Stadt, Fortsetzung, kein Ende

Bartleby

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Stadt, Fortsetzung, kein Ende

1.
Ich wohne schon immer in diesem Haus, in dieser Stadt, die mich nicht entkommen läßt. Denn wenn ich durch den Schlaf ihr zu entkommen glaube, fällt sie in Bildern über mich her und baut ihre Gebäude in meinen Träumen auf. Sie entwirft über meine Seele den Plan ihrer Ewigkeit und ihre Bewohner verlangen Unsterblichkeit durch mich, ein wenig davon.
Draußen kann die Stadt auch sehr schön sein, im Licht der Sonne vielleicht, die durch das große gläserne Hochhaus scheint, das seine Wände nur im Inneren hat und in dem meine Liebe der Traumstadt wohnt, in der anderen nicht. Ich wohne in beiden Städten, ich irre zwischen ihnen hin und her und manchmal spielt eine der beiden Städte mir einen Streich, läßt mich vollständig allein in den Häuserschluchten und Musik erklingt aus dem Stadtzentrum, wo eine Göttin sitz, Fleisch und Seelen fressend. Schön und das Verlangen erweckend ihre Stimme.
Ich baue eine Mauer um mich, aus Büchern und tausend und tausend Papieren, beschriftet und bekritzelt, die auch nicht für jemanden bestimmt sind, denn sie ordnen nur das, was nicht mehr zu ordnen ist. Wenn sie mich hier raustragen, dann werden sie das massive Konvolut sehen, vielleicht wird es jemand ordnen, vielleicht lesen, vielleicht werden sie alles verbrennen. Dieser Gedanke schmerzt. Ich will es verfügen: das Haus soll dem geschenkt werden, der diese Seiten bewahrt, in diesen beiden Zimmern, die ich noch in diesem Haus bewohne. Das Haus selbst ist völlig intakt, die Wände trocken, Leitungen, die elektrischen und die wasserleitenden. Die Heizungen sind gerade so warm, daß sie die Feuchtigkeit abhalten. In dieser Stadt ist alles feucht und alles fault vor sich hin, alles verfällt und in den Nächten sieht und spürt man einen sanften grünen Schimmer, der von den mit Pilz befallenen Häusern entweicht. Es riecht nach Moder. Ich bin nicht wohlhabend, aber mein Haus halte ich instand so gut es geht.

2.
Manchmal ist mein Haus ein großer Berg. Auf der Spitze des Berges ist eine kleine Höhle mit zwei Zimmern und eine lange Treppe durch den Berg führt dort hinauf. Vorbei an den Gesellschaftsräumen, der Küche und dem Salon, bis hinauf zur Bibliothek, in der ich nun wohne. Der wärmste Raum, daneben die kleine Kammer, in der mein Bett steht.
Der Ort ist immer dunkel. Im Schatten der Industrieanlagen und der Hochhäuser im Zentrum der Stadt liegt der kleine Stadtteil, immer versteckt vor der Sonne, so sie denn noch scheint.
Aus dieser Stadt gibt es für mich keinen Ausweg. Für viele ist diese Stadt die Wiege und der Sarg. Mein Haus steht in einer Gegend, die eher wenig bewohnt ist. In meiner Kindheit gab es hier viele alte Leute, die langsam wegstarben. An Altersschwäche. Dann zogen jüngere in die Wohnungen und die starben schneller. Bis nur noch ein paar Heimatlose und Anspruchslose hierher zogen. Die ganze Gegend steht unter einem stillen Dunstschleier, der die Geräusche einfängt und verdaut.
Mein Haus ist das gesündeste hier an diesem Ort. Die anderen sehen krank aus. Wenn sie des Nachts atmen, schnarren ihre Innereien und ihre Wände atmen sind fleckig, fiebrig und blaß. Sie sterben vor sich hin. In ihnen wohnen die Menschen, krank und blaß.
Wenn ich allein hier oben sitzen, dann höre ich mich denken, mein Haus ruhig und gleichmäßig atmen, die Ordnung im Gemäuer, ich in meinem Haus. Ein tiefes Surren, das von der Autobahn herüberweht und die leise pfeifenden Geräusche der neuen Industrieanlagen verleihen allem eine gewisse Ordnung, eine manchmal irre Beruhigung, eine oft genug bohrende Atmosphäre von heimatlicher Störung.
Seit einigen Nächten aber scheint es mir, als dringen neue, ungeordnete Geräusche aus dem Keller meines Hauses.
Es scheint mir, als verschaffe sich etwas aus dem Keller Gehör. Aber in einer Sprache, die ich nicht verstehe. In mir regt sich Unruhe, weil sich mir von sehr weit unten her Bilder mitteilen, die ich mir selbst nicht beschreiben kann. Etwas ist dort unten, es begehrt danach, gehört zu werden, aber ich kann es selbst nicht erfassen. Das Geräusch entzieht sich dem sprachlich Faßbaren, es entzieht sich den Gedanken und

