Stendaler Geschichten

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Renee Hawk

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"Der Schatz vom Dachboden"


Das alte Haus an der Fabrikstraße wurde einseitig von der Uchte, einem kleinen Flüßchen in der Altmark, begrenzt.
Obwohl kaum breiter als 5 Meter, plätscherte sie besonders nach kräftigen Regengüssen doch recht munter dahin.
Zugang zu den Wohnungen im Haus bekam man über die "Straße der Einheit", von wo aus eine für uns Kinder damals mächtige Holztür den Weg in einen dunklen Torweg freigab.
Hausbesitzer war eine Tischlerfamilie, welche selbst eine der 5 Wohnungen bewohnte. Der Meister hatte seine Werkstatt auf dem Hof. Man hörte fast den ganzen Tag über die Sägen kreischen, denn Arbeit gab es reichlich für die kleine Tischlerei.
Der Hof war für uns Knaben natürlich ein idealer Abenteuerspielplatz, denn im vorderen Teil war Platz genug, während sich im hinteren Teil die Werkstatt befand. Zum Haus gehörte hofseitig auch eine Waschküche. Da dort aber schon längst niemand mehr Wäsche wusch, wurde der Raum als Abstellkammer für Fahrräder, Handwagen, Sperrmüll und Gerümpel genutzt. Ich kann mich noch genau an die beiden Handwagen erinnern, welche uns noch oft gute Dienste leisten sollten. Einer gehörte meinem Opa und war aus Holz gefertigt. Er hatte vier metallbeschlagene Speichenräder sowie eine lenkbare Vorderachse mit Zugstange. Der andere besaß Luftbereifung und eine "Ladefläche" aus Leichtmetall.
Mein kleines rotes Kinderfahrrad stand auch in der Waschküche.
Es war wiedereinmal Sommerferienzeit. Ich hatte meinen kleinen Rucksack gepackt und obenauf nicht ganz ohne Stolz mein neuestes Schulzeugnis gelegt. Nicht nur aus Eitelkeit, denn es hatte sich im Laufe der Jahre bestätigt, dass sich so manche "Eins" oder "Zwei" durchaus in klingende Münze verwandeln ließ. Meist gab es ein kleines Spielzeug, später auch schon mal ein Scheinchen.
So bestens ausgerüstet stiegen Vati und ich eines schönen Sonntagmorgens auf dem Magdeburger Hauptbahnhof in den 7:00 Uhr Zug in Richtung Stendal.
Die Namen der Orte an der Strecke kannte ich längst alle auswendig. Als wir nach gut einer Stunde Fahrtzeit ankamen, stand Opa schon da um uns abzuholen. Selbstverständlich gab es viel zu erzählen. Ich war neugierig auf das, was sich seit meinem letzten Besuch so alles verändert hatte. Viel konnte ich nicht entdecken.
Allerdings waren die im Vorjahr geschlüpften Schwänchen schon zu stattlichen Einjährigen herangewachsen. Bald würden sie ihr graues Federkleid ganz ablegen und dann kaum noch von ihren Eltern zu unterscheiden sein. Lange ziehen sie nicht mehr mit Vater und Mutter Schwan umher, sondern gehen eigene Wege um selber Familien zu gründen. Groß genug waren sie nun.
In diesem Sommer hatten sich auch wieder Schwalben im Torweg eingenistet, was mich besonders freute. Die Vorjahresbrut war leider vom Hausbesitzer zerstört worden. Er mochte den Schwalbendreck und das Gezwitscher nicht. Ich erinnere mich, wie traurig mein im Haus ganz unten wohnender Freund Andreas und ich eines Tages vor den im Torweg liegenden Resten des Nestes standen. Die alten Vögel flogen aufgeregt hin und her, denn sie konnten sich nicht erklären wohin ihre Behausung mit der noch nicht geschlüpften Brut so plötzlich entschwunden war.
In diesem Jahr hatte der Tischlermeister wohl ein Einsehen und ließ die Tierchen in Ruhe brüten.
Bei Oma angekommen, gab es zunächst erst einmal ein zweites Frühstück in Form von herrlich frischem selbstgebackenem Bienenstich sowie Weißbrot mit Brombeermarmelade aus eigenen Gartenbrombeeren. Man konnte gar nicht soviel verdrücken, wie Oma aufgetischt hatte.
Inzwischen erfuhr ich auch, dass Andreas sich schon ein ums andere Mal nach meiner Ankunft erkundigt hatte. Für heute sollte ich mich aber dennoch erst mal gedulden müssen, da bis zum Mittagessen noch einiges zu besprechen und zu erledigen war.
Nach dem Mittagspudding hielt ich es dann aber beim besten Willen nicht mehr länger oben aus. Mit dem Versprechen, ja um 16.00 Uhr zum Kaffeetrinken wieder dazusein, verließ ich die Wohnung. Ich drückte eine Etage tiefer den Klingelknopf neben dem Namen "GERLACH".
Als die Tür dann aufklappte gab es verständlicherweise ein großes "Hallo"! Kaum war ich in Andreas' Zimmer gekommen, kamen wir auch schon auf unsere diesjährigen Ferienpläne zu sprechen.
Mit unnutzem Geschwätz über das vergangene Schuljahr und die dabei erzielten Noten und Ergebnisse hielten wir uns nicht länger als nötig auf.
Nachdem ich auch von Andreas' Eltern freundlich begrüßt worden war und die Grüße meiner Eltern übermittelt hatte, begann Andreas etwas von großen Plänen und alten Zeitungen zu erzählen. Angeblich hatte er eine wahre Goldgrube gefunden.
"Und was hat das mit alten Zeitungen zu tun?", fragte ich neugierig.
"Na das ist es doch, Altpapier-SERO-Schrott, kapiert?"
"Nö!", entgegnete ich ehrlich.
"Mann, schon mal was davon gehört, dass die beim Altstoffhandel für 1kg Papier 15 Pfennig zahlen und für Flaschen und Gläser pro Stück 5 Pfennig ?"
"Ja natürlich", behauptete ich, "aber wieso ist das denn 'ne Goldgrube wenn wir Flaschen, Gläser und Altpapier sammeln sollen? Ich habe keine Lust, in meinen Ferien für die paar Piepen auch noch zu arbeiten!"
"Wer redet denn hier von Arbeit, das Geld lagert auf dem Boden und im Keller, wir brauchen es nur noch aufzusammeln!"
Ich war überhaupt nicht von der Idee begeistert, in meiner Freizeit und noch dazu in den kostbaren Sommerferien auf verstaubten Dachböden und in dunklen Kellern nach ein paar alten Zeitungen und leeren Flaschen zu suchen. Schließlich ließ ich mich dann doch von meinem Freund dazu überreden, mir die von ihm gesichteten angeblichen Schätze wenigstens einmal anzusehen. Das mussten wir aber erst mal auf den nächsten Tag verschieben, denn nun kam uns Mutter Gerlach mit ihrer wunderbaren Erdbeertorte sowie einer Tasse Milchkaffe für jeden dazwischen. Beim Anblick der Torte wurde ich daran erinnert, dass ich ja eigentlich zum Kaffeetrinken von Oma und Opa erwartet wurde. Aber es war noch nicht ganz 16:00 Uhr. Also ließ ich's mir schmecken, verabschiedete mich dann bis zum nächsten Morgen und kam anschließend zum zweitenmal an diesem Tag in den Genuss von Kaffe und Kuchen.
