Spurenelemente

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murmeltier

Mitglied
An diesem einen Morgen hätten
wir eher aufbrechen sollen
weil die Energie nachläßt
sich verliert zwischen Sonnenaufgang und Dämmerung
der fressende Krebs sitzt
überall dort, wo er sich
verstecken will, um unerkannt
zu überleben und dem Endziel
des Knockenmarks entgegenkriecht
Jammern kann jeder
um darin sein Heil zu suchen
und sich einzureden, daß es so ist
wie man es haben will
bequeme Sicht, um die Augen
nicht zu ermüden, die
geschlossen kurzsichtig werden
mangels Licht und mangels Dunkelheit
soll das Entstehen von Kontrasten
verhindert werden
Kontraste lassen sich nicht unter den Tisch
fegen, weil sie als Kontraste keine andere
Aufgabe haben, als zu sein
Man kann ihnen begegnen, wenn man
Lust hat, Leute zu treffen, die nur
schwarz oder weiß sein wollen, weil sie
immer die Grauzonen nicht wahrhaben wollen und
die vielen verschiedenen Punkte nicht erkennen
Da gibt´s immerhin die Möglichkeit,
vom Tod weg zur Geburt hin zu
leben, weil das Leben zu unantastbar
ist, um mit ihm zu spielen, und zu
kurz und ungewiß, um in verbortem
Ernst zu verzweifeln und die Wiederholungen
zu sehen, wie die Tür das Fenster fickt und
Mauern entstehen, die die Öffnungen
deutlicher werden lassen
ich ging durch die Tür, bevor mich
jemand durch sie hindurch erschießen
konnte und trug den Fensterrahmen um den Hals
die Scherbenreste konnten nicht mehr
viel Schmerz verursachen, weil ich
- zum geduldigen Ertragen des
Schmerzes erzogen - nicht mehr viel
spürte und meine verletzbare Haut keine
Haut mehr war, weil man mir ein dickes Fell
über die Ohren gezogen hatte
eiternde Ohren beim Hören der Nachrichten
(Nachrichten entsprechend an-
richten und Menschen
abrichten, die die so zugerichtete
Wahrheit fressen wie Körner aus
der Faust, die das Aufrichten
verhindert und das Land so zu-
richtet, wie es an jeder Rundfunk-
station aus-gerichtet wird)
beim Fernsehen tränen mir die Augen, weil
ich mir zuviel von dem ansehe, was man mir
vormacht und mich zum Gebührenzahler und
Lohnempfänger macht, der immer am
Befehlsempfänger hängt
man kämpft nicht mit seinen Feinden,
man kämpft mit seinen Tränen
und schlägt sich dann zur Lebensauffassung
des krampfhaften Lachens durch, weil man
so oft durch die Stadt geht, wo andere
Tränen sehen könnten
Tu ihnen einmal Gutes und dann
zwinge sie zu einem Verbrechen und
dann tu ihnen wieder einmal Gutes und
zwinge sie wieder zu Verbrechen und tu
wieder ein bißchen Gutes und zwinge sie
weiterhin zu Verbrechen an der Menschheit
Liebe
Eigenverantwortung
Freiheit
und immer so weiter, da dann die
Grenzen zwischen Leben und Morden
verwischt werden, weil eigene Entscheidung
abgewöhnt wurde,
man hat sich seiner selbst entledigt
verkauft für Versprechungen vorm nächsten
Mord, den keiner begangen hat
es ist eben so passiert, ohne daß wir
das wollten, und wir haben doch
nichts getan

(20. 3. 82)
 
I

inken

Gast
wow!

Welch eine Wucht hinter den Worten!
Welche Auswahl von Themen in ein Gedicht gebracht.
Angefangen vom Krebs, der unerkannt überleben will, bis zur Tür, die das Fenster fickt und dann auch noch der Fensterrahmen um deinen Hals - klasse, dafür gibts ein "perfekt" von mir.

Liebe grüße Inken
 



 
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