Sprachlos

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Robin Varcoe

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Sprachlos

Als er durch die offene Schiebetür zum Garten die Stimmen der Frau, des Sohnes und des Uniformierten im Haus hörte, wusste er, es hatte etwas mit den Ereignissen der vorherigen Nacht zu tun. Grill anschmeißen und Klappe halten, dachte er und schämte sich, als er nach der Holzkohletüte griff.
Wenn sie nur etwas leiser reden würden, sagte er zu sich selbst und schüttelte die unebenen, schwarzen Kohlen aus der Tüte, so dass sie wie ein herannahendes Sommergewitter auf den Grill fielen. Was werden die Nachbarn denken? So eine Scheiße!
Eine rote Flamme breitete sich über seinen Hals und sein Gesicht aus, und er zog leise die Schiebetür zu, die letzten Worte seiner Frau - „Wir sind hier nicht ausländerfeindlich“ - abschneidend.
Er hatte morgens im Lokalradio von dem Brandanschlag gehört und dachte sofort an den Jungen. Er wusste, der Sohn hatte etwas damit zu tun, hoffte, dies würde nicht der Fall sein, stellte sich aber die Leute vor, die es gut finden würden. Er kannte genug Leute, die so dachten. Jemand hatte gehandelt, endlich, würden sie sagen. Aber wenn es deren Junge wäre, der sich und die Familie in Bedrängnis gebracht hätte? So eine Scheiße.
Er erinnerte sich, wie der Junge im Wagen auf dem Weg zum Hobbymarkt sagte: „Guck mal, da sind noch welche.“
Sie hatten an der Ampel angehalten. Zwei Afrikaner, Mann und Frau, und drei Kinder, alle schwarz wie Kohle. Sie überquerten die Straße vor dem Wagen.
„Gib Gas. Schaff‘ sie einfach weg“, hatte der Junge gezischt, grinsend, fingerknackend.
Und er hatte das Steuer fester gegriffen, die Haut an seinen Fingerknöcheln weiß gedehnt. Hatte er gelächelt, als die Ampel auf Grün schaltete und der Wagen an der Familie vorbeiraste und der Junge mit dünner Burschenstimme aus dem offenen Autofenster „Ausländer raus!“ kreischte?
Nein, er hatte nicht gelächelt. „He, hör auf, nicht so laut“, hatte er den Jungen angefaucht. So eine Scheiße.

„Was machst du heute Abend?“, hatte die Frau gestern Abend wie jeden Abend zu dem Jungen gesagt, als sie den Tisch abräumte.
„Bin unterwegs“, erwiderte der Junge, „was dagegen?“
„Na, du weißt, was ich denke“, sagte sie, ließ den Blick auf das Geschirr in ihren Händen fallen und seufzte. Dann warf sie ihm, ihrem Mann, wie immer einen Blick zu, der ausdrückte, du bist der Vater, sag was, du bist Schuld dran.
„Pass auf… keinen Ärger“, hatte er dann zu dem Jungen gesagt, und der Junge lachte nur und erwiderte wie immer: „Du hast keine Ahnung.“
So redete er mit seinen Eltern. Und jetzt war der Ärger da. So eine Scheiße.
„Warum lässt du ihn so mit dir reden?“, sagte die Tochter, als sie sich vor dem kleinen Handspiegel unter der Tischlampe schminkte. Und dann zum Bruder: „Du bist bescheuert, weißt du!“
„Hure!“ fauchte er sie an.
Und dann fing die Frau an: „Rede nicht so mit deiner Schwester!“
Und die Tochter: „Nazischwein!“
Wie immer hatte er seinen Tabak genommen, war durch die Schiebetür auf die Terrasse geschlichen und hatte die Tür hinter sich zugezogen, wie immer. Traurig.