Opa und ich brachten später noch Vati zum Bahnhof und danach konnten die Ferien so richtig beginnen!
Es gab doch nichts Schöneres als abends bei Oma und Opa auf dem Cheeselonge zu liegen und Westfernsehen zu gucken. Das dachte ich mir jedenfalls damals so. Außerdem durfte ich auch immer etwas länger als gewöhnlich aufbleiben. Manchmal kostete es mich zwar ganz schöne Überwindung, auf die Frage, ob ich denn schon müde sei, mit einem möglichst verblüfften "Nein ... wieso ?" zu reagieren, aber bereut habe ich das nie.
Am nächsten Morgen konnte ich zur Verwunderung meiner Großeltern gar nicht schnell genug aus den Federn kommen. Ich war nämlich schon damals ein Langschläfer und rechter Morgenmuffel. Hastig verschlang ich mein Frühstück. Omas berühmter Bienenstich machte zwar Appetit auf mehr, aber ich ließ es diesmal beim Nötigsten bewenden und entfernte mich frühzeitig vom Frühstückstisch. Kaum hatte ich mir die Hände gewaschen, läutete auch schon mein Freund an der Eingangstür um mich abzuholen.
"Morgen," begrüßte er mich, "hast du etwa schon ausgeschlafen?"
"Siehst du doch ", antwortete ich mürrisch.
Hatten erst meine Großeltern mein frühes Aufstehen als Sensation empfunden, fing er nun auch noch an, darüber zu witzeln.
Aber wir hatten uns ja für diesen Tag etwas besonderes vorgenommen und stürmten also erst mal los, Richtung Dachkammer.
"Ich habe Frau Ebert schon gefragt, wir können das Zeug kriegen, wenn wir es wegbringen wollen".
"Wo liegt es denn nun?", fragte ich ungeduldig, als wir auf dem Dachboden angekommen waren.
"Da drüben, hinter dem letzten Balken" antwortete Andreas und deutete auf einen mächtigen Haufen eingestaubten Altpapiers.
"Was denn, den ganzen Batzen da? Das sind ja bestimmt die Zeitungen von ein oder zwei Jahren!", staunte ich.
"Klar," brüstete sich mein Freund, "mit halben Sachen gebe ich mich doch nicht ab."
"Das sind bestimmt mehr als 20 Kilo oder ?"
"Weiß ich nicht", meinte Andreas, "aber das kriegen wir schon raus."
"Na wie denn?", wollte ich wissen.
"Indem wir es abwiegen, meine Mutter hat uns extra die alte Küchenwaage dafür gegeben. Die geht zwar nur bis 3 kg, aber bündeln müssen wir das ja sowieso alles. Da machen wir alle Stapel etwa gleich schwer und können dann prima übersehen, wie viel wir insgesamt haben."
Das war eine gute Idee. So konnten uns die Tanten (es waren meistens dicke Frauen in den Annahmestellen) wenigstens nicht bescheißen.
"Erst mal räumen wir ein bisschen Krempel in der Waschküche zusammen, und wenn wir genügend Platz haben, richten wir uns da unser Basislager ein."
"Basislager?", fragte ich etwas verwirrt.
"Hast du etwa noch nie was von einem Basislager gehört?", wunderte sich Andreas.
"Doch", log ich, "nur warum wollen wir dazu die Waschküche nehmen?"
"Hast du 'ne bessere Idee?", konterte Andreas.
"Nee", gab ich zu, und das Ding war beschlossene Sache.
"Jetzt müssen wir aber erst mal das ganze Papier hier runtertragen. Das gibt Muskelkater!", stöhnte ich.
"Halb so wild", meinte daraufhin mein Freund, "du stellst dich unten hin und passt auf, dass keiner vorbeikommt und ich schmeiß das Zeugs von oben runter. Aber erst mal bringen wir es den Treppenabsatz runter zum Flurfenster."
Gesagt, getan.
Andreas öffnete das Fenster und ich flitzte inzwischen nach unten um aufzupassen.
"Achtung, erste Ladung kommt!", tönte Andreas, kaum dass ich unten angekommen war. Bis zur halben Höhe etwa ging alles gut, dann teilte sich der Stapel plötzlich in der Luft und statt seiner landeten lauter einzelne Zeitungen bei mir unten.
"Schöner Mist!", hörte ich es von oben zischen.
"Mach weiter", rief ich, "müssen wir eben nachher alles wieder einsammeln."
"O.K., besser als einzeln runter tragen", war die Antwort, und schon segelten mir die nächsten Zeitungen um die Ohren. Das ging so eine ganze Weile, dann tauchte plötzlich Andreas' dunkler Lockenkopf wieder am Fenster auf und meldete:
"Letzte Fuhre!". Endlich, dachte ich und rief: "Komm runter und hilf mir alles wegzuräumen!"
"Ja, ja" murrte Andreas und kam angetrabt, nachdem er das Fenster wieder geschlossen hatte.
"Mensch, von oben sah das viel weniger aus, das sind bestimmt 50 Kilo!", behauptete mein Freund und begann schon auszurechnen, was das Ganze mindestens einbringen müsste.
Plötzlich hörten wir mitten in der schönsten Träumerei vom großen Reichtum die Stimme von Frau Ebert, unserer "Gönnerin", der Frau des Hausbesitzers.
"Kinder, Kinder, was habt ihr denn da wieder angestellt?!" Erschrocken antwortete ich:
"Das haben wir bloß gemacht, um die Treppe zu schonen, wir wollten keine Tapsen machen, damit sie nicht so oft wischen müssen, Frau Ebert !"
"Lausejungs", schimpfte sie schon halb besänftigt aus ihrem Fenster schauend, "räumt das bloß alles schnell wieder auf!"
"Geht klar, Frau Ebert, machen wir!" sagte ich und war erleichtert, dass mir so eine tolle Notlüge eingefallen war.
"Wollt ihr auch die ganzen Flaschen und Gläser wegbringen? Unser Keller ist halbvoll damit, man kann kaum noch zutreten."
"Na klar", beeilte sich Andreas mit der Antwort und war schon wieder am Rechnen.
"Ich schließe euch gleich den Keller auf dann, könnt ihr Euch alles rausholen." Erst mal waren wir aber damit beschäftigt, die überall im Hof verstreuten Zeitungen wieder einzusammeln. Wir schichteten sie vorerst an der Mauer vor der Waschküche auf und beschwerten die Stapel mit Ziegelsteinen, die wir im Hof fanden. Von dieser schweren Arbeit hatten wir beide natürlich schon einen Mordshunger bekommen, aber ein Blick zur Uhr verriet, dass die wohlverdiente Mahlzeit noch ein Weilchen auf sich warten lassen würde. Wir gönnten uns Frau Gerlachs kalten Tee, den sie vorsorglich für uns am Abend vorher gekocht hatte und machten Pause.
