Stairway to Heaven

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Es würde nicht mehr lange dauern - und dass nun der richtige Zeitpunkt zum Abschiednehmen gekommen sei - das hatten die vom Krankenhaus zu ihr gesagt und dann hatten sie kurze Zeit später noch einmal angerufen und gesagt, dass er in ein Koma gefallen sei und dass sie sich kurzfristig dazu entschließen konnten, doch alles in ihrer Macht stehende für ihn zu tun. Alles... , aber was konnte das schon sein? Und außerdem war er doch selber Schuld daran. Seit seiner Jugend hatte Harry Alkohol getrunken und sie hatte mit ansehen müssen, wie es mit jedem Tag mehr geworden war. Zuerst hatte er nur Bier, dann Bier und Schnaps und schließlich nur noch Schnaps getrunken, und irgendwann wollte er nicht einmal mehr einen Kaffee vorweg, sondern gleich einen ordentlichen Schluck Korn und am Abend zuvor hatte er bereits Vorsorge getroffen, dass nach dem Aufwachen die nächste Flasche für ihn schon bereitstand.
Bei Familienfeiern, auf Schützenfesten, bei den traditionellen Grünkohl- und Spargelessen, die im Gemeindehaus stattfanden, auch bei diesen Gelegenheiten hatte Harry stets Schnaps getrunken und selbst das Bier, dass sie ihm wie jedem anderen neben den Teller stellten, hatte er zuletzt überhaupt nicht mehr angerührt.
Als sie jung gewesen waren, hatten ihn alle gemocht im Ort, ihren Bruder Harry, den patenten Kerl, der zu jedermann freundlich war und der überall mit anpackte, wo Hilfe benötigt wurde, und auch heute noch war er beliebt in Sommersbach und die Alteingesessenen begrüßten ihn mit seinem Vornamen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren, nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters, war er zum Alleinerben des Hofes geworden, auf dem ihre Eltern Viehzucht betrieben; Rinder- und Schweine hatten sie gehabt und Harry hatte das Schlachterhandwerk gelernt. Anfangs hatten sie noch auf dem Hof geschlachtet und jedermann im Dorf war vorbeigekommen, um ein Schwätzchen zu halten und ein paar Knappwürste zu bestellen und ihre, Annelieses, Aufgabe war es gewesen, das frische Schweineblut zu rühren, damit es flüssig blieb, bis man Wurst daraus machte. Die Schnapsflaschen hatten in einer Zinkwanne gelegen, gleich neben den Holztrögen mit den dampfenden Schweinehälften.
Sie war sechs Jahre älter als ihr Bruder und mit einundzwanzig Jahren ausgezogen aus ihrem Elternhaus, hatte geheiratet und Kinder bekommen. Drei Kilometer von Sommersbach entfernt, im Nachbarsort, hatte ihre Familie ein Reihenhaus gekauft. Vor zwei Jahren war ihr Ehemann Walter an einem Herzinfarkt gestorben, noch bevor ein Rettungswagen eintreffen konnte und nicht einmal ihren Kindern hatte sie gesagt, dass sie ihn insgeheim um seinen schnellen, unkomplizierten Tod beneidete. Mit etwa sechzig Jahren war sie dort angekommen, wo sich um sie herum, im Dorf, bei Bekannten und Verwandten, die Krankheit und das Leid auszubreiten begonnen hatten, die für das höhere Lebensalter so typisch waren. Plötzlich waren es Knie- und Hüftprobleme, Thrombosen, Gallenkoliken, Diabetes, grauer oder grüner Star, Schlaganfälle, Herzinfarkte, Krebs und Parkinson, über die sie sich unterhielten, wenn sie sich zum Kaffeekränzchen trafen - die Liste war lang und wurde immer länger und die Einschläge kamen unerbittlich näher. Sie selbst hatte mit Bluthochdruck zu kämpfen und auch Harry war sein hoher Alkoholkonsum jetzt deutlich anzumerken.
Harry hatte nie geheiratet und wohnte noch immer auf dem Hof ihrer Eltern, wo es längst keine Kühe und Schweine mehr gab. Seit einiger Zeit lebte er von einer kleinen Rente und seit vor vier Jahren auch ihre Mutter nach kurzer Leidenszeit an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war, die für ihn gekocht und die sich um ihn gekümmert hatte, war es nun sie - Anneliese - , die diese Aufgaben übernommen hatte. Außerdem hatte sie einen Kredit aufgenommen um zu verhindern, dass er den Hof versoff, und obwohl es ihr widerstrebte, war es nun auch niemand anders als sie, die dafür sorgte, dass er jeden Morgen eine volle Flasche vorfand, damit er nicht schon ab mittags im Dorfkrug herumsaß. Eine Pulle aus dem Discounter und ein eingeschalteten Fernseher taten es zum Glück auch.