Vor einigen Tagen saß er mit den Nachbarn in der Kneipe und hörte zu.
„Das Boot ist voll“, hatte Hendricks gesagt. „Wirtschaftsflüchtlinge. Sozialschmarotzer. Die Stadt… die wollen noch ein Asylheim öffnen. Die haben sie nicht alle, hier.“ Hendricks tippte mit dem Zeigefinger an seine linke Schläfe.
Um den Tisch herum nickten die anderen Köpfe, große, runde, rote Köpfe. Die Kumpels. Jemand fluchte in sein Bier.
„Das wird man doch wohl sagen dürfen“, fügte jemand hinzu.
Er sah, wie Nachbar Pohl in die Runde schaute und den Kopf schüttelte, tat, als ob er etwas dagegen sagen wollte, sagte dann aber nichts.
Meier, der letztes Jahr den Schlaganfall hatte, sagte langsam: „Schlimm ist es. Ich hab‘ eigentlich nichts gegen Ausländer, aber…“ Er stockte und schluckte, und sie alle warteten, respektvoll, bis er den Redefluss wieder fand, aber es kam nichts mehr.
Er hätte etwas dazu sagen sollen, aber er fand die Worte nicht. Er fühlte sich – wie immer - wie ein Mann, der seine Stimme verloren hatte, der Gedanken hatte, aber seine Meinung nicht wusste, und absolut nichts ausdrücken konnte. Wie bei einer Sprachstörung. Wie bei Meier. Aber schlimmer. Viel schlimmer. Vielleicht sollte er wirklich zum Psychiater, wie die Frau manchmal in Rage zu ihm sagte: „Du brauchst einen Arzt!“ Aber er wollte nicht zum Arzt, lieber unbehandelt bleiben, hilflos abwarten, irgendwann würde er normal werden. Er nahm einen Schluck Bier, schaute ins Glas und hörte den anderen zu.
„Als ob ein Heim nicht genug ist“, hatte Böhme gerade gesagt. „Hast du gesehen, der Müll, da vorm Eingang? Und die Fliegen. Und der Gestank. Kaum zu glauben.“
„Die pinkeln und scheißen in die Büsche“, sagte Albers, und jemand lachte. Es war Ehlers Junge.
Albers drehte sich zu ihm. „Du lachst, junger Mann, aber wenn es vor eurem Haus wäre...“
„Ordnung muss sein“, hatte Hendricks gesagt. „Wir wollen kein neues Asylheim in unserer Stadt, oder?“

Er war derjenige, der den Jungen mit dem Uniformierten zur Wache begleiten musste. Er hörte die Schiebetür zum Garten sich öffnen und wieder schließen, und er wusste, die Frau stand hinter ihm auf der Terrasse. Zuerst dachte er, der Uniformierte wäre schon weg, und er wartete auf die Anschuldigungen der Frau. Es gab keinen Ausweg. Die kleine Terrasse führte zum Garten und der Garten war eingezäunt. Er hätte über den Zaun in den Nachbargarten klettern müssen, aber was würden die Nachbarn darüber denken? Er würde es aushalten müssen. Er beugte sich über den Grill und drehte eines der Fleischstücke. Es war auf einer Seite schon etwas verbrannt. So eine Scheiße. Das Fleisch zischte, und eine kleine Wolke und eine gelbe Flamme schossen hoch.
„Jetzt ist es passiert“, sagte die Frau. „Der Polizist will wissen, ob er einen Vater hat? Er sagte, Minderjährige sollten von einem Elternteil begleitet werden. Ich gehe nicht mit. Definitiv nicht. Du bist sein Vater.“
Er beugte seinen Kopf über den Grill und drehte die anderen Fleischstücke. Schwarze Ränder. Alle an den Rändern verbrannt. Das Fleisch zischte, und eine noch größere Wolke schoss hoch. Er hätte besser aufpassen müssen. So abgelenkt mit blöden Gedanken. So eine Scheiße.
Er fuhr im eigenen Wagen dem Jungen im Polizeiauto hinterher. Auf der Wache sagten sie ihm, er sollte bei der Vernehmung dabei sein. Er wollte den Kopf schütteln, nein sagen, aber ging doch mit. Er saß neben dem Jungen auf einem Plastikstuhl, während der Uniformierte hinter dem Tisch den Jungen fragte: „Wo und wie und mit wem?“ Wie der Junge zuckte, die Kumpels benannte und schluchzend sagte: „Das sollte doch nur ein Spaß sein.“ Er sah, wie der Uniformierte ihm immer wieder Blicke zuwarf, Blicke, die sagten, ich kann es nicht glauben, sagen Sie was, Sie sind der Vater. So eine Scheiße.
Irgendwann wurde das Wort ‚Jugendamt‘ erwähnt und irgendwann war Pause, und er war allein draußen vor der Wache eine rauchen gegangen.
Er fuhr langsam nach Hause, der Junge neben ihm, seine Schuhe auf dem Armaturenbrett, sein Kopf weggedreht, aus dem offenen Fenster schauend. Er wusste nicht, was er dem Jungen sagen sollte. Er dachte, ich bin schuld, ich hätte dich besser erziehen sollen. „Alles in Ordnung?“, murmelte er endlich.
„Klar“, kam die Stimme vom offenen Fenster.
Er schaltete runter, und sie bogen in eine kleinere Straße ein. „Hätte ich… was sagen … sollen?“, fragte er.
Der Junge schüttelte den Kopf: „Alles nur halb so wild“, sagte er mit zitternder Stimme. „Ich bin kein Kind meh.“