"Eigentlich stehe ich ja mehr auf Cola", verriet Andreas, "aber bei der Demse ist das nichts".
"Man kriegt bloß noch mehr Durst", wusste ich zu bestätigen, "deine Mutti weiß eben was gut ist."
"Stimmt", sagte Andreas und holte zwei frische Windbeutel aus dem Kühlschrank.
Nachdem wir die "Sturmsäcke" verdrückt hatten, füllten wir uns jeder eine Campingflasche mit Tee ab und nahmen diese als Proviant mit nach draußen.
Ich flitzte schnell nach oben und bat meine Omi um eine große Rolle Paketschnur.
"Ich habe im Korridor unsere alten Zeitungen hingelegt, die kannst du mitnehmen."
"Danke", sagte ich und drückte ihr ein Küsschen auf die Wange.
"Na, Hauptsache du bist zum Mittagessen wieder oben, in einer Stunde ist's soweit ich rufe dann!"
"Na klar, Omi, du kennst mich doch."
"Eben!", antwortete sie, und wusste wohl, wie weit es mit meiner Pünktlichkeit her war. Als ich mit meinem Packen unter dem Arm in der Waschküche ankam, sortierte Andreas schon fleißig die Zeitungen. Illustrierte zum Beispiel waren auf anderem Papier gedruckt als Tageszeitungen und durften deswegen nicht miteinander gemischt beim Altstoffhändler abgegeben werden. Diesbezüglich hatten wir beide schon so unsere Erfahrungen gemacht. "Frau Ebert war eben da und hat ihren Keller aufgeschlossen. Wir sollen uns die Flaschen und Gläser rausholen, abschließen und dann den Schlüssel wieder hochbringen."
"Wie viel ist es denn?", fragte ich.
"Massig viel, die müssen ja dauernd besoffen sein, wenn ich mir die ganzen Schnaps- und Weinflaschen so anschaue."
"Quatsch das glaube ich nicht!"
"Doch, guck's dir doch an, der ganze Keller steht voll, alles total verstaubt."
"Ach du Schreck", stöhnte ich, "die nimmt uns doch so kein Schwein ab."
"Schlaues Kerlchen", lästerte mein Freund, "aber willst du dir deswegen die Kohle entgehen lassen?"
"Eigentlich nicht, aber wie wollen wir die bloß sauber kriegen?"
"Weiß ich auch noch nicht so genau, vielleicht können wir dazu die alte Zinkbadewanne nehmen, die da hinten in der Ecke steht."
"Wo steht denn hier eine Badewanne herum?", fragte ich, weil ich außer einem Stapel Lumpensäcke und anderem Gerümpel in der angedeuteten Richtung nichts sah, was an eine Badewanne erinnern könnte.
"Die ist total eingebaut, hinter den Säcken da."
"Na, dann ziehen wir erst mal los und sichern uns die Flaschen, ehe wir die olle Wanne vorkramen."
"Moment, wir können doch die 3 Holzkisten dort nehmen und voll stapeln", meinte Andreas. Zum Glück lagen die Kisten auf dem Stapel ganz oben drauf. Beim Herumkramen kam auch noch eine alte Kiepe aus Weidengeflecht zum Vorschein. Wir beschlossen, diese zum Transport zu nutzen und stellten unsere Holzkisten so im "Basislager" auf, dass wir sie nacheinander voll packen konnten. In Eberts Keller bauten wir unsere Kiepe wahllos mit Gläsern und Flaschen voll, so dass wir ein Regal nach dem anderen abräumten. Im Basislager begannen wir aber zu sortieren. Die erste Kiste war für kleine Marmelade- und Honiggläser gedacht, die zweite reservierten wir für die grünen Weinflaschen und in der dritten schichteten wir "Nullsiemer", damit waren 0,7-Literflaschen gemeint, auf.
Ehe der Keller leer war, waren unsere 3 Kisten voll.
"Was nun?", fragte ich.
"Erst mal Teepause!" Gesagt, getan. Bei unseren angestrengten Überlegungen kamen wir bald zu der Ansicht, die restlichen Flaschen und Gläser in der Nische hinter dem Eingang zur Waschküche aufzustapeln. Das erledigten wir auch noch vor dem Mittagessen. Als wir gerade verstaubt und hungrig aber zufrieden unser Werk betrachteten, hörte ich Omas typischen Ruf:
"Andreas, komm oben!".
Oma und Opa staunten über meinen außergewöhnlichen Appetit und wunderten sich über die ungewöhnliche Eintracht, die diesmal zwischen mir und meinem Freund herrschte. In früheren Jahren war es nicht selten, dass wir beide uns wegen Belanglosigkeiten mehrmals am Tag in die Wolle gerieten. Vielleicht lag es daran, dass ich ein paar Monate später zur Welt kam und mein Freund, welcher dadurch ein Jahr früher als ich eingeschult wurde, kaum eine Gelegenheit ausließ, mir das auch beweisen zu wollen. Ich wiederum hielt dagegen, wollte keineswegs als der ohnehin schon körperlich kleinere nun auch noch als der jüngere behandelt werden. Für diesmal war aber aller Streit beigelegt, wir hatten ja ein großes gemeinsames Ziel. Für den Nachmittag war Waschtag angesagt, was neben dem angestrebten Effekt auch noch viel Spaß versprach.
Zuerst musste aber überprüft werden, ob denn aus der alten Wasserleitung in der Waschküche überhaupt noch Wasser kam. Das war schnell erledigt. Zwar kostete es einige Anstrengung den quietschenden Hahn aufzudrehen, aber das Wasser lief. Wir fanden sogar einen Wasserschlauch. Den schien schon lange niemand mehr benutzt zu haben und er hatte auch schon einige Löcher. Aber schließlich kam an seinem Ende mehr Wasser heraus als unterwegs verloren ging. Das allein zählte, und so machten wir uns daran, die Wanne ins Freie zu bringen und mittels Schlauch mit Wasser zu füllen. Wir entschlossen uns, zunächst unsere Sektflaschen zu baden und zu säubern, weil wir von denen nur wenige hatten und uns die Sache überschaubar erschien. Danach kamen "weiße" Schnaps- und Likörflaschen an die Reihe, gefolgt von den farbigen Flaschen der gleichen Sorte. Weinflaschen hatten wir fast doppelt so viele wie alle anderen zusammengenommen. Aber hier war die Artenvielfalt nicht ganz so groß wie bei allen anderen. Außerdem ließen sie sich prima in unseren Kisten stapeln. Nach jeder zweiten Wannenladung mussten wir das Wasser wechseln, weil die meisten Flaschen und Gläser doch schon etliche Zeit im Keller standen und infolge dessen ziemlich eingestaubt waren. Das Abwaschen klappte ganz prima, nebenbei entdeckten wir auch ein neues Hobby. Im Wasserbad lösten sich nämlich fast alle der Etiketten ab. Andreas fand, dass es sich lohnen würde, diese zu trocknen und wie Briefmarken glatt zupressen. Es entstand so eine Art Jagdfieber nach besonders schönen oder seltenen Exemplaren und wir versuchten, uns schon vor dem Wannenbad die besten Flaschen und Gläser zu sichern. Das ging selbstverständlich nicht ohne Streit ab. Schließlich einigten wir uns aber und tauschten am Ende sogar, weil jeder für sich ein eigenes "Sammelgebiet" entdeckte. Westetiketten waren besonders begehrt und so kam es vor, dass man für 2 verschiedene "BOLS" und 1 "MARTINI BIANCO" schon mal 10 "TANGERMÄNDER Marmelade", 2 "GLOBUS Vierfruchtkompott" und 1 "OGEMA Rotkohl" hinblättern musste.