Geld - immer war es das Geld, um das sie sich sorgen musste. Ihr Mann Walter war Schmied gewesen und hatte bis zu seinem Tod den Beruf des Metallbauers ausgeübt und sie selbst hatte, nachdem ihre drei Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, in einer Fabrik gearbeitet, die Zuckerrüben verarbeitete, bevor diese irgendwann geschlossen wurde. Ihr Haus war längst abbezahlt und für sie selber hätte es ausgereicht, aber da waren doch ihre Kinder...
Petra, die Älteste, war sechsunddreißig Jahre alt, gelernte Reiseverkehrskauffrau und mit Manfred verheiratet, den sie kennengelernt hatte, als sie hobbymäßig als Sängerin unterwegs gewesen war. Manfred hatte Schlagzeug in ihrer Band gespielt und einer seiner Lieblings- Rocksongs war 'Stairway to Heaven'. Erst nach ihrer Hochzeit hatte sich herausgestellt, dass er eine zeitlang Heroin gespritzt, und aus dieser Zeit eine chronische Hepatitis zurückbehalten hatte, die ihn gesundheitlich stark einschränkte. Manfred ging keiner geregelten Arbeit nach und saß die meiste Zeit zuhause herum. Glücklicherweise hatten die beiden keine Kinder bekommen. Da war nur Atze, der grüne Leguan, den sie sich angeschafft hatten, und der einzige Luxus, den Manfred und Petra sich leisteten, war eine Flugreise einmal im Jahr, die Petra zu Sonderkonditionen bekam. Wenn sie in Marokko oder Tunesien waren, war es auch sie, Anneliese, die Atze versorgte, der nicht nur gefüttert und saubergemacht, sondern auch regelmäßig mit Wasser besprüht werden musste, damit er nicht austrocknete. Schon mehrmals hatte Petra ihrer Mutter anvertraut, dass sie sich am liebsten von Manfred trennen und an der Uni einschreiben würde, um sich weiterzubilden und Tourismus oder Eventmanagement zu studieren, denn sie wollte sich, bevor sie vierzig Jahre alt wurde, beruflich noch einmal verändern. Manfred war ihr dabei ein Klotz am Bein.
Sie war froh gewesen, als Petra mit knapp dreißig Jahren endlich heiraten wollte, und hatte sich nicht vorstellen können, wie sich die Dinge entwickeln würden. Als sie selbst jung gewesen war, war eine Heirat das Beste, was einer Frau passieren konnte und an berufliches Vorankommen brauchte sie niemals in ihrem Leben auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden. Heiraten, ein Haus kaufen, Kinder kriegen - und für den Rest des Lebens für die Familie dasein, so war das gewesen, damals, aber die Zeiten hatten sich geändert. Jedes Mal, wenn sie ihrer Tochter ins Gesicht schaute, sah sie deutlich, dass sie unglücklich war, und das war sehr schlimm...
Als hübschester Bengel im Dorf hatte sich ihr Sohn Andreas zu einem Draufgänger entwickelt. Als er Fünfzehn war, hatten die Mädchen vor ihrem Haus Schlange gestanden und mit Siebzehn war er Vater geworden und hatte eine Frau geheiratet, die ihn nach kaum drei Jahren Ehe wieder verlassen, und mit zwei weiteren Männern fünf weitere Kinder bekommen hatte. Als ausgebildeter Fernmeldetechniker war er bei der Telekom angestellt gewesen und hatte, bevor die massenweise Leute entließen, eine Abfindung angenommen, die größtenteils für Unterhaltszahlungen an seinen Sohn draufgegangen war. Nach einer psychischen Krise, die einige Jahre in Anspruch nahm, hatte er zum Industriekaufmann umgeschult und dann wieder eine Frau geheiratet, die kein Geld verdiente, und mit ihr zwei weitere Kinder in die Welt gesetzt. Weil sein Verdienst nicht ausreichte, war seine Familie ständig auf Wohngeld angewiesen und auch sie, Anneliese, bezuschusste sie regelmäßig.
Und dann war da noch Sabine, ihr Nesthäkchen, das dritte Kind, das sie und ihr Walter eigentlich gar nicht gewollt hatten, weil es in einem normalen Haus nun einmal nur zwei Kinderzimmer gab, und die schon belegt gewesen waren. Sabine hatte nach dem Hauptschulabschluss die Schule verlassen, den Frisörberuf gelernt und konnte von ihrem schmalen Verdienst kaum leben; anstatt sich aber dauerhaft mit einem Mann zusammenzutun, um die Miete bezahlen zu können, war es ihr Ziel, möglichst bald einen eigenen Salon zu eröffnen - mit angegliedertem Nagelstudio. Sabine war zierlich, achtete auf ihre Figur und aß wenig, was, wie sie sagte, ihrem Sparbuch zugute kam. Wie sie mit ihren kaum fünfzig Kilo einen achtstündigen Arbeitstag bewältigte, war Anneliese ein Rätsel. Nicht zuletzt für Sabine gab es jeden Sonntag einen Schweinebraten in ihrer Küche, oder Schnitzel und Pommes, und auch Andreas und seine Familie fuhren dann pünktlich um halb eins mit ihrem Kombi vor, auf dessen Heck die Aufkleber: 'Laura', 'Justin', und 'Wir lieben Lebensmittel' prangten. Durch die Psychopharmaka, die er eine zeitlang hatte nehmen müssen, war er dick geworden, ihr Andreas, der einstmals schönste Junge im Dorf.
