.
Lange Zeit noch blieb Jürgen wach, in dieser Nacht, er konnte einfach nicht einschlafen und wälzte sich hin und her, im Bett. Schließlich aber übermannte ihn doch noch der Schlaf, aber wenn er geahnt hätte, was da auf ihn zukommen würde, wäre er sicher lieber wach geblieben.
Er träumte, er befände sich auf Hochzeitsreise, mit seiner Ingrid, in einem wunderschönen romantischen Ort im Süden Italiens. Sie bewohnten eine fürstliche Suite in einem Fünfsternehotel, mit einem Traumblick auf’s offene Meer.
Die Tage waren angenehm und voller Harmonie, doch jedes Mal, wenn es auf die Nacht zuging, setzte der blanke Horror ein. Nachdem seine Frau im durchsichtigen Neglige das geräumige Bett aufgesucht hatte, rief sie ihm, als er voller Wohlbehagen und Vorfreude zu ihr schlüpfen wollte, mit zärtlicher Stimme zu.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“
Mit Entsetzen bemerkte Jürgen, dass er auf einmal, wer weiß, wo her, einen Staubsauger in der Hand hatte.
Das Entsetzen steigerte sich in’s Unermessliche, als er feststellte, dass er, ohne dagegen ankämpfen zu können, das Gerät einschaltete und zu saugen begann; zuerst seine Fürstensuite, anschließend die anderen Hotelzimmer, in denen Menschen mit tiefen Atemzügen schliefen oder einer anderen Beschäftigung nachgingen, und schließlich die restlichen Räume des Luxushotels mitsamt allen Außenanlagen.
Als er endlich fertig war, mit der Arbeit vor dem Vergnügen, wie seine Frau sich ausgedrückt hatte, wurde es draußen schon hell, und er flog, wahnsinnig vor Verlangen, regelrecht die Treppe hinauf, auf der ihm seine bessere Hälfte bereits entgegenkam, fertig angezogen.
„Schatz, Frühstück!“
Jürgen erwachte, wiederum schweißgebadet, draußen war es genauso hell wie in seinem Alptraum.
Er hörte Ingrid in der Küche hantieren, und es roch nach Kaffee.
„Du hast aber unruhig geschlafen, Schatz“, bemerkte seine bessere Hälfte, als Jürgen nach der Toilette am Frühstückstisch Platz nahm, und strich ihm über die Wangen, „hattest du einen bösen Traum?“
„Nein, nein“, log Jürgen, „alles in Ordnung.“
Sollte er ihr etwa sagen, dass er in der Hochzeitsnacht ein ganzes Hotel gesaugt hatte? Lieber nicht. Verstohlen blickte er zu ihr hinüber; zeichnete sich da nicht bereits eine Falte auf ihrem Gesicht ab, die sich beim abendlichen Tete a Tete in’s Unermessliche steigern würde. Nein, das würde er nicht zulassen, er würde handeln. Aber wie.
Den ganzen Tag über ließ ihn auf seiner Arbeitsstelle der Gedanke an Ingrids eventuelle Sorgefalte nicht mehr los.
Als er am Nachmittag zu Hause ankam, war die Wohnung leer. Sie wird einkaufen gegangen sein, dachte Jürgen und handelte blitzschnell. Er riss den Staubsauger geradezu aus dem Abstellschrank und begann zu saugen, was das Zeug hält. Als seine Frau vom Einkauf zurückkehrte, war er gerade fertig und stellte den Sauger zurück.
Sie glaubte nicht, was sie sah.
„Was ist denn mit dir los, hast du einen Frühjahrskoller?“
„Aber warum denn Schatz, so ein bisschen Hausarbeit tut mir geradezu gut, bei meiner überwiegend sitzenden Tätigkeit.“
Voller Verwunderung, aber auch gerührt nahm Ingrid ihren Mann in den Arm und bot ihm noch vor dem Abendessen eine Tätigkeit an, die sie spontan zusammen im Liegen ausführten. Während der gesamten Aktion ließ Jürgen das Gesicht seiner Frau, soweit das möglich war, nicht aus den Augen. Nicht eine Sorgenfalte, freute er sich, im Gegenteil, ihm schien es, als sei sie durch die unerwartete Freude noch schöner geworden.
Am nächsten Nachmittag nahm Jürgen sich, obwohl es regnete, alle Fenster vor, eins nach dem anderen. Ingid wunderte sich zwar, ließ ihn aber gewähren und belohnte ihn, wie er es vorausgesehen hatte, auf die gleiche Weise wie am Tag zuvor. Am dritten Tag hatte es Jürgen mit dem Geschirr, das musste doch wirklich einmal von Hand durchgespült werden, nach alter Väter Sitte, und an den folgenden Werktagen wurde Jürgen nicht müde, mit der Hausarbeit, bis er die ganze Bude einmal durchhatte und von vorne beginnen konnte.

Dieser Zustand hält nun schon zur Freude beider Ehepartner eine Weile an, und Jürgen ist der festen Überzeugung, dass sich bei seiner Ingrid selbst mit neunundneunzig Jahren noch keine Sorgenfalten zeigen werden. Dafür treten allerdings bei ihm immer mehr von diesen Falten zutage, weil er beim Sex dauernd an den Haushalt denkt…und Horrorfilme vermisst er auch ein wenig.
 



 
Oben Unten