"Wir müssten jetzt eine Inventur machen", stellte Andreas fest, nachdem wir die Wanne zum letzten Mal in den Hofgulli entleert hatten.
"Okey", pflichtete ich bei und rannte um Papier und Bleistift zu holen los. Ich machte 4 Spalten auf meinem Blatt und teilte es in:
"Flaschen zu 5 Pfg.",
"Flaschen zu 10 Pfg.",
"Gläser zu 5 Pfg.",
"Gläser zu 10 Pfg." ein.
Es begann ein angestrengtes Zählen, wobei wir uns bei einigen Flaschen und Gläsern nicht so recht sicher waren ob wir dafür nun 5 oder 10 Pfg. erhalten würden.
Um am Ende nicht enttäuscht zu sein, trugen wir die Streitfälle bei "5 Pfg." ein. Zum Schluss stand in der ersten Spalte eine 134, in der zweiten eine 52, in der dritten stand 77 und in der vierten 68. Wenn wir richtig gerechnet hatten, dann bedeutete das eine Summe von 22,55 Mark. Für uns eine enorme Aufbesserung unseres Taschengeldes. Und dabei hatten wir das Papier noch gar nicht mit dazu gerechnet! Nachdem wir unsere Schätze in der Waschküche einigermaßen verstaut hatten, verabschiedeten wir uns, denn es war recht spät geworden. Ich aß mit großem Appetit mein Abendbrot und freute mich auf's Fernsehprogramm mit den Mainzelmännchen. Müde, aber zufrieden mit dem Tagesverlauf kletterte ich zeitig in mein Bett. Unter diesem stand übrigens damals immer ein emaillierter Nachttopf. Oft habe ich ihn zwar nicht benutzt, aber ab und an erwies er sich doch als recht nützlich, weil es in der Wohnung keine Toilette gab. Diese befand sich eine halbe Treppe tiefer in einem Anbau am Treppenhaus. Jeweils zwei Familien mussten sich eine Toilette teilen. Ganz früher gab es nur ein sogenanntes Plumsklo auf dem Hof, aber diese Zeiten habe ich glücklicherweise nicht mehr miterleben brauchen. Allerdings war es auch so vor allem im Winter recht beschwerlich. Da war ich froh, dass der Topf unter dem Bett stand. Am nächsten Morgen war ich recht früh auf den Beinen. Die Sonne schien schon warm, und so sollte es wohl wieder ein schöner Tag werden. Noch vor der verabredeten Zeit lief ich die Treppe hinunter und klingelte bei Gerlachs an der Haustür. Andreas öffnete und schlug mir vor, heute das Altpapier zu bearbeiten, womit wir am gestrigen Tage ja schon angefangen hatten. Ich wollte eigentlich erst mal die Flaschen und Gläser abgeben, gab mich dann aber doch mit dem von Andreas geäußerten Plan zufrieden. Wir vereinbarten, uns für den Nachmittag "frei" zu nehmen und bei einem Stadtbummel die Öffnungszeiten der SERO - Annahmestelle in der Karlstraße zu erkunden. Auch war es wichtig, die "Kistenlage" zu erforschen, denn es kam sehr oft vor, dass aufgrund fehlender Kisten keine Flaschen und Gläser angenommen werden konnten. Es wäre sehr unangenehm gewesen, wegen solcher Dinge mit einem vollbepackten Handwagen wieder zurückfahren zu müssen. Als erste "Amtshandlung" des neuen Tages füllten wir unsere Trinkflaschen wieder mit frischem Tee auf und stürmten dann in unsere Waschküche. Stolz betrachteten wir unser Werk vom Vortag und begannen dann in den alten Zeitungen zu kramen. Dabei fiel uns auf, dass einige noch vom vergangenen Sommer stammten.
"Das wäre 'ne Sache wenn wir noch die Berichte von der Fußball-WM finden würden", schwärmte Andreas, während ich von seinem Eifer angesteckt bereits danach zu suchen begann.
"Ich hab was, hier steht: SPARWASSER'S TOR BESIEGELTE DIE GRUPPENSIEGTRÄUME DES GASTGEBERS BRD. Klasse, was?"
"Das Tor?"
"Nö, dass ich's gefunden habe, meinte ich!"
"Ach so. Aber das Tor war auch prima."
"Na logisch, wenn Sparwasser erst mal abdrückt, dann kann auch Sepp Maier nichts mehr machen." Ich wusste wovon ich sprach, schließlich hatte mich mein Vati schon sehr oft zum Fußball mitgenommen. Und da hatte ich schon so manches Tor von Sparwasser bejubeln können. Auch in diesem Jahr war der 1.FC Magdeburg wieder Fußballmeister geworden.
„Nun gib mal nicht so an mit deinem Sparwasser. War doch reiner Zufall, dass ausgerechnet der mal getroffen hat!". Jetzt war ich aber beleidigt. Aus unerfindlichen Gründen konnte Andreas die Magdeburger nicht leiden. In seinem Zimmer hingen Wimpel und Mannschaftsfotos von Dynamo Dresden. Das konnte ich überhaupt nicht begreifen. Dresden war doch der Erzrivale des 1.FCM. Die hatten nun überhaupt keine Ahnung vom Fußball!
"Deine Magdeburger Rasenkomiker sind doch bloß durch Zufall Meister geworden." Andreas lästerte weiter. Ich versuchte zu kontern:
"Na wer hat denn im vorigen Jahr den Europapokal geholt, Dresden vielleicht?"
"Ach das ist doch Schnee von Gestern. Da hatten die bloß Losglück. Dynamo hätte das bei den Gegnern auch gepackt. Locker sogar."
Ich war so stolz, den Pokal, der im Magdeburger Kaufhaus "Olympia" für einige Tage ausgestellt war, mit eigenen Augen gesehen zu haben. Alle Welt sprach doch von Seguin, Pommerenke, Zapf, Sparwasser und Co.! Und dieser Mensch redet von Losglück, unfassbar!
"Du hast doch keine Ahnung !" Ich wurde laut und war empört. "Deine blöden Dresdner kannst du dir an den Hut stecken", schrie ich.
Nun war der Streit offen entbrannt, es fehlte nicht viel, und ich wäre eingeschnappt davongerannt. Zum Glück merkte mein Freund das noch rechtzeitig und lenkte ein.
"Naja okey, das mit dem Europapokal war schon 'ne Sache, aber in diesem Jahr wird Dynamo Meister!"
