Spiegelreflexion

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huesera

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Spiegelreflexion

Grell flackerte die Neonröhre auf. Im fahlen Licht tauchte ihr Gesicht wie ein Gespenst im trüben Spiegel des Badezimmerschrankes auf, verschwamm für einen Lidschlag, entschleierte sich mühsam, nur um erneut zu zerfließen. Zwei-, dreimal ging das so, dann schaffte sie es, ihre Augen offen zu halten. Sie betrachtete sich langsam, Zentimeter für Zentimeter durchforstete sie ihr Gesicht: die Augen – immer als erstes, das subjektive Zentrum ihrer Person – blau wie die ihres Vaters, umwachsen von dunklen Wimpern an denen jetzt noch der Schlaf klebte. Die dichten Augenbrauen, die sich hartnäckig sträuben, eine einheitliche Linie zu bilden wie es sich gehörte und immer wieder in der Mitte zusammenstreben, jeder gewaltsamen Pinzettenkur trotzend. Die hohe Stirn mit den kleinen Pickeln, die jede heimliche Stimmungsschwankung sichtbar machen, die jungfräulichen Härchen, die am Haaransatz aus den Poren streben und sich ungezähmt in alle Richtungen kringeln...
Ihr Blick schweifte ab, glitt weiter über das schlaftrunkene Antlitz und blieb kurz am Mund hängen, der ausdruckslos im unteren Drittel des Ovals sitzt, nach unten begrenzt durch eine winzige Erhebung in der Mitte der Unterlippe.
Sie trat einen Schritt zurück, versuchte mit kurzsichtigem Blick, ihre Konturen zu erfassen, die ganze Realität ihrer Physiognomie.

Auf einmal war sie hellwach, die bleierne Müdigkeit aus ihrem Gehirn verschwunden.
Wer war diese Frau, verdammt? Sie konnte keine Ähnlichkeit mit sich selbst erkennen. Fieberhaft überlegte sie was passiert sein könnte. Vor Tagen hatte sie sich eine neue Frisur zugelegt – ein Kurzhaarschnitt, das veränderte natürlich. Die Frau im Spiegel trug kurze Haare, kurz und rot – das könnte hinkommen.
Doch es war auch weniger das rein Äusserliche was ihr fremd vorkam. Vielmehr dieser Ausdruck, die durchdringende, ernste Teilnahmslosigkeit, die aus ihren Augen kroch, sich durch die Spiegelwand zu bohren schien und sie wie ein Kaninchen hypnotisierte.
Moment mal! Hatte ihr diese komische Fremde gerade zugezwinkert? Das ging nun wirklich zu weit, wahrscheinlich war sie einfach nur übermüdet, schlief zuwenig in letzter Zeit, machte sich zu viele Gedanken, die sich dann nachts durch ihr Bewusstsein frassen wie Holzwürmer durch Omas antiken Wohnzimmerschrank.
Um ihr Unbehagen abzuschütteln, begann sie mit der morgendlichen Reinigung, schüttete sich einige Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, fühlte Tropfen die Wangen entlangrinnen, über den Hals, die Wölbung ihrer linken Brust bis zum Bauchnabel, wo sie sich sammelten bis die kleine Vertiefung voll war und überlief. In den Schamhaaren verfingen sie sich endgültig. Sie erschauerte.
Langsam hob sie den Blick. Die Haut war jetzt leicht gerötet durch den Kältereiz, die Augen klarer, die Schlaftrunkenheit gewichen – doch ähnlicher war sie sich nicht geworden. Oder sollte sie ihre Erinnerung verloren haben? Eine Amnesie. Vielleicht war in der Nacht irgendetwas geschehen, das ihr Kurzzeitgedächtnis ausgelöscht hatte.
Mechanisch griff sie zum Kamm und fuhr sich damit durch den wirr leuchtenden Haarschopf – diese Bewegungen!
Sie beobachtete wie sich ihr Gegenüber auf die Unterlippe biss und tastete reflektorisch nach ihrem Mund. Nun, zumindest taten sie dasselbe. Komisches Gefühl – so als stecke man in der falschen Person und schaue durch die beiden Löcher in ihrem Schädel nach aussen, ohne ansonsten physisch und psychisch mit ihr verbunden zu sein. Vielleicht war sie auch einfach verrückt geworden, durchgedreht auf einmal. Man würde sie vermutlich bald abholen, in eine Zwangsjacke quetschen und in eine geschlossene Anstalt bringen, wo sie dann mit lauter anderen Menschenhüllen Karten spielen dürfte – tagaus, tagein, bis an das bittere Ende ihrer zweifelhaften Identität.
Sei riss sich los aus ihren Phantasien – typisch diese Gedankenakrobatik! Das Gehirn gehörte also auch noch ihrem alten Ich. Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen und sie sah, dass auch ihr Gegenüber grinste. Die Augen blitzten für einen Moment auf.
Das kam ihr irgendwie vertraut vor. Etwas beruhigt wandte sie sich ab und ging in die Küche, um sich ihren Tee zu kochen.
Abwarten. Vielleicht hatte sie ja auch nur mal wieder einen schlechten Tag erwischt. Hormonelle Schwankungen oder so. Jedenfalls schien sie in gewissem Sinne am Leben zu sein, auch wenn sie sich gerade nicht spürte. Und wenn schon: ganz schlecht sah diese Frau auch nicht aus.

huesera 11/99
 

Empi

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Hallo huesera,

deine geschichte finde ich zwar interessant, allerdings fehlt ihr die spannung; man fühlt sich nach der (etwas zu ausführlichen) selbstbeschreibung am anfnag nicht unbedingt geneigt, weiterzulesen, aber da die geschichte kurz ist...

die beschreibungen sind zwar schön, aber es mangelt eben, wie gesagt, an der spannung. man wartet, dass etwas passiert, aber dann dreht sie sich einfach weg. mir ist nicht ganz klar, warum sich die frau so fremd vorkommt.

Empi
 



 
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