3.
Ich unternehme eine lange Suche in die Tiefen meines Hauses. Vor der Tür des ehemaligen Wohnzimmers muß ich anhalten. Ich denke an Zeiten zurück. Da war die Tür abgeschlossen und hinter der Tür ging etwas vor. Ich hörte ein Geräusch, wollte nachsehen, was dort vorging, wer dort atmete und wer dort Musik hörte. Meine Eltern waren nicht im Hause, der Diener hatte Ausgang. Sollten es Einbrecher sein? Aber wie hätten sie ins Haus gelangen sollen, lag das Wohnzimmer doch im ersten Stock, die Fenster von schweren Eisengittern geschützt? Ich floh in mein Zimmer und versteckte mich. Wenn es durch die Tür kommen sollte, aus dem Wohnzimmer ausbrechen sollte? Wenn es durch die Wände fließen sollte?
Die Eltern kamen spät zurück, fanden mich in meinem Versteck. Voller Angst erzählte ich dem Vater von den Geräuschen hinter der Tür. Zusammen sahen wir nach, fanden aber nichts. Wir erhellten das ganze Haus, bis in den Keller und bis auf den Dachboden hinauf. Nichts war zu finden, keine Spuren von Einbrechern oder etwas anderem. Wohl um mich zu beruhigen durchsuchten der Vater und der Diener am nächsten Tag auch den Garten und den Schuppen.
Es war nichts zu finden. Man ließ das Wohnzimmer künftig unabgeschlossen. Ich hatte fortan immer Angst vor dem Wohnzimmer.
Am Weihnachtsabend dann war das Wohnzimmer wieder verschlossen. Voller Vorfreude lief ich aus meinem Zimmer zu der Tür und wollte sie öffnen, alle Angst vergessend durch die Erwartung auf das Fest. Ich prallte gegen die Tür und die Angst vor dem Geheimnis km wieder in mir auf. Die Tür öffnete sich und der Diener ließ mich ein. Das Zimmer war dunkel und nur der Weihnachtsbaum erhellte einen Teil. Ich zitterte aber. Die Mutter legte die Hand auf meine Schulter und suchte mich zu beruhigen.
Ich wollte mich von den Lichtern des Weihnachtsbaums verzaubern und beruhigen lassen, aber ich suchte mit den Augen alle dunklen Ecken des Raumes ab, erwartete etwas zu sehen. Der Vater und die Mutter dachten wohl, daß ich meine Geschenke suchen möge. Doch man beharrte auf das Ritual. Das Gedicht, das Lied, das Gebet. So wie es die Tradition vererbt hatte und wie es eben ein von oben her einwirkendes Gesetzt war, das ganze Fest reglementierend.
Ich stotterte meine gelernten Worte und suchte mit meinen Blicken etwas in den Schatten. Etwas, das dort zwischen den Möbeln kauerte und geduckt auf etwas wartete, auf unsere Abwesenheit vielleicht. Ich meinte ein Wesen zu sehen, das sein Gesicht verbarg, dann den Kopf drehte, um mich anzusehen, in nebeligen Blicken und mit voller Mißachtung für die Form des Lebens, die wir pflegten. Kein Angriff erwartete uns aus der Schattenecke, aber ein feindliches Zischen von gebannten Worten. Ich wollte fliehen, mich verstecken, doch ich wollte auch nachgeben und mich, nachdem die Tradition gewirkt hatte, mich ganz dem Rausch des Beschenktwerdens hingeben, mich in der Freunde verlieren, die immer nur kurz anhielt, aber jedes Ritual duldete, wenn es denn nicht zu lange dauern möge. Noch unterdrückte das Ritual meine Fluchttrieb und steigerte die Vorfreude.
Doch in den Schatten hinter den Schränken war es dunkel und von dort aus kam ein Geräusch. Mein Vater hatte es auch gehört, es lenkte ihn von seiner Rede ab, ließ ihn von furchtsam stottern und in die Richtung der Schränke starren. Abwesend sprach er seine Gebete weiter, gegen das leise Geräusch ansprechend, äußerlich unerschütterlich, aber innerlich fragend. Wir hatten keine Haustiere und sonst befand sich in dieser Ecke nichts. Zwei mächtige Schränke umstellten die Schatten der Ecke im Wohnzimmer und mochten wohl das in Verbannung halten, was sich dort befand. Ich konnte mich nicht mehr halten vor Angst. Mein Vater wandte seinen Blick ab, kämpfte sich selbst nieder und ließ sich in sein Gebet zurückfallen.
Dann löste sich ein Schatten aus der Ecke und wir hielten den Atem an, unfähig uns zu bewegen. Kein Schrei, nur ein leises Zittern. Der Schatten glitt durch die Dunkelheit des Raumes und war verschwunden.