"Werden wir ja sehen", murmelte ich und war schon wieder halbwegs besänftigt. Wir begruben bei einem Schluck Tee unser Fußballkriegsbeil und stöberten anschließend weiter in den alten Zeitungen. Natürlich mussten wir erst mal stundenlang die Fußballberichte lesen. Dabei war an Bündeln kaum zu denken. Schließlich kamen wir auf die Idee, alle Artikel über die Fußballweltmeisterschaft den Zeitungen zu entnehmen und gesondert zu sammeln. Das würde uns zwar einige Groschen Taschengeld kosten, da uns die Seiten für unsere Bündel dann verloren gingen. Aber für König Fußball nahmen wir das großzügig in Kauf. Der Vormittag ging beim anstrengenden Suchen in den Zeitungen schneller dahin als geplant. Und so kam es, dass wir unseren Plan etwas verschieben mussten. Wir widmeten also auch den Nachmittag dem Altpapier und verlegten unsere Stadtvisite auf den nächsten Vormittag. Beim Anblick der vielen Zeitschriften kam mir eine prima Idee.
"Wenn wir in jedem Stapel Zeitungspapier ein paar Zeitschriften mit reinschummeln, können wir ein paar Pfennige rausschinden", schlug ich vor. Die Illustrierten, die ja auf anderem Papier gedruckt wurden waren schwerer, wurden aber niedriger vergütet als Tageszeitungen. Andreas hatte zunächst Bedenken.
"Und wenn die uns erwischen, was dann?"
"Ach, die erwischen uns schon nicht" sagte ich und wickelte zum Beweis eine "NBI" vollständig in Zeitungspapier ein.
"Und wenn wir nun einen Stapel auspacken müssen, weil denen das verdächtig ist wenn plötzlich ein Packen extrem schwerer ist als die anderen Bündel?" Andreas war noch immer etwas skeptisch.
"Wir machen die Stapel eben gleichschwer dann fällt das nicht auf. Außerdem, musstest du etwa schon mal beim Altstoffhändler was auspacken?"
"Ich nicht, aber Thomas Fuchs aus meiner Klasse musste mal einen Lumpensack auspacken, weil es darin geklappert hatte. Er hatte zwei rostige Hufeisen mit reingepackt, da haben sie ihm sein Zeug natürlich nicht abgenommen und ihn weggejagt."
"So blöde sind wir ja nun nicht", lachte ich, "bei uns kann nichts klappern, außerdem bescheißen die ja selber; da gleichen wir bloß unsere Verluste aus."
"Stimmt", meinte Andreas nachdenklich, "man kann nie so richtig die Anzeige der Waage beobachten. Wenn die behaupten es sind dreieinhalb Kilo dann kannst du gar nichts machen, obwohl es vielleicht vier Kilo gewesen sind."
Ich hatte ihn also überzeugt. Wir begannen unsere Schwindelpakete zu packen. Am späten Nachmittag hatten wir es dann endlich geschafft. 28 Bündel Zeitungspapier zu jeweils etwa 3 Kilo zählten wir, dazu kamen noch 9 Stapel Illustrierte die je ca. 5 Kilogramm wogen. Nun fing die Rechnerei wieder an. 15 Pfennig für 1kg Altpapier und 10 Pfennig pro kg Illustrierte, das sollte der Lohn für unsere Arbeit sein. Andreas rechnete angestrengt vor sich hin und murmelte dabei:
"... 28 mal drei ist 84, das mit 15 multipliziert ist 840 und die Hälfte dazu macht 420 plus 840, also 1260 ..."
4 Mark und 50 Pfennig für Illustrierte sowie 12 Mark und 60 Pfennig für normales Zeitungspapier stellten für uns 10-jährige Knaben schon einen enormen Wert dar. Addierten wir nun noch unser Flaschengeld hinzu, so konnten wir mit ungefähr 20 Mark für jeden von uns rechnen. Bei einem durchschnittlichen monatlichen "Nettoeinkommen" von 1,50 Mark hatten wir damit quasi unseren "Jahresetat" innerhalb weniger Tage verdoppelt. Jetzt galt es, das letzte Problem auf dem Weg zum großen Reichtum zu lösen. Wir mussten unsere zerbrechliche und schwere Fracht ja irgendwie zur Annahmestelle transportieren. Selbst cleverste Pack- und Stapelkünste konnten einen mehrmaligen Gang in die Karlstraße nicht verhindern. Zuerst inspizierten wir unsere Transportmittel. Opas großer alter Speichenradhandwagen machte einen sehr stabilen Eindruck. Zwar ächste und knarrte er ein wenig als wir ihn aus der Waschküche ins Freie trugen, doch das schrieben wir seinem Alter zu. Die Radlager und die Deichsel waren gut geschmiert und das Holz wurmfrei. Wir beluden ihn mit Altpapier, bis wir ihn zu zweit kaum noch von der Stelle bewegen konnten. Dabei lag aber der größere Stapel Papier noch neben dem Handwagen. So kamen wir schon beim Gedanken an den nächsten Tag ins Schwitzen. Den Mut ließen wir aber nicht sinken, zumal wir unerwartet Hilfe bekamen.
"Na Jungs, könnt ihr noch Unterstützung gebrauchen?"
Mit dieser Frage stand plötzlich mein Opa Willi neben uns und schwenkte schmunzelnd seine große Fahrradluftpumpe in der Hand.
"Aber immer", kam die Antwort fast wie aus einem Mund.
Ich ließ meinen Blick von der Luftpumpe auf den anderen, den luftbereiften Wagen schweifen und begriff den Zusammenhang. Der wurde wohl schon lange nicht mehr benutzt, wovon nicht nur die beiden ordentlichen "Schlappen" sondern auch diverse Spinnweben zeugten. Mit ein paar kräftigen Stößen aus der Pumpe und etwas Schmiere für die Achsen behoben wir den Schaden. Wir dachten uns nun unsere Taktik für den nächsten Tag aus. Zunächst war frühes Aufstehen angesagt, was zwar gegen meine Feriengrundsätze verstieß, für unser Ansinnen allerdings unabdingbar war. Ich sah das ein und machte den Vorschlag zu unserer Unterstützung wenigstens einen Erwachsenen heranzuziehen. Da die Eltern meines Freundes aus beruflichen Gründen verhindert waren, schieden sie also aus und die Wahl fiel auf meinen Opa. Dieser willigte nach kurzem Bitten auch ein, schlug aber lächelnd das Angebot aus, am Erlös prozentual beteiligt zu werden. Opa sollte uns helfen, die erste Fuhre noch vor der Öffnung des Ladens in die Karlstraße zu kutschieren. Wir wollten unsere beiden Handwagen auf der Straße entladen und mit den leeren Fuhrwerken zurück zur "Basis" fahren um ohne Zeitverzug weitere Schütze heranzukarren. Opa sollte in der Zwischenzeit unsere Altstoffe bewachen. Wir bereiteten alles für den nächsten Tag vor und erkundigten uns am Nachmittag noch im Altstoffladen, ob auch ja genug leere Kisten vorhanden waren. Dies war wichtig, denn schon oft war es vorgekommen, dass aus diesem Grunde keine Flaschen oder Gläser angenommen wurden. Als diese letzte Hürde genommen war, konnten wir beruhigt den Tag ausklingen lassen. Obwohl ich am nächsten Morgen für meine Ferienverhältnisse besonders früh aufstand, waren wir doch nicht die ersten, die in der Karlstraße auf die Öffnung der Annahmestelle warteten. Vor uns stand noch eine ältere Dame, die sich mit einer Tasche voller Flaschen und Gläser abmühte. Sie staunte nicht schlecht über unsere Mengen an Papier und Gläser. Auch die Sperlingsida, an der wir mit unserer lauten Fuhre vorbeirumpelten, sah so was nicht alle Tage. Wir hatten Glück, denn nicht nur die Sonne lachte uns, auch die Frau an der Waage war uns gewogen; sie ermittelte in etwa auch unser Vorwiegeergebnis. So kamen wir zum Schluss, nachdem Andreas und ich den langen Weg von der Basis bis zum Laden noch zwei weitere Male mit vollen Handwagen bewältigt hatten, zu unserm verdienten Lohn. Unsere 20 Mark, die etwa jeder von uns hatte, erschienen uns ein fast unerschöpflicher Reichtum zu sein. Doch bald mussten wir feststellen, dass dieser Schein trog. Während ich noch gar nicht so genau wusste, was ich denn mit meinem Geld so alles anfangen wollte, steuerte Andreas recht zielbewusst den nächsten Briefmarkenladen an.