Und natürlich war auch Harry sonntags zum Essen eingeladen, der, als er noch radfahren konnte, mit einem Klapprad gekommen war, und seit er das nicht mehr schaffte, von Sabine mit ihrem Kia abgeholt wurde, bis es schließlich immer häufiger vorgekommen war, dass Onkel Harry noch im Bett gelegen hatte, wenn sie klingelte, und sie wirr aus gelben Augen angestarrt hatte, oder dass er sich mit dem Taxi für ein paar Tage zur zur Ausnüchterung und Regeneration in die nicht weit entfernte Klinik hatte fahren lassen, wohin er schon einige Male vor dem sicheren Tod geflohen, und wo er wieder aufgepäppelt worden war.
Und dann riefen sie wieder an aus dem Krankenhaus und sagten ihr, dass alles gut verlaufen sei, er aber noch ein Weilchen dableiben müsse, und außerdem benötige er Waschzeug, seinen Rasierapperat und ein paar Nachthemden. Die Schwester klang zuversichtlich, sehr positiv, fast so, als ob sie ihr mitteilen wollte, dass Harry ein gesundes Kind zur Welt gebracht hätte. Genau das war es, was sie mißtrauisch machte... Natürlich würde er sterben, zu diesem Schluss kam sie, als sie eine halbe Stunde über diesen Anruf nachgedacht hatte. Ihr Bruder Harry, jetzt würde er sterben und sie und der Rest der Familie hätten die verdammte Pflicht, ihn noch einmal besuchen zu kommen.
Am darauffolgenden Sonntag fuhren sie hin, gleich nach dem Mittagessen. Laura und Justin durften bei Nachbarn bleiben, weil sie noch zu jung waren, um mit dem bevorstehenenden Tod ihres Großonkels konfrontiert zu werden.
Die diensthabende Oberschwester war sehr freundlich zu ihnen, wirkte ein wenig verlegen und sagte, dass jetzt, am Sonntag, natürlich kein Arzt zu sprechen sei, dass man sie aber so bald wie möglich von den neusten Ereignisse in Kenntnis setzten würde.
Na also, sie hatte es doch gewusst, es war keineswegs alles in Ordnung mit ihrem Bruder Harry und man hatte ihr etwas so Wichtiges mitzuteilen, dass nur ein Arzt das tun konnte. Die Schwester, die sie den Gang entlang begleitete, klopfte an die letzte Tür auf dem Flur, öffnete sie einen spaltbreit und verabschiedete sich lächelnd von ihnen.
Gleich ganz vorn, im ersten Bett, saß Harry und verputze ein Stück Kuchen, das er zum Nachmittagskaffee bekommen hatte, und verlangte danach ein zweites, dass ihm sein Bettnachbar offenbar versprochen hatte. Nachdem er auch dieses mit sichtbarem Genuss verspeist hatte, lüftete er sein Krankenhaushemd und zeigte ihnen stolz eine Narbe, die sich kreuz und quer über seinen gesamten Bauch erstreckte.
Dass sie ihn mit dem Hubschrauber in ein Transplantationszentrum geflogen hätten, berichtete er, und dass er bedauere, von dem ersten Flug seines Leben nichts mitbekommen zu haben, weil er bewusstlos gewesen war...
 

Eremit

Mitglied
Eine intelligente Geschichte, das ländliche Milieu ist sehr gut wiedergegeben. Die verschiedenen Schicksale klingen plausibel und bringen unwillkürlich zum Nachdenken. Und die Botschaft dahinter? Dass wir alle den Stairway to Heaven suchen... aber oft ganz anders finden, als gedacht.
(Bzw. Leben ist das was passiert, während wir Pläne schmieden)
LG Eremit
 
Vielen Dank für dein Interesse an meiner Geschichte, Eremit.
Vielleicht kommt sie zu langsam in Gang und es sind zu viele Beschreibungen und am Anfang passiert nichts (tödlich für eine Geschichte!), aber ich denke, das Ende ist einigermaßen überraschend.
Zu 'Stairway to Heaven' hatte ich einige Bilder im Kopf, die sich sich mit etwas decken, das ich in einem You-Tube- Kommentar gelesen habe,und das war in etwa Folgendes: Es geht darum, dass man mit den Entscheidungen, die man in seinem Leben trifft, leben muss, - und mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen.
In etwa das wollte ich mit meiner Geschichte ausdrücken.
Und bei der Person des 'Harry', die ich erfunden habe, erfüllt sich das Schicksal auf sehr ironische Weise...
 



 
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