Sterne des Meeres

anbas

Mitglied
Sterne des Meeres

Abenddämmerung lag über der Insel. Es war, als würde der Himmel den rötlich schimmernden Spalt zwischen der dunklen Horizontlinie und der grauen Wolkenkante mit aller Macht schließen wollen. Nur sehr langsam wurde er schmaler, bis das Meer und der Strand in völlige Dunkelheit gehüllt waren. Die Wolkendecke war so dicht, dass es keine einzige Stelle gab, durch die hindurch ein Stern sein Licht hätte scheinen lassen können. Und nur ein matter Fleck über dem Blitzlichter versendenden Leuchtfeuer ließ erahnen, wo sich der Mond versteckt hatte.

Arno saß auf der Aussichtsdüne, die zwischen jenem Leuchtfeuer und dem kleinen Badestrand lag. Ein heißer Sommertag ging zu Ende. Die Nacht war warm und der kühle Luftzug, der vom Meer herüber wehte, tat ihm gut. Er verharrte bereits seit dem frühen Abend dort und hatte ununterbrochen auf das Meer gestarrt. Ein paar Stunden zuvor war er auf der Insel angekommen. Die Anreise hatte ihm sehr zu schaffen gemacht und steckte ihm schwer in seinen alten Knochen. Es war ganz anders als früher. Damals hatte er alle paar Jahre auf Amrum Urlaub gemacht, und die Anreise mit Bahn, Fähre und Bus locker weggesteckt. Doch nun war er 84. Sein Körper hatte schon lange nicht mehr die Kraft dazu, all das umzusetzen, was sich Arnos immer noch sehr agiler Geist ausdachte.

Seit 17 Jahren hatte er keine Reisen mehr gemacht. Zunächst war es reine Bequemlichkeit gewesen. Dann folgte eine Erkrankung nach der nächsten, und seine Ausflüge beschränkten sich auf die Fahrten zu den einzelnen Arztpraxen. Diese Odyssee fand erst ein Ende, als er vor 4 Jahren in ein Seniorenheim zog. Dort hatte er sich langsam wieder erholen können. Nun trauten ihm die Mitarbeiter des Heimes aber aufgrund seiner Krankheitsgeschichte gar nichts mehr zu und versuchten ihn mit allen Mitteln an irgendwelchen Reisen zu hindern. Doch Arno hatte es geschafft. Heimlich. Er grinste bei dem Gedanken, dass inzwischen wahrscheinlich schon Suchmeldungen nach ihm im Radio liefen.

'Tja, so kann man auch berühmt werden', dachte er sich und grinste noch breiter. Ihm war es egal, ob sich irgendjemand um ihn Sorgen machte, oder ob ihn vielleicht jemand während der Fahrt erkannt hatte. Er war an seinem Ziel angekommen.

Aus seinem kleinen Rucksack holte er eine Thermoskanne mit Tee hervor. Er war bekannt dafür, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jeder Temperatur gerne Tee trank. Um ein wenig Orientierung in der Dunkelheit zu haben, legte er eine kleine Taschenlampe neben sich auf die Bank. Sobald er sich eingeschenkt hatte, machte er sie aus, starrte in die Dunkelheit und nippte an seinem Tee.

Arno hatte eigentlich auf eine klare Nacht mit Sternenhimmel gehofft. Doch während des Tages zog der Himmel immer mehr zu. Von der Fähre aus hatte er sogar eine Regenfront gesehen, die aber an Amrum vorbeigezogen war. Auch danach war die Insel vom Regen verschont geblieben.

Nachdem er seinen Becher geleert hatte, zog er sein Handy hervor und las sich noch einmal in Ruhe den Text der SMS durch, den er dort bereits seit Tagen als Entwurf abgespeichert hatte. Zufrieden schaltete er es wieder aus. Bei seinen Vorbereitungen zu dieser Reise hatte er einiges über Handy-Ortung gelesen. Sie konnten ihn ja gerne finden, aber nicht so schnell. Dann schenkte er sich noch einen Tee ein. Aus der Dunkelheit funkelten immer wieder Lichter zu ihm hinüber. Einige bewegten sich, andere strahlten ruhig in die Nacht und wiederum andere blinkten so, wie das Leuchtfeuer in seiner Nähe. Vor allem von der Insel Sylt erging ein eindrucksvolles Lichterspiel über das schwarz umhüllte Meer.

'Sterne des Meeres', dachte Arno und grinste erneut. Wenn ihm die Wolken auch einen Strich durch die Rechnung machten, so waren auf diese 'Sterne' Verlass.

Er stand auf und reckte sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt noch irgendwelche Spaziergänger hierherkommen würden, war gering. Das wusste er aus Erfahrung. Wie oft hatte er früher an dieser Stelle gesessen, den Sonnenuntergang beobachtet und seinen Gedanken nachgehangen. Er liebte diesen Ort, besonders bei Sonnenuntergang und zur Zeit der Dämmerung. Er hatte sich in den letzten Jahren sehr danach gesehnt, wieder einmal hier sein zu können. Doch Arno spürte auch die Signale seines Körpers. Die Fahrt hatte ihn mehr angestrengt, als er erwartet hatte. Zum Glück befand sich die Aussichtsdüne noch an fast derselben Stelle, wie bei seinem letzten Besuch vor 18 Jahren. Er hätte nicht die Kraft gehabt, sich einen anderen Ort zu suchen.

Anders wäre es gewesen, wenn Max noch da wäre. Max war sein einziger Vertrauter bei diesem Vorhaben gewesen. Mit ihm war er schon immer durch Dick und Dünn gegangen. Die anderen Freunde lagen entweder auf der Pflegestation des Heimes oder unter der Erde. Mit seinen Söhnen konnte er überhaupt nicht über so etwas reden. Sie waren stets der Meinung der Ärzte und ansonsten froh, wenn sie sich keine Gedanken um ihren Vater machen mussten. Doch Max war da anders.

'Dann komm ich eben mit', hatte er nur gesagt, als Arno ihm erzählte, dass er ins Heim gehen müsse und sich Sorgen machte, weil er dort niemanden kennen würde. Und Max war mitgekommen. Als Arno so schlimm erkrankt war, hatte er ihn zu den Arztbesuchen begleitet, ihn aufgemuntert und unterstützt wo er nur konnte – und unterstützen konnte er nun wirklich gut. Max war ein Organisations- und Beschaffungsgenie. Er hatte ihm auch die Medikamente besorgt, die es ihm überhaupt ermöglicht hatten, die Reise weitgehend schmerzfrei zu überstehen. Eigentlich sollte Max mitkommen. Er war von dem Plan völlig begeistert gewesen, als Arno ihm vor zwei Jahren davon erzählt hatte. Doch Max hatte es nicht geschafft. Ganz plötzlich war er vor neun Monaten verstorben – auf einem Spaziergang zusammengebrochen, einfach so. Dabei hatte er zuvor nie irgendwelche Ärzte besuchen müssen.

Von da an war Arno auf sich allein gestellt gewesen. Zunächst fühlte er sich wie gelähmt. Doch dann kehrte langsam sein Tatendrang zurück, und er arbeitete weiter an seinem Plan. Arno lächelte, als er an Max dachte. Der würde sich diebisch darüber freuen, dass dieser Coup so gut verlaufen war. Solche Aktionen hatte er immer geliebt. Ein wenig schlechtes Gewissen stieg in Arno allerdings schon auf. Er hatte Max nie den wahren Grund für diese Reise genannt. Aber Max hätte es verstanden. Doch nun, da er nicht mehr war, hatte sich dieses Thema auch erledigt.

Da Max nie seine Bezugsquellen verraten hatte, musste Arno sich in den letzten Monaten mühsam selber die notwendigen Informationen und Mittel beschaffen. Das verzögerte die Umsetzung seines Planes erheblich. Da ihm durchaus bewusst war, dass er aufgrund seines Alters eines vor allem nicht hatte, nämlich Zeit, überwältigten ihn immer wieder mal Anflüge von großer Nervosität und Hektik. Doch seine Söhne, die Pflegekräfte, Ärzte und Mitbewohner nahmen kaum Notiz davon. Doch dann war es so weit gewesen – er hatte alles, was er benötigte auftreiben können. Noch einmal goss er sich Tee ein. Es war ein sehr spezieller Tee. Vor allem die weiteren besonderen Zusätze waren schwer zu beschaffen gewesen. Genüsslich nahm er noch einen Schluck.

Kurz nach Mitternacht ging auf dem Notfallhandy der Nachtwache eines Hamburger Seniorenheimes eine SMS ein:

SIE KÖNNEN MICH ABHOLEN. ICH BIN AUF AMRUM. SIE FINDEN MICH BEI NORDDORF AUF DER AUSSICHTSDÜNE DIREKT AM STRAND ZWISCHEN BADESTRAND UND QUERMARKENFEUER. ES WÄRE SCHÖN, WENN VOR SONNENAUFGANG JEMAND HIER WÄRE, DAMIT MICH KEINE UNBETEILIGTEN FINDEN. VIELEN DANK FÜR ALLES! ARNO REICHERT
 

anbas

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Sterne des Meeres

Abenddämmerung lag über der Insel. Es war, als würde der Himmel den rötlich schimmernden Spalt zwischen der dunklen Horizontlinie und der grauen Wolkenkante mit aller Macht schließen wollen. Nur sehr langsam wurde er schmaler, bis das Meer und der Strand in völlige Dunkelheit gehüllt waren. Die Wolkendecke war so dicht, dass kein Sternenlicht durch sie hindurch drang, und nur ein matter Fleck über dem Leuchtfeuer, das seine Blitzlichter monoton in die Nacht schickte, ließ erahnen, wo sich der Mond befand.

Arno saß auf der Aussichtsdüne, die zwischen jenem Leuchtfeuer und dem kleinen Badestrand lag. Ein heißer Sommertag ging zu Ende. Die Nacht war warm und der kühle Luftzug, der vom Meer herüber wehte, tat ihm gut. Er verharrte bereits seit dem frühen Abend dort und hatte fast ununterbrochen auf das Meer gestarrt. Ein paar Stunden zuvor war er auf der Insel angekommen. Die Anreise hatte ihm sehr zu schaffen gemacht und steckte ihm schwer in seinen alten Knochen. Es war ganz anders als früher. Damals hatte er alle paar Jahre Urlaub auf Amrum gemacht, und die Anreise mit Bahn, Fähre und Bus locker weggesteckt. Doch nun war er 84. Sein Körper hatte schon lange nicht mehr die Kraft dazu, all das umzusetzen, was sich Arnos immer noch sehr reger Geist ausdachte.

Seit 17 Jahren hatte er keine Reisen mehr gemacht. Zunächst war es reine Bequemlichkeit gewesen. Dann folgte eine Erkrankung nach der nächsten, und seine Ausflüge beschränkten sich auf die Fahrten zu den einzelnen Arztpraxen. Diese Odyssee fand erst ein Ende, als er vor 4 Jahren in ein Seniorenheim zog. Dort hatte er sich zum Teil wieder erholen können. Aber eben nicht ganz, und daher trauten ihm die Mitarbeiter des Heimes gar nichts mehr zu und versuchten immer wieder, ihm seine Reisepläne auszureden. Aber Arno hatte es doch getan. Heimlich. Er grinste bei dem Gedanken, dass inzwischen wahrscheinlich schon Suchmeldungen nach ihm im Radio liefen.

'Tja, so kann man auch berühmt werden', dachte er sich und grinste noch breiter. Ihm war es egal, ob sich irgendjemand Sorgen um ihn machte. Er war an seinem Ziel angekommen.

Aus seinem kleinen Rucksack holte er eine Thermoskanne mit Tee hervor. Er war bekannt dafür, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jeder Temperatur gerne Tee trank. Um ein wenig Orientierung in der Dunkelheit zu haben, legte er eine kleine Taschenlampe neben sich auf die Bank. Sobald er sich eingeschenkt hatte, machte er sie wieder aus, starrte in die Dunkelheit und nippte an seinem Tee.

Arno hatte eigentlich auf eine klare Sternennacht gehofft. Doch während des Tages wurde die Wolkendecke immer dichter. Von der Fähre aus konnte er sogar eine Regenfront beobachten, die langsam an Amrum vorbeizog.

Nachdem er seinen Becher geleert hatte, zog er sein Handy hervor und las sich noch einmal in Ruhe den Text der SMS durch, den er dort bereits seit Tagen als Entwurf abgespeichert hatte. Zufrieden schaltete er es wieder aus. Bei seinen Vorbereitungen zu dieser Reise hatte er einiges über Handy-Ortung gelesen. Sie konnten ihn ja gerne finden, aber nicht so schnell. Dann schenkte er sich noch einen Tee ein. Aus der Dunkelheit schienen immer wieder Lichter zu ihm hinüber. Einige bewegten sich, andere strahlten ruhig in die Nacht und wiederum andere blinkten so, wie das Leuchtfeuer in seiner Nähe. Vor allem von der gegenüberliegenden Insel Sylt funkelte ein eindrucksvolles Lichterspiel über das schwarz umhüllte Meer.

'Sterne des Meeres', dachte Arno und grinste erneut. Wenn die Wolken auch die echten verdeckten, so war auf diese hier Verlass.

Er stand auf und reckte sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt noch irgendwelche Spaziergänger hierherkommen würden, war gering. Das wusste er aus Erfahrung. Wie oft hatte er früher an dieser Stelle gesessen, den Sonnenuntergang beobachtet und seinen Gedanken nachgehangen. Er liebte diesen Ort – besonders bei Sonnenuntergang und zur Zeit der Dämmerung. Er hatte sich in den letzten Jahren sehr danach gesehnt, noch einmal hier sein zu können. Bei aller Freude, dass er es nun geschafft hatte, spürte Arno aber auch die Signale seines Körpers. Die Fahrt war für ihn anstrengender gewesen, als er es erwartet hatte. Zum Glück befand sich die Aussichtsdüne noch an fast derselben Stelle, wie bei seinem letzten Besuch vor 18 Jahren. Er hätte nicht die Kraft gehabt, sich einen anderen Ort zu suchen.

Anders wäre es, wenn Max noch mit dabei wäre. Max war sein einziger Vertrauter bei diesem Vorhaben gewesen. Mit ihm war er schon immer durch Dick und Dünn gegangen. Die anderen Freunde waren entweder Pflegefälle oder lagen, wie nun auch Max, unter der Erde. Mit seinen Söhnen konnte er überhaupt nicht über so etwas wie diese Reise reden. Sie waren stets der Meinung der Ärzte und ansonsten froh, wenn sie sich keine Gedanken um ihren Vater machen mussten. Doch Max war da anders.

'Dann komm ich eben mit', hatte er nur gesagt, als Arno ihm erzählte, dass er ins Heim gehen müsse und sich Sorgen machte, weil er dort niemanden kennen würde. Und Max kam mit. Bereits als Arno so schlimm erkrankt war, hatte er ihn zu den Arztbesuchen begleitet, ihn aufgemuntert und unterstützt wo er nur konnte – und das konnte er nun wirklich gut. Max war ein Organisations- und Beschaffungsgenie. Diese Eigenschaften erwiesen sich dann auch bei der Vorbereitung der Reise als überaus nützlich. So besorgte er auch die Medikamente, die es ihm überhaupt ermöglichten, sie weitgehend schmerzfrei zu überstehen. Eigentlich sollte Max mitkommen. Er war von dem Plan völlig begeistert gewesen, als Arno ihm vor zwei Jahren davon erzählt hatte. Doch Max schaffte es nicht. Ganz plötzlich verstarb er vor neun Monaten – brach auf einem Spaziergang zusammen, einfach so. Dabei musste er zuvor nie irgendwelche Ärzte aufsuchen.

Von da an war Arno auf sich allein gestellt. Zunächst fühlte er sich wie gelähmt. Doch dann kehrte langsam sein Tatendrang zurück, und er arbeitete weiter an seinem Plan. Arno lächelte, als er an Max dachte. Der würde sich diebisch darüber freuen, dass dieser Coup so gut verlaufen war. Solche Aktionen hatte er immer geliebt. Ein wenig schlechtes Gewissen stieg in Arno allerdings schon auf. Er hatte Max nie den wahren Grund für diese Reise genannt. Aber Max hätte es verstanden. Doch nun, da er nicht mehr war, hatte sich dieses Thema auch erledigt.

Weil Max nie seine Bezugsquellen verraten hatte, musste Arno sich in den letzten Monaten mühsam selber die notwendigen Informationen und Mittel beschaffen. Das verzögerte die Umsetzung seines Planes erheblich. Da ihm durchaus bewusst war, dass er aufgrund seines Alters eines vor allem nicht hatte, nämlich Zeit, überwältigten ihn immer wieder Anflüge von großer Nervosität und Hektik. Doch seine Söhne, die Pflegekräfte, Ärzte und Mitbewohner nahmen kaum Notiz davon.

Noch einmal goss er sich Tee ein. Es war ein sehr spezieller Tee. Vor allem die weiteren besonderen Zusätze, die er nun mit in den Tee einrührte, waren schwer zu beschaffen gewesen. Entschlossen nahm er einen großen Schluck davon.

Kurz nach Mitternacht ging auf dem Notfallhandy der Nachtwache eines Hamburger Seniorenheimes eine SMS ein:

SIE KÖNNEN MICH ABHOLEN. ICH BIN AUF AMRUM. SIE FINDEN MICH BEI NORDDORF AUF DER AUSSICHTSDÜNE DIREKT AM STRAND ZWISCHEN BADESTRAND UND QUERMARKENFEUER. ES WÄRE SCHÖN, WENN VOR SONNENAUFGANG JEMAND HIER WÄRE, DAMIT MICH KEINE UNBETEILIGTEN FINDEN. VIELEN DANK FÜR ALLES! ARNO REICHERT
 



 
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