"Briefmarken ?", staunte ich, während Andreas als der größere Fußballfan von uns auf einen Block arabischer Marken mit Motiven von der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko verwies, welcher groß, bunt und verlockend im Schaufenster auslag. Ich fand, der würde auch gut in meine Sammlung passen und tätigte meinem Freund gleich denselben Einkauf. Nun waren wir schon wieder die Hälfte unseres Geldes los, aber wir bestätigten uns gegenseitig, welch glänzendes Geschäft wir doch mit diesen Marken gemacht hatten. Leider wurde diese Ansicht nicht von allen geteilt. Mein Opa hatte für solcherlei "Kinkerlitzchen" nichts über.
"Hättet ihr euch was ordentliches zum Essen gekauft, hättet ihr mehr davon gehabt. Schokolade zum Beispiel. Aber diese ollen klebrigen Papierdinger liegen am Ende doch bloß rum und eines Tages werft ihr sie weg." Dies war sein enttäuschter Kommentar.
Ich konnte das nicht verstehen. Von den schweren Zeiten, die seine Generation hinter sich hatte, begann ich damals gerade erst zu ahnen. Hunger kannten wir ja nicht, und Schokolade war zu einer Alltäglichkeit geworden. Aus Trotz nahm ich mir vor, meine Briefmarken besonders gut aufzubewahren und zu pflegen. So befinden sie sich noch heute in meinem Besitz, und wenn ich sie mir ansehe, muss ich immer an diese Sommeraktion denken.



"Von der Kieselsteinallee zum Kuhanger - Der Gartenexpress"

Einige Tage später, unsere letzten Groschen waren im Lauf der Zeit diversen Vergnüglichkeiten wie Kleinspielzeug oder Eis außer der Reihe gewichen, nahmen wir uns vor, dem Gerlach`schen Garten mal einen Besuch abzustatten. Da wir an unseren Handwagen Gefallen gefunden hatten, nahmen wir den mit der Luftbereifung mit. Wer weiß, wozu der noch nützlich sein konnte. Außerdem brauchte dann immer nur einer von uns zu laufen, während der andere im Wagen sitzen konnte. Bis kurz hinter der Bahnschranke der Werksanschlussbahn musste ich schieben, danach war Wechsel. Andreas, von kräftigerer Statur als ich, (dafür konnte ich schneller und ausdauernder laufen) schob die längere Strecke, was ihm auch nichts weiter ausmachte.
Dabei kam ihm wieder eine Idee.
"Was hältst du davon, wenn wir mit unserem Handwagen einen kleinen Fuhrbetrieb einrichten", fragte er.
"Was meinst Du damit?"
"Na, wir bauen auf den Gartenwegen einfach einen Rundkurs auf und fahren den dann für ein kleines Entgelt ab. Wer mitfahren will, der muss zum Beispiel 50 Pf blechen, wenn er von Endstelle zu Endstelle fahren möchte. Zwischen zwei Haltestellen je nach Streckenlänge kostet es dann nur 10 oder 20 Pf."
"Endstelle, Haltestellen ...?", fragte ich etwas verwirrt.
"Paß auf, hier vorne geht’s los. Hier ist die erste Endstelle. Weil hier auf dem Weg so viele Steine (zum Schlaglöcher füllen) herumliegen nennen wir das die >Kieselsteinallee<."
Der Name gefiel mir. Und weil ich nun auch alles verstanden hatte, dachte ich mir 100m weiter die nächste Haltestelle aus.
"Das wird der >Rabenhorst<", rief ich begeistert, als ich eine hohe Birke mit auffällig großem Vogelnest im Geäst entdeckte. Andreas stimmte zu. Hinter der letzten Kurve vor dem Garten befand sich eine hohe Brombeerhecke. Wir erklärten dies übereinstimmend zu unserer dritten Station. >Zur Brombeere< , so der passende Name.
Gerlachs Garten war der vorletzte vor einer großen Wiese. Auf der konnte man fast ungestört Fußballspielen, musste aber aufpassen, nicht in Maulwurfshügel oder gar Kuhfladen zu treten. Zu Weidezwecken wurde die Wiese allerdings selten benutzt, so dass ich dem Namensvorschlag meines Freundes nicht ganz zustimmen konnte. Ich hatte mir nämlich den schönen Namen >Beim alten Maulwurf< ausgedacht, aber Andreas fand das zu übertrieben. So setzte sich >Kuhanger< durch, was ich nach kurzem Murren auch akzeptierte. Nun mussten wir nur noch die Fahrpreise festlegen.
Eine Fahrt vom >Kuhanger< zur >Kieselsteinallee< sollte 50 Pf kosten. Vom >Kuhanger< bis >Zur Brombeere< wollten wir 15 Pf verlangen. Von dort bis zum >Rabenhorst< ebenfalls 15 Pf. Weil der Rest der Strecke das längste Stück Fahrtstrecke war, wollten wir hierfür dann gerne 20 Pf einkassieren. Inzwischen waren wir im Garten angekommen.
Zur Feier unserer neuen tollen Idee und zur Einweihung der Strecke stießen wir mit unseren mitgebrachten Proviantflaschen, die mit Frau Gerlachs prima Durstlöschertee gefüllt war, an. Danach brachte ich dann ein Problem zur Sprache, was wir bisher noch gar nicht bedacht hatten.
"Wer soll denn mit unserer Handwagenlinie, auch >Gartenexpress< genannt, fahren?"
"Tja, gute Frage", bemerkte Andi, indem er einen tiefen Zug aus der Flasche nahm, "zunächst dachte ich an Peter Englisch aus unserem Haus. Seine Eltern haben doch hier draußen auch einen Garten und er dürfte eventuell zur Zeit auch hier sein".
"Den fährst du aber", beeilte ich mich zu sagen, denn ich hatte gleich dessen Leibesfülle vor Augen.
"Abgemacht", sagte er "mit Heino Kunze vom Nachbarhof, Stefan Bluhm und dem kleinen Thomas Fuchs aus meiner Klasse hätten wir noch drei weitere Mitfahrer".
