Sternenstaub

Sternenstaub

Staub an Deinen Füßen – das Gesicht bestaubt,
doch am Himmel grüßen – Sterne über Deinem Haupt.
Wandern wir im Kreise ewig um den Kern ?
Wohin geht die Reise zwischen Staub und Stern ?
Zwischen Staub und Sternen wandern wir dahin ....
(Autor unbekannt)


Diese Geschichte ist meinem Großvater gewidmet, der mich in meiner Kindheit mit den schönsten Geschichten erfreut hat und der nach seinem Tod immer in meinen Gedanken gegenwärtig ist.
Wenn ich in klarer Sternennacht in den Himmel blicke, höre ich noch immer seine liebevolle Stimme und das Leuchten der Sterne gibt mir die Gewissheit, dass auch er mich noch immer beschützt.




Lara und Ben saßen auf dem Fussboden. Vor ihnen stand ein großer, roter Sessel, in dem der Großvater der beiden Kinder saß.

Immer wenn Lara und Bens Eltern auf Reisen waren, kümmerten sich die Großeltern um ihre Enkel. Diesmal waren die Eltern für ein paar Tage geschäftlich im Ausland.
Am Flughafen hatten sie sich von ihren Kindern verabschiedet; einerseits ein bisschen traurig, dass sie die Kinder nicht mitnehmen konnten, aber andererseits auch beruhigt, denn bei den Großeltern wussten sie ihren Sohn und ihre Tochter gut
aufgehoben.

Den Nachmittag verbrachten Lena, die am Vormittag in den Kindergarten ging und Ben, der bereits die erste Klasse besuchte, zusammen mit den Großeltern.
Sie liebten es ganz besonders mit dem Großvater im kleinen Stübchen zu sitzen und ihm zuzuhören, wenn er ihnen Geschichten erzählte.

Großvater konnte die schönsten, spannendsten und geheimnisvollsten Geschichten erzählen.
Er erzählte viel aus seiner Jugendzeit, wie er als Sohn eines Schäfers mit vielen Tieren naturverbunden aufwuchs. Über die verschiedensten Tiere konnte er etwas berichten und manchmal waren seine Geschichten wirklich so unglaublich, dass die beiden Kinder laut auflachten und wie aus einem Munde sagten: „Opa, hast du nicht vielleicht ein bisschen übertrieben?“
Der Großvater wiegte seinen Kopf ein wenig hin und her und brummelte mit tiefer Stimme: „Glaubt’s oder glaubt’s nicht!“

Da war zum Beispiel die Geschichte von den Stofftieren, die beide Kinder mit Begeisterung sammelten. Großvater hatte ihnen erzählt, dass in der Sylvesternacht alle Tiere miteinander reden könnten, auch die aus Stoff.
Lara und Ben hatten sich das gemerkt und in der Nacht des 31. Dezembers aufmerksam darauf geachtet, ob wirklich so etwas passierte. Doch die Stofftiere saßen genauso regungslos da, wie die übrigen 364 Nächte des Jahres.

Als die Kinder den Großvater darauf ansprachen, brummelte er nur wieder:
„Glaubt’s oder glaubt’s nicht!“
Im Stillen aber glaubten die Kinder an die Geschichten, die ihnen der Großvater erzählte. Wahrscheinlich hatten sie nur nicht richtig hingehört – aber beim nächsten Mal, da wollten sie besser aufpassen.

Großvater erzählte auch vom Klo-Geist, der immer dann zum Leben erwachte, wenn jemand an der Klospülung zog.
Lara und Ben rannten nacheinander auf das Klo, aber außer dem Wasserrauschen war das nichts zu hören – oder doch, war da nicht das Murmeln einer Stimme zu hören? „Glaubt’s oder glaubt’s nicht!“

Am meisten machte es Lara und Ben aber Spass, den Großvater über Dinge auszufragen, die sie interessierten.
Ben hatte in der Schule schon viel darüber gehört wie das so mit den Babies war – woher sie kamen und wie es vor sich ging. Er hatte auch schon seine Eltern gefragt, doch die hatten ihm alles ganz ruhig und nüchtern erklärt, so dass nichts Geheimnisvolles oder Spannendes mehr blieb und es genauso zu sein schien wie er das von seinen Klassenkameraden gehört hatte.

Ben wollte das nun noch einmal von seinem Großvater hören