Spuren

tintenfisch

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Bernds Äußeres verriet denen, die ihn erblickten, dass er kein Leben als erfolgreicher Abteilungsleiter oder Banker führte. Allerdings waren jene schwer zu finden, seit er beschlossen hatte, seine Wohnung von nun an ausschließlich zu besonderen Anlässen zu verlassen. So war er also in letzterer Zeit nur noch vor die Türe getreten, falls sein Vorrat an Tiefkühlpizzen oder Norma-Bier zur Neige ging oder wenn sogar ihm die Anhäufungen von Müll, welcher sich in seiner Wohnung türmte, zu viel geworden waren.
Er presste mich fest an sich. Inständig hoffend, dass ihn kein neuerlicher Tränenausbruch heimsuchte, versuchte ich eine Tiefe Inhalation seines Körpergeruchs weitgehend zu vermeiden, was natürlich zum Scheitern verurteilt war, da meine Lungenflügel auf irgendeine Weise mit Luft versorgt werden mussten. Aber anscheinend war der Quell seiner Tränen für heute versiegt. Nur noch Schluchzen und Zittern. Seit 5 Jahren Schluchzen und Zittern. Damals hatte Bernd – ich erinnere mich genau – an einem lauen Juniabend, als die Sommerluft leicht, ohne Ankündigung des kommenden Martyriums durch die kopfsteingepflasterten Gassen der mittelalterlichen Innenstadt wehte, mich auf dem monatlich stattfindenden Flohmarkt entdeckt, wie ich auf einer einer Decke saß. Neben mir lauter Gerümpel, wertloser Müll. Seit damals war ich die einzige Frau, die Bernd mit in sein Bett genommen hatte, was meine Brust nicht eben vor Stolz schwellen lässt. Aber heute war etwas anders. Heute war, muss ich fast behaupten, ein ganz besonderer Tag, ja vielleicht sogar ein Feiertag. Den anders als gewöhnlich um diese späte Stunde lag Bernd heute nicht auf seinem alten fettfleckigen Sofa. Er hatte heute sogar den ganzen Tag, wenn man einmal vom Frühstück absah, auf sein sonst so alltägliches Bier verzichtet, als ob sich in ihm das letzte bisschen Würde, falls er so etwas je besessen hatte, zur Revolution formierte. Doch dass diese Revolution gegen das würdelose Dahinvegetieren zwischen Bier, Chips und Fernseher in einen Akt der Selbstzerstörung münden würde, hatte ich Bernd bis zu jenem Moment, als wir die Brücke erreichten, nicht zugetraut. Es war eine alte, ehrwürdige, steinerne Brücke passend zur Innenstadt, die wir eben durchquert hatten. Diese Brücke war ganz anders als Bernd, dennoch schien sie ihn fast wie magisch anzuziehen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit, ja fast anmutig – wenn man einmal von dem Ächzen absah – erklomm Bernd die steinerne Begrenzung der Brücke direkt neben einigen Brückenheiligen, die das Schauspiel mit unbeweglichen Mienen betrachteten. Dort stand er nun dick und allein. Ein einsamer Wolf ohne Zähne. Ein hässliches Schaf. Er stand einfach dort. Wankend. Und wäre ich nicht in der misslichen Situation gewesen, mit Bernd dort oben zu stehen und auf das Wasser, das nicht allzu weit unter uns rasch dahinströmte, wobei in den Stromschnellen weiße Schaumkrönchen tanzten, hinabzublicken, so hätte ich den Anblick wahrscheinlich komisch, sicherlich aber grotesk gefunden.
Dann ganz plötzlich presst er mich zum Abschied ein letztes Mal an sich. Wir fliegen, segeln durch die Nacht. Von außen betrachtet sieht das Ganze wohl völlig unspektakulär aus, aber in mir überschlagen sich die Gedanken. Ich will nicht fallen. Ich war immer sehr liberal. Ich vertrete sogar die Auffassung, dass, wer sterben will, sterben soll. Nennen sie mir einen vernünftigen Grund, warum nicht. Depressionen? Eine neue Volkskrankheit. Lecken sie mich damit am Arsch. Wer sterben will, soll sterben. Am besten sauber und schnell. Sonst versaut er hier die ganze Stimmung. Wer nicht feiern will, hat auf einer Party nichts verloren. Ein Partymuffel versaut jedes Fest. Aber ich will nicht sterben. Bernd hat mich nie gefragt, immer nur geflennt. Nun reißt mein Geduldsfaden.5 Jahre Ekel für eine Sekunde Hass. Er lodert bis wir aufschlagen. Das Wasser verschluckt uns dumpf, man hört nur ein Pflatschen, das Wasser spritzt zur Seite und von dem Ort, wo wir eben noch waren, wo wir das Wasser erreichten, gehen kreisförmig kleine Wellen aus. Sonst bleiben von uns keine Spuren.
Am Anfang ist da ein Gedanke, klein und hinten im Kopf, doch dieser kleine Gedanke beweist mir, dass ich noch lebe und ebendieser Beweis weckt in mir neues Leben, neue Kraft. Der Gedanke ist ein Samen der auf fruchtbare Erde fällt. Er sagt: Luft. Und ich kämpfe, füge mich nicht in mein Schicksal, wehre mich, bestehe darauf, dass jetzt, hier und heute nicht alles endet. Getrieben von der Empörung über ein zu kurzes Leben, befreie ich mich aus der Urgewalt des Wassers, gelange an die Oberfläche und atme.
Ich treibe. Bin weit weg. Merke gar nicht, was geschieht. Eine Welle schwemmt mich ans Ufer. Ich bleibe zwischen Steinen hängen, liege im Schlamm. Es ist hell als ich das nächste Mal aufwache. Höre Stimmen, Schritte. Ein kleines Mädchen, das Gesicht von goldenen Locken umrahmt, in weiß-geblümten Kleid, die Augen strahlend blau, schwebt engelsgleich den Abhang zum Ufer hinab. Es beugt sich herab, nimmt mich auf, presst mich fest an seine Brust. Ich bin daheim. Keifend kommt die Mutter. Schreit, reißt mich aus den Armen des Mädchens. Wirft mich weg. Ich liege wieder im Schlamm. Das Mädchen steht da, weint. Die Mutter schreit. Aber auf dem Kleid bleibt ein Abdruck, schmutzig und braun.
 
K

KaGeb

Gast
Hallo tintenfisch,

herzlich willkommen auf der LeLu, dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn =)
Viel Spass hier.

LG
 



 
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