Wir wollten zunächst unsere Strecke selbst ausprobieren und unterwegs auch die anderen benachrichtigen.
Ich war durch Losentscheid (wir knobelten "Stein, Schere, Papier"; und ich hatte den Stein gegen Andis Brunnen) der erste Fahrer. Kurz vor der Station >Zur Brombeere< begegnete uns Peter mit seinem Dackel. Leider hatte er kein Interesse an einer Fahrt mit unserem Wagen. "Ihr spinnt ja", prustete er und machte dicke Backen. "Außerdem habe ich jetzt noch was besseres vor, ich werde mit meinem Dackel spazieren gehen und Salat sammeln für mein Meerschweinchen."
Sprach's und ließ uns einfach stehen. Für diese Frechheit wollten wir ihn für ewig vom Gartenexpressverkehr ausschließen.
Ein paar Schritte weiter kam Stefan uns mit einem Fußball entgegen. Er wollte für 15 Pfennige auch lieber bis zum >Kuhanger< laufen und schlug uns zudem ein kleines Fußballmatch auf der Wiese vor. Dem Angebot konnten wir nicht widerstehen und beließen es nach einem Fahrerwechsel und einer kurzentschlossenen "Fahrplanänderung aus innerbetrieblichen Gründen" bei einer Teilstreckeneinweihung. Die große Einweihungsrunde verschoben wir kurzerhand auf den Nachmittag.
Wir markierten uns aus 2 Feldsteinen auf der Wiese ein Tor und spielten nach Zeit jeder gegen jeden. Ich hütete zuerst das Tor und musste aufpassen, nicht etwa durch präzise Abstöße eine der beiden Mannschaften zu bevorzugen. Daher wurden die Bälle vom Torhüter immer rückwärts zum Spielfeld stehend ins Feld geworfen. Möglichst weit weg von beiden Spielern. Stefan eroberte sich zunächst als erster den Ball, dribbelte durchs Mittelfeld und kam aber trotz geschickter Körpertäuschung nicht an der Abwehr des Gegners vorbei. Dieser holte noch in der Drehung zu einem strammen Schuss aus halbrechter Position aus, zog ab und hätte beinahe das 1:0 erzielt, wenn ich mit einem gewagten Hechtsprung nicht gerade noch so an den Ball gekommen wäre. Leider konnte ich den Ball nicht festhalten, der Abpraller sprang hoch zurück, genau auf den Kopf von Stefan und von dort in Richtung Tor. Während Stefan jubelte, (ich hatte mich noch nicht wieder aufgerappelt und konnte nur zusehen) protestierte Andreas. Der Kopfball sei mindestens einen halben Meter über die Latte geflogen. Stefan behauptete, es sei ein klares Tor gewesen, schließlich sei ja auch gar keine Latte vorhanden. Ich konnte den Streit auch nicht so recht schlichten, da ich die Aktion nur aus der "Froschperspektive" beobachtet hatte. Ich machte den Vorschlag, Stefan zur Klärung einen Strafstoß zuzusprechen.
Beide protestierten zunächst, denn es sei ja ganz klar "ein Tor" bzw. "weit darüber weg" gewesen. Nachdem Stefan mit Bombenschuss den Elfmeter bzw. "Elfschritter" unhaltbar verwandelt hatte, murrte nur noch Andreas. Aber der kam in der Schlussminute durch einen Schuss aus Nahdistanz noch zum verdienten Ausgleich.
Letztendlich gewann Stefan das Turnier. Andreas wurde als Zweiter bester Torschütze und ich bekam immerhin noch das Prädikat "bester Torhüter" von den beiden anderen zuerkannt. Wir liefen verschwitzt und abgekämpft in den Garten und rasteten in der Laube um dort den weiteren Tagesverlauf zu planen. Stefan wusste noch nicht, ob er am Nachmittag wiederkommen könnte. Seine Eltern hätten etwas vor. Wir sammelten noch ein paar Augustäpfel als Wegzehrung auf und machten uns zu dritt entgegen unseren ursprünglichen Plänen ohne den Handwagen, der im Garten verblieb, auf den Rückweg in die Stadt.
Andreas und ich zogen bei sonnigem Wetter nach dem Mittagbrot gleich wieder in den Garten. Leider blieben wir am Nachmittag unter uns, Stefan, der allerdings auch einen viel weiteren Weg hatte, tauchte nicht wieder auf.
Als wir eine ganze Weile auf Stefan gewartet hatten, da begann Andreas plötzlich den Vorschlag zu machen, doch schon mal mit dem Handwagen loszuziehen, um wenigstens ein oder zwei Runden auf unserer Strecke zu drehen. Um zu testen, wie sehr wir als "Gartenexpresspiloten" physisch belastbar waren, sollte jeder von uns einmal selbst über die komplette Wegstrecke im Wagen sitzen, während der andere den ganzen Weg alleine schieben sollte. Wir prüften zunächst den Reifendruck und nachdem wir dem linken Reifen noch etwas Luft aus der Pumpe verpasst hatten, konnte es losgehen.
Ich schob zuerst und kam schon auf der ersten Strecke ganz schön ins Schwitzen. Am Haltepunkt "Zur Brombeere" musste ich daher zunächst ein wenig verschnaufen.
"Du liegst ganz gut in der Zeit", bemerkte Andreas der auf seine Uhr sah, "4:35 min sind gar nicht schlecht für den Anfang.“
Für das zweite Teilstück benötigte ich nur 2:43, und als ich nach weiteren sensationellen 1:39 min an der Endstelle >Kieselsteinallee< ankam, tropfte mir der Schweiß von der Stirn. Ich hatte den ersten Streckenrekord aufgestellt, war dafür aber auch ganz schön fertig. Andreas kletterte aus dem Wagen und klagte über leichte Schmerzen im Knie. Er hatte wohl etwas sehr beengt gesessen.
"Tja, sehr komfortabel ist das ja nicht, vielleicht müssen wir einen Rabatt einräumen oder Sitzpolster in den Wagen legen.".
"Was willst Du aufräumen?", fragte ich, da ich wegen der Anstrengung nur mit halbem Ohr hingehört hatte.
"Nicht aufräumen, einräumen, Mensch! Wir müssen unseren Fahrgästen einen Preisnachlass wegen schlechter Federung des Wagens gewähren."
"Ach so, ja es hat besonders auf der letzten Strecke ganz schön geholpert. Aber wem willst du denn etwas gewähren, es fährt ja doch keiner mit."