Er wachte auf und hörte das leise Grollen, so leise, er dachte zuerst, es wäre nichts. Es war so heiß, so schwül. Kaum Luft im Zimmer. Stickig war das richtige Wort. Ein leises Schnarchen kam von seiner Frau. Er hörte genau hin. Er konnte das leise Klappern eines Güterzugs von der fernen Bahnlinie hören, die kleine Stadt war so still. Er schob das Bettzeug weg, drehte sich um und versuchte wieder zu schlafen. Dann hörte er es. Ein Knurren, weit weg, aber unmissverständlich. Es war schon lauter, näher. Jetzt konnte er nicht mehr einschlafen.
„So weit ist es jetzt gekommen“, hatte die Frau vorher im Badezimmer gesagt und meinte, er wäre schuld. Er hätte es in dem Moment zugeben können, aber der Mund war voll mit Zahnpasta, und er konnte nichts sagen.
Er dachte an die Wache, an die Blicke des Uniformierten. Dann an den Jungen auf dem Weg nach Hause. Er hätte im Wagen seinen Sohn in die Arme nehmen sollen, aber er musste beide Hände am Lenkrad halten. Als sie vor der Haustür standen, hatte er es irgendwie geschafft, ihm kurz die Hand auf die Schulter zu legen.
Dann sah er den ersten Blitz, obwohl die Augen zu waren. Er öffnete die Augen und wartete und zählte, die Sekunden zwischen Blitz und dem nächsten Donnerschlag. Fünfzehn, sechzehn, siebz…siebzehn war es. Sollte man jetzt die Zahl durch zwei oder drei teilen, um zu wissen, wie viele Kilometer das Gewitter weg war? Wieder ein Blitz, heller, näher. Eins, zwei, drei… Er dachte plötzlich an die Katze draußen. Er sollte sie unbedingt reinholen, bevor der Regen anfing. Sie würde Angst haben und total nass werden. Zwölf, dreizehn… Dann der nächste Schlag. Durch das offene Fenster zum Garten hörte er einen Windstoß in den Sträuchern, und die ersten Tropfen Regen prasselten auf die Terrasse. Er stand auf.
Die Frau bewegte sich und murmelte: „Was ist?“
„Die Katze“, sagte er. „Es regnet. Gewitter. Muss sie reinholen.“
Die Frau seufzte: „Weißt du, wie viel Uhr es ist? Bist du verrückt? Du weckst mich auf wegen der Katze? Lass es.“ Die Frau hörte sich verärgert an, wie immer. So eine Scheiße.
Das ganze Schlafzimmer wurde für einen kurzen Augenblick in ein helles, grelles Licht getaucht. Eins, zwei, drei… Du, du arme Katze, ich hole dich, sagte er zu sich.

Ein plötzliches Schweigen, als er mittags die Kneipe betrat, nicht wissend, wohin er gucken sollte. Er nahm den einzigen leeren Platz neben Hendricks.
„Bring dem Mann ein Bier“, sagte Nachbar Pohl und brach das Schweigen.
Er sah sich am Tisch um. Die Kumpels nickten verlegen oder vermieden seinen Blick. Hendricks klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte in sein Ohr: „Kannst stolz auf deinen Sohn sein.“
„Weiß nicht“, murmelte er zurück.
Pohl schüttelte den Kopf. „Du gehst viel zu weit“, sagte Pohl, und meinte Hendricks. „Sein Junge hat wirklich Glück, dass niemand verletzt wurde.“
„Ja, wirklich Glück gehabt. Gehst zu weit, Hendricks.“ Er hörte seine eigene Stimme.
Er sah, wie Hendricks etwas verblüfft schien und ruhig wurde, wie Hendricks die Gesichter der anderen Kumpel suchte, und wie sie alle seinen Blick mieden, sogar Albers, sogar Böhme. Hendricks zuckte die Achseln: „Ihr habt keine Ahnung“, zischte er.
Sein Bier kam.
„Also, wer gewinnt heut?“, fragte jemand aus der Runde. Er wusste zuerst nicht, was gemeint war. Dann erinnerte er sich. Freitagabend. Erste Runde DFB-Pokal. Er hatte es total vergessen.

Auf dem Weg zurück nach Hause begleitete ihn Pohl. „Gut gemacht“, sagte Pohl, und klopfte ihm auf die Schulter. Dann fing Pohl an Sachen zu sagen, die er von ihm nie zuvor gehört hatte – eine Menge von Wörtern – über Nazis, über das Schweigen, und über die Mitte der Gesellschaft.
„Alles bricht auseinander, wenn die Mitte nicht mehr hält“, sagte Pohl.
Er glaubte zu verstehen, was gemeint war.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Robin Varcoe, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine sehr nachdenklich machende Geschichte. Ich muss sie erstmal sacken lassen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
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