4.
Ich denke wieder an dieses Ereignis. Ich stehe vor der Türe und weiß genau, daß alle Möbel mit Tüchern verhangen sind, starke Lichtquellen an der Decke sind, die jeden Schattenwurf zu unterdrücken suchen. Ich schloß die Tür auf und erhellte den ganzen Raum. Nichts war zusehen. Aber was für eine Handlung. Ich hatte nie wieder ein Geräusch aus diesem Raum gehört, nie wieder Musik oder sonst etwas verdächtiges.
Das Geräusch kam aus dem Keller, doch ich wollte mich nur beruhigen, als ich das Wohnzimmer kontrollierte.
Nun stehe ich vor der Kellertür und höre auf das Geräusch. Ich habe meine Schlüssel für den Keller oben liegen lassen. Der außen angebrachte Lichtschalter scheint nicht mehr zu funktionieren, die Wand ist feucht. Es dringt ein Geruch von Feuchtigkeit aus dem Keller. Ein Wasserrohrbruch im Hause? Woran aber erkennt man eine solche Hauskrankheit, die aus der Tiefe kommt und das ganze Haus in Mitleidenschaft zieht? Ich kann nichts ausrichten heute nacht. Ich werde wieder nach oben gehen und das Geräusch nicht hören. Ich will es nicht hören, denn ich kann es nicht zuordnen. Was mag es sein? Seine Sprache ist mir unbekannt.
Ich kann nicht verstehen, was dort unten für Kräfte an meinem Haus zehren und es zersetzen wollen. Ich werde jemanden rufen müssen, der sich mit dem Unterbau auskennt und mir die Geräusche erklären kann, von denen aus die Krankheit wohl kommt, die mein Haus zersetzt.
Oben sitze ich in meinem Sessel und höre etwas. Ich kann nichts sagen, was es ist, aber es tönt aus mir heraus, von tief unten, vom Abgrund meiner Seele kommend. Was ist das für ein Ort, den ich nicht verstehe, dessen Sein ich durch meine Sprache nicht erfassen kann, weil er sich meiner Sprache entzieht? Was wirkt dort? Was zerfrißt das Gemäuer?
 



 
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