Spurlos

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JennyP.

Mitglied
Spurlos

Ich erinnere mich kaum mehr daran, wie wir uns kennen lernten. Es war irgendwann in der Schule. Sie war eine leichte Außenseiterin. Nicht, weil sie dumm oder übermäßig hässlich war. Sie passte einfach nicht in das Bild unserer Klasse. Ihr voluminöser Busen und ihr markantes Gesicht waren in ihrem Leben stets ein Hindernis.
Ich war ihre Freundin. Ich verstand sie und ich respektierte sie. Auf anderer Kritik und Kommentare gab ich nicht viel. Wir waren Freundinnen.
Es war unglaublich, welch Tatendrang wir entwickeln konnten um uns die Zeit zu vertreiben und unserer Umwelt etwas beweisen wollten. Das Einstudieren einer Choreographie und die gesangliche Abstimmung war wenig problematisch. Hindernisse stellten sich uns erst in den Weg, als wir unsere Performance vor Publikum vortragen sollten.
Auch audio-visuell ließen wir unserem schöpferischen Einfallsreichtum keine Grenzen. Drei Stunden geballte Mädchen-Power auf einer Video-Kassette konnten sich schon sehen lassen. Angefangen mit dem modernen Kasperletheater (In den Hauptrollen: Poldi der Zahnlose Drache, Rumburack der schwarze Rabe, Muuh die weiße Milchkuh, nicht zu vergessen Barbie), kommerzielles Marketing (in Form von Hundefutter-Werbung: „Froot Loops für Vierbeiner“), über spannende und actionreiche Spielfilme (Homevideo presents: „Barbie auf dem Planeten Korsch“ oder „Weihnachtszeit im Schlumpfenwald“), bis hin zu fesselnden Horrorstreifen (proudly presents: „Messermord durch Schattenkampf“ und „Ketchup mit Biss“), gab es nichts, was wir nicht umsetzen konnten.
Egal wie schief und locker die Kamera auf dem Stativ stand. Ob nun ein Kopf oder zwei fehlten, war eher Nebensache. Conny in den Ausschnitt zu starren, taten sowieso alle viel lieber.
Mit einer Familienpackung Popcorn war dieses Meisterwerk mit viel Humor gut anzuschauen. Je mehr Zeit vergangen war, umso besser wurde unser Streifen. Ohne ein vor Lachen schmerzverzerrtes Gesicht konnte niemand mehr den Raum verlassen.
Ich übernachtete oft bei ihr. Immer wieder wollte sie mich bei sich haben. Es war jedes Mal ein Spaß für mich, wenn sie sagte, „ich habe für dich extra mein Zimmer aufgeräumt“.
Ich konnte stets erahnen, was mich erwartete, wenn ich die Tür zu ihrem Gemäuer öffnete.
Das Fenster war geschlossen und die Jalousie heruntergezogen. Und doch war es nicht dunkel genug, dass ich das Chaos nicht erkennen konnte.
Ohne Pantoffel, war ihr Zimmer nicht zu betreten. Lauter Sägespäne von ihrer Wüstenmaus, kleine Figuren aus Überraschungseiern und Essensreste mit und ohne Teller, bei denen das Verhaltsdatum seit Monaten abgelaufen war lag auf dem Teppich verstreut. Ihr großer lederner Sessel war nicht aufzufinden. Scheinbar schwebend hing ein riesiger Berg schmutziger Wäsche in der Luft. Das Bett, direkt daneben, war bezogen und glattgestrichen. Trügerisch. Darunter befand sich all das, was sich in kürzester Zeit schlecht entfernen lies.
Ich betrat ihr Zimmer mit einem lächeln, aber es erleichterte mich, es wieder zu verlassen.
Ihre Familie war liebevoll, nett und im allgemeinen durchschnittlich. Eine kräftig gebaute Mutter mit dem Sinn für das Herzhafte und einem drahtigen Vater mit einem Diplom und der Lust des Bergsteigens. Sie hatte ebenfalls zwei ältere Schwestern. Beide liiert, bei denen die Kinder schon unterwegs waren. Conny war das Nesthäkchen.
Wir lernten gemeinsam für die Schule. Ich half ihr und sie half mir. Wir wurden beide die Besten in der Klasse und ich somit zum Außenseiter.
Wieder holte sie die Vergangenheit ein, in der sie zuvor ein Außenseiter war. Conny wurde krank, immer wieder fehlte sie in der Schule und kapselte sich von mir ab. Ihr Aussehen veränderte sich ins Negative. Sie trug schwarz, nur noch schwarz und ließ sich ein Piercing in die Augenbraue stechen. Ihre Leistungen ließen nach und ihr Wille zerbrach.
Seit dem sind einige Jahre vergangen.
Ich bin im Moment dabei, mein Abitur zu machen. Als Nebenjob arbeite ich bei Veranstaltungen als Kellnerin und Barkeeperin. Ich habe meinen Führerschein gemacht und möchte Publizistik in Berlin studieren. An meinen freien Wochenenden, schreibe ich, oder suche meine Geschichten auf der Strasse. Ich finde sie in Bars, in Discotheken und in meinem Freundeskreis.
Conny. Wo sie nun ist, weiß ich nicht. Sie scheint in ihrem Leben nicht voran gekommen zu sein.
Ihre Mutter rief mich an, „sie ist weg, spurlos verschwunden, ohne Abschied. Niemand weiß, wo sie hin ist.“
Ich verstand nicht. Weg?
All die Jahre dachte ich, ich hätte sie verstanden.
Ihre Mutter nahm mich ins Verhör, „hatte sie einen Freund? Hatte sie Probleme? Hatte sie Geldschulden? War sie schwanger? Nahm sie Drogen?“
Nicht eine dieser Fragen konnte ich beantworten. Und das war es nun. Die Freundin, die ich dachte zu kennen, war spurlos verschwunden, vielleicht schon nicht mehr am Leben und ich wusste nichts über sie. Ich habe sie nie wirklich kennen gelernt. Alles was ich von ihr erfahren habe war oberflächlich und unwichtig gewesen. Es hatte keine Bedeutung mehr, denn ich war nicht in der Lage gewesen, in sie hineinzublicken und ihr zu helfen.
 
D

damaskus

Gast
Hmmm ... das ist es. Damaskus hat es gewusst. Er war auf der Suche und wurde fündig: Ein Jenny Text, der mir von hinten bis vorne gefallen hat. Bin ja so stolz, eine Kritik für dich schreiben zu dürfen *schleim*
Aber im Ernst, die Geschichte hat Potential und Tiefgang. Da sind ein paar Allgemeinsätze drin, manche Stellen wirken ein bisschen abgehackt ("Ich war ihre Freundin.") Das steht irgendwie so plump und unbeholfen drin, scheinbar nutzlos implantiert, aber das ist nicht so schlimm. Die Geschichte sollte vielleicht ein bisschen abgerundet werden, aber insgesamt ein Text aus dem eigenen Erfahrungsbereich, der rundum verständlich ist (was meiner Erfahrung nach so gut wie nie der Fall ist bei persönlichen Aufschrieben) und schön zu lesen ist er auch, *freu*

Grüßle
Damaskus
 

visco

Mitglied
Hallo JennyP.!

Auch mir gefällt Deine Geschichte richtig gut - zumindest bis »Ihre Leistungen ließen nach [..]«. Die Aussage, daß Connys Wille gebrochen sei, erscheint mir dann aber nicht schlüssig, ebenso die geäußerte Vermutung, Conny sei in ihrem Leben nicht voran gekommen. Beides würde ich weglassen.

Auch mit dem Schluß habe ich - zumindest in dieser Form - so meine Probleme. Die Gewissensbisse, welche die Ich-Erzählerin nach Connys Verschwinden zu haben scheint (»[..] ich war nicht in der Lage gewesen, [..] ihr zu helfen.«), erscheinen wenig plausibel, denn ihre Freundschaft liegt doch inzwischen einige Jahre zurück (»Seit dem sind einige Jahre vergangen.«), und es ist wohl anzunehmen, daß beide schon lange keinen Kontakt mehr hatten (»Conny [..] kapselte sich von mir ab.«).
[ 6]Conny hat sich durch ihre Veränderung immer mehr von ihrer vormaligen Freundin entfremdet. Da wirkt es auf mich einfach unglaubwürdig, wenn diese viel später behauptet: »All die Jahre dachte ich, ich hätte sie verstanden.«. Das kann sie unmöglich annehmen, wenn sie die (für sie abstoßende) Entwicklung ihrer Freundin schon nicht nachvollziehen konnte.
[ 6]Wirklich vermißt habe ich die ganz natürliche Sorge, Conny könne etwas zugestoßen sein. Durch das eher beiläufige »vielleicht schon nicht mehr am Leben« kommt mir das einfach zu kurz. Die Ich-Erzählerin scheint Connys Verschwinden statt dessen sofort und ausschließlich auf deren Lebenswandel zurückzuführen, und das wirkt auf mich mangels dafür nötiger Hinweise oder Andeutungen (z.B. Gerüchte) wenig überzeugend.
[ 6]Der an sich selbst gerichtete Vorwurf, sie hätte Conny eine bessere Freundin sein und damit vielleicht verhindern können, was unter Umständen absehbar war, wäre grundsätzlich ein prima Schluß, aber in dieser Form bleibt mir das einfach zu undeutlich. Schwarze Klamotten und ein Piercing sind zuwenig, um etwas anderes zu vermuten als das Naheliegenste, nämlich daß Conny das Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.

Mein Vorschlag:
Liefere ein paar Anhaltspunkte, die die Gewissensbisse der Ich-Erzählerin rechtfertigten.

Viele Grüße,
[ 6]Viktoria
 
D

damaskus

Gast
Hmmm ... Viktoria, du hast dich wirklich mit dem Text auseinandergesetzt, in manchen Punkten stimme ich mit dir überein. Aber ich denke, es verleiht dem Text an Würze, dass sie das Ende offen lässt. Das es undeutlich ist, Jenny hätte auch schreiben können: "Nach ein paar Jahren fand ich raus, dass sie gestorben ist" oder sonst einen Schwachsinn. Aber das offene Ende lässt mehr Raum für eigene Gedanken. Für Menschen, denen vielleicht ähnliches passiert ist.
Dem kurzen Text hätte es unnötige Fülle gegeben, wenn sie weiter ausgeschweift wäre und dargestellt hätte, dass der Verlust von Conny ihr was-weiß-ich-wie-viele Schmerzen bereitet hätte. Der Text lässt viel offen und ich finde, genau das sind seine Stärken. Aber das ist nur meine Ansicht. Irgendwie kann ich deine Meinung auch verstehen.

Liebe Grüße
Damaskus
 



 
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