"Momentan noch nicht, es hat sich eben noch nicht herumgesprochen, dass wir zwei einen Fuhrbetrieb eröffnet haben.". Andreas stieg wieder ein und ich machte mich auf den Rückweg. Kurz nach der großen Brombeerhecke, unserer Station >Zur Brombeere< kam uns Thomas Fuchs aus der Schulklasse meines Freundes entgegen. Er saß auf seinem Fahrrad und kam gerade aus dem Garten seiner Eltern, die im Sommer auf dem Grundstück wohnten. Unser Angebot lehnte er rundweg ab, denn er fand es bequemer, selber zu treten. Auch wollte er bis zur Breiten Straße fahren, er sollte für seine Mutter etwas aus der Drogerie holen. Bis dahin ging unser Linienverkehr ja gar nicht. Wir hatten ihn schließlich nicht "Cityline", sondern "Gartenexpress" genannt. Sein Taschengeld sei ihm zu Schade, um es für ein paar unbequeme Sitzungen in einem quietschenden Handwagen auszugeben. Damit ließ er uns stehen und verabschiedete sich. Der Wagen quietschte tatsächlich etwas. Dem konnten wir aber abhelfen, im Gerlach'schen Werkzeugschuppen fand sich glücklicherweise ein wenig Schmierfett für die strapazierten Achsen des Handwagens.
Für die Rückfahrt sollte ich den Angaben meines Freundes zufolge genau eine Minute und zwölf Sekunden länger gebraucht haben als für die erste Tour. Das schien mir ein bisschen arg langsam gewesen zu sein und ich zweifelte an der Ganggenauigkeit seiner Uhr. Andreas beteuerte aber, alles ganz genau gestoppt und aufgeschrieben zu haben, auch sei die "Auszeit" beim Gespräch mit Thomas ganz exakt herausgerechnet. Und seine Uhr sei schließlich eine, die auf Steinen lief. Solche Uhren gingen auf die Zehntelsekunde genau. Dieses Argument überzeugte mich. Nach einer Teepause im Garten sollte ich mich nun in den Wagen setzen und die Zeit stoppen. Andreas legte sich mächtig ins Zeug und unterbot auch gleich meine erste Zwischenzeit um 41 Sekunden. Das war enorm, ließ sich aber sicher damit erklären, dass ich schon damals um einige Kilo Körpergewicht leichter war als Andreas. Somit hatte ich es beim Schieben viel schwerer als er. Als Andreas an der Endstation ankam, war er eine Minute und 27 Sekunden schneller als ich auf meiner ersten Tour. Nach einer kurzen Pause ging es wieder zurück. Mir tat mein Rücken weh, da der Weg besonders auf dem letzten Teilstück sehr uneben war und man so doch recht unbequem im Wagen saß. Andreas versuchte, seine auf dem Hinweg erreichten Zeiten noch zu verbessern. Das gelang ihm nicht, auch er verlor an Zeit, obwohl ich ihm ständig die Zwischenzeiten zurief. Unterwegs begegneten uns keine potentiellen Fahrgäste. Nur Erwachsene und ein paar kleinere Kinder, die wohl noch nicht zur Schule gingen. Kurz vor dem Ziel kam aus einem Seitenweg Peters Dackel auf uns zu und wedelte mit dem Schwanz. Ein Stückchen dahinter kam dann auch Peter gelaufen. Er hatte inzwischen genug Salat gesammelt und war auf dem Weg zum elterlichen Gartengrundstück. Peter wollte wissen, wie viel Geld wir denn schon eingenommen hätten. Da er dies mit einem so spöttischen Lächeln tat, behauptete ich noch bevor Andreas etwas sagen konnte, es seien immerhin 2,25 Mark gewesen. Nun staunte Peter doch etwas, da ich wie zum Beweis für die Richtigkeit meiner Worte mit dem Rest meines Taschengeldes, der sich zufällig noch in den Taschen meiner Hose fand, zu klappern begann. Nun wollte Peter auf einmal doch mal ein Stückchen mitfahren. Wenigstens bis zur Wiese. Andreas erklärte ihm, dass dies aber sehr schwierig zu berechnen sei. Wir befänden uns ja an keiner "offiziellen" Haltestelle. Peter hatte aber sowieso kein Geld. Bezahlen wolle er uns mit einem kleinen Kunststück, was er seinem Dackel "Balduin" beigebracht hatte. Nachdem Andreas und ich uns einen vielsagenden Blick zugeworfen hatten, stieg ich seufzend aus um für Peter Platz zu machen.
"Wenigstens etwas", dachte ich laut während Andreas losfuhr.
Balduin lief, nachdem er zuerst etwas ungläubig sein Herrchen angebellt hatte, auf dessen Zuruf schwanzwedelnd vor dem Wagen her, währenddessen ich hinterherlief und auf die Uhr sah. An der Wiese angekommen, stieg Peter aus und rief seinen Hund zu sich. Dieser sah ihn erwartungsvoll mit seinen kleinen dunklen Augen an und legte dabei seinen Kopf etwas zur Seite. Das allein war schon drollig anzusehen.
Peter rief "pass auf", während das Tier ihn noch immer ansah. Dabei streckte Peter langsam seinen Zeigefinger der rechten Hand aus und reckte den Arm in die Höhe. Dann ließ er blitzschnell den Arm sinken, so dass der Finger auf den Hund gerichtet war. "Paff", rief Peter ganz laut indem er gleichzeitig den Zeigefinger krümmte. Im selben Augenblick "fiel" Balduin förmlich auf den Rücken und blieb sekundenlang mit geschlossenen(!) Augen so liegen. Nachdem wir zunächst etwas erschraken, mussten wir im nächsten Moment herzlich lachen und konnten uns kaum noch halten, als Balduin und Peter das Kunststück noch mehrmals wiederholten. Balduin empfing seine verdienten Streicheleinheiten und zog anschließend mit seinem Herrchen ab nach Hause. Schließlich war ja noch das Meerschweinchen mit frischem Salat zu versorgen. Wir mussten mit dem empfangenen "Lohn" zufrieden sein. Schließlich hatte der "Gartenexpress" so doch noch seine erhoffte Einweihung erfahren. Zwar etwas anders als eigentlich angedacht, aber den ersten "echten" Fahrgast konnten wir immerhin für diesen Tag im Fahrtenbuch festhalten. Festzuhalten blieb noch, dass Andreas es trotz enormer Anstrengungen nicht schaffte, auf der Rückrunde eben so schnell zu sein wie auf der Hinfahrt. Er büßte etwa 45 Sekunden insgesamt ein. Trotzdem war er damit immer noch schneller als ich auf meiner ersten (und schnellsten) Fahrt. Nachdem ich mich zunächst noch etwas darüber ärgerte, war ich denn doch damit einverstanden, bei der Berechnung und Aufstellung unseres Fahrplanes mitzuhelfen. Wir hatten ja von jedem Streckenabschnitt 4 verschiedene Fahrtzeiten. Davon errechneten wir den Mittelwert, rundeten den Wert auf und rechneten jeweils noch 30 Sekunden zum Ein- und Aussteigen hinzu. Fertig war ein Fahrplan für unseren Express.
Spät war es inzwischen geworden. Daher begaben wir uns auf den Heimweg. Den Handwagen ließen wir allerdings im Garten stehen. Gefahren war schließlich jeder von uns an diesem Tage genug.
 

bosbach46

Mitglied
hallo Unbekannter, Unbekannte,
schade, dieser Text hätte es trotz einiger Längen verdient, namentlich hier zu erscheinen. Immerhin ist er eine bis in jede Kleinigkeit gehende Kindheitserinnerung. Vielleicht die Uhrzeiten etwas heraus nehmen und dann noch mal neu veröffentlichen.
 



 
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