Sternenkind

Svalin

Mitglied
Gemessen an dem Sonnenlicht, das von der Seite in ihr Gesicht fiel, war es ungefähr acht Uhr. Manchmal auch schlagartig später, wenn sie den Kopf plötzlich in ihre Hand stützte und nachdachte, in ein Gespräch vertieft, das auf seltsame Weise gerade ein anderer Teil von ihm mit ihr führte. Wie vor eine große Leinwand versetzt, war er nur Beobachter, der staunend registriert, welchen Detailreichtum die Welt bei genauerem Hinsehen besitzt: Dieser Schatten, der so unglaublich anschmiegsam von der Nase herab über die Rundung der Wange glitt, irgendwo am Hals zu verlaufen schien. An den Mundwinkeln verlor er etwas von seinem harmonischen Dahinfließen. Hier wurden ihm die kleinen Lachfältchen zum Verhängnis.
Schatten müßte man sein. Verbotenes oder noch unentdecktes Land betreten dürfen. Wie auf den Miniaturlandschaften ihrer Iris. Man konnte genau die kleinen unregelmäßigen Erhebungen erkennen und die zarten Muskelfasern, die furchenziehend auf die Pupille zuliefen. Verwachsene Landebahnen? Wie würde das sein?

Versuch I

Feuerzeichen ertrinken
Lichtnebel tropft
verliert sich verblassend
am Rande der Iris
stehe ich am Abgrund
bereit zu fallen in die Tiefe
die forschend
nach mir greift


Würde es weh tun? Wahrscheinlich nicht. Ist doch nur ein mit Gelee gefülltes Sehorgan.
Woher kommt aber dann diese Faszination für das Besondere, Einzigartige? Die Art, wie manche Menschen sprechen, sich bewegen, lachen, wie der Glanz ihrer Augen auf uns wirkt, uns vereinnahmt zwischen Staunen und Erzittern, als hätte man hier etwas vor sich, daß einem gleichzeitig vertraut und doch völlig fremd ist. Woher kommen diese Prägungen? Sind es wirklich nur die späten Inkarnationen der Märchenfiguren unser frühen Kindheit? König Papa, Königin Mama und der ganze Hofstaat. Wer würfelte diese Erinnerungen durcheinander, daß wir in vielem einen Teil davon wiederzufinden scheinen, doch nie alles? Nie soviel, daß unser Herz bis ins letzte das Gefühl hätte, wieder zu Hause angekommen zu sein. Oder sind es doch nur die komplementären Ergänzungen, der Versuch, etwas Zerrissenes wieder zusammenzufügen? Das lebenslange Aneinanderreiben von Bruchlinien, Ecken und Kanten und stets nur Annäherungen, Kompromisse, Patchwork.
Ihre Augen waren da eine beunruhigende Ausnahme, ohne daß er bestimmen konnte, woran es lag. Etwas hielt ihn gefangen. Ein besonderer Glanz, der über diesem unergründlichem Schwarz lag, nur für ihn geschaffen schien und alle flackernde Disharmonien des Alltags schlagartig auf Null zurücksetzte. Ihre Augen hatten die Fähigkeit, ihn wie mit einem Traktorstrahl dem Zeitrahmen zu entreißen, aneinandergekoppelt zu schweben, während die Erde weiter rotierte mit allen Stimmen, Farben und Bewegungen. Wie wohl die Welt aus ihren Augen aussah?

Versuch II

alles
was eben noch
ernsthaft
bemüht war
nach draußen zu schauen
ist vom Fensterbrett gefallen
mit den Lichtern der Welt
in die Wiege ihrer Augen
hat sich gebettet
dann die Lider zugezogen
- eingeschlafen


Sie hatte für einen kurzen Moment die Augen geschlossen, den Kopf leicht zurückgeneigt, um die Sonne auf ihrer Haut zu genießen. Diese unerklärliche Faszination. Wie war das möglich? Irgendetwas in ihm verlor sich mit Vorliebe in diese Tiefen und sehnte schon jetzt ungeduldig den Moment, in dem sie wieder ihre Augen öffnen würde. Angekündigt von einem leichten Erzittern der Lidränder, als müßten erst die Motoren eines Observatoriums anlaufen, um in Zeitlupe die schweren Halbschalendächer zu öffnen. Sternenkind, durchzuckte es ihn. Vielleicht ist es die untrennbare Einheit von Dunkelheit und Geborgenheit, die am Anfang unseres Empfindens stand. Wir sind in einem kleinen Abbild des Universums herangereift. Schwärze rings herum, Schwerelosigkeit und ein kleiner Kosmonaut, mit einer Versorgungsschnur und viel Zeit zum Staunen: Über Geräusche, die gedämpft zu ihm drangen, unverständliche Schwingungen, die ihm von irgendwoher vermittelt wurden. Eine vertraute Ahnung von Dingen, die er nicht verstand, doch spürte. Vielleicht ist dieser Teil in uns, der Dunkelheit atmete und voller Ehrfurcht dem Herzschlag der Welt lauschte, noch vor jedem Bewußtsein und dem ersten Gedanken in uns eingeprägt war, doch noch nicht völlig verblaßt. Vielleicht ist es eine Art Heimweh, die uns ein Leben lang in den Augen der Menschen nach der einst vertrauten Schwärze suchen läßt, im steten Schmerz darüber, vom mütterlichen Herzschlag entkoppelt worden zu sein, entlassen in eine Welt voller Arrhythmien. Manchmal scheint es, als wäre man wieder nach Hause zurückgekehrt. Einen Augenblick lang.
Der Zeiger der Sonnenuhr war verblaßt. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Und noch immer unterhielten sie sich über irgendwas.

____________
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
rundum

gelungen. immer wieder ein genuß, etwas von dir zu lesen. aba 2 fehlerchen haste drin, lies mal noch mal nach. ganz lieb grüßt
 
K

kolibri

Gast
Ja Svalin, rundum gelungen, da muß ich Flammarion recht geben und eines Tages werden noch Pilgerfahrten zu Deinem Wohnort stattfinden, auf denen die Reiseleiterin dann sagt
"Treten Sie bitte zurück und sehen Sie, dort, dort hinter dieser Gardine wohnt Svalin, einer der letzten großen Romantiker dieses Jahrhunderts." Und die Leute werden mit zittrigen Fingern ihren Fotoapparat zücken und ein Bild von jener Gardine machen. ;-)

Liebe Grüße
kolibri
 

Svalin

Mitglied
Die Gardinen gibts bei Obi ;-)
für alles andere - DANKE!

Grüße Martin

P.S.: flammarion - hast du zufällig Lust, Lektorin zu werden? Ich find nämlich meistens die Restfehler nicht selber :-(
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Martin,

wenn ich einen Preis zu vergeben hätte, mit dem die beste Kritikerin der Leselupe auszuzeichnen wäre, dann hätte ich wahnsinnige Probleme, mich zwischen Andrea und kolibri zu entscheiden. Damit will ich dir nur sagen, wenn dir von Kolibri solches Lob widerfährt, dann kann ich mir jeden Kommentar locker schenken und die hier so oft geschmähten, aber an dieser Stelle unumgänglichen Worte ausrufen: "Schließe mich der Meinung meiner Vorrednerin an!"

Nur eine winzige Frage: Was ist ein "Traktorstrahl" ?

Gruß Ralph
 

Svalin

Mitglied
Traktorstrahl

wird von Raumschiffen in bekannten Fernsehserien benutzt, um Objekte in näherer Reichweite "festzuhalten", eine Art Schlepptau ohne Seil ;-)

ausführliche Details ... hier

Grüße Martin

P.S.: Hatte nicht bedacht, daß manche/einige/viele diese Serien vielleicht nie gesehen haben ;-) *schäm*
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke Martin,

nun war es mir nicht nur vergönnt, einen außergewöhnlich schönen Text zu lesen, sondern ich bin auch noch ein winziges Stück klüger geworden. ;-))

Gruß Ralph
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
fühle

mich sehr geehrt, aber ich habe keine lust, mir die neuen rechtschreibregeln draufzudrücken. sie entstellen so vieles. ich finde, mit dieser reform ist ein stück deutscher sprache verlorengegangen. ganz lieb grüßt
 
K

kolibri

Gast
Lieber Ralph,

diese Worte, noch dazu aus Deiner Feder freuen mich ganz besonders. Aber trotzdem finde ich keinesfalls, daß Du Dir auch nur einen einzigen Kommentar schenken solltest, allein daß Du eine solche Kommentarschenkung auch nur in Erwägung ziehst, kann ich nicht gutheißen. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, Dich mit einem Traktorstrahl zu koppeln ;-))

Grüße
kolibri
 
L

leonie

Gast
hallo Svalin

eine geschichte zum träumen, bitte bitte nicht wecken.
hat mir toll gefallen.
ganz liebe grüße leonie
 
B

borax

Gast
Ja,ja

die Sache mit dem Traktorstrahl...
Gefällt mir ausserordentlich besonders schön. Vorallem die Zeilen, wo es um die Augen geht. Da hast du die pure Wahrheit geschrieben, wieso?
Weil man aus den Augen sehr viel lesen kann und insofern all das beschriebene, aber so was von hart aus der Realität, ohne Schnörkelchen, gezogen. Das alles dafür geben würde das Sternenkind zu sehen, nur um der Augen willen....

ganz lieb grüßt borax
 
K

Kadra

Gast
Hallo Svalin,

wo nimmst du nur diesen Ideenreichtum, diese Gefühlsintensität her? Diese Fülle sein Eigen zu nennen und sie dann auch noch so perfekt umzusetzen, dass ist dann wohl wirklich Begabung und Talent. Kann ich schon jetzt ein Foto von deiner Gardine machen? Ich hasse Turistenansammlungen. ;)

Lieben Gruss von
Kadra
 

Svalin

Mitglied
Hallo Leonie, borax und Kadra

danke für die netten Kommentare!

>Da hast du die pure Wahrheit geschrieben, wieso?<
>wo nimmst du nur diesen Ideenreichtum, diese Gefühlsintensität her?<

Manches passiert wirklich, ohne daß man im entferntesten eine Ahnung hat, wieso. Manchmal braucht man Jahre, um dafür Worte zu finden.
Wie in "Ein Augenblick" ist diese Geschichte auch nur eine Fortsetzung des eigenen Bemühens, verstehen zu wollen ... eine Art Vergangenheitsbewältigung ;-) Und vielleicht ist es wieder nur eine unvollkommene Annäherung an kaum faßbare Ahnungen und Empfindungen.
Vielleicht schreib ich über die gesamte Geschichte (sie ist ja nicht abgeschlossen) mal einen Roman ;-)

Grüße Martin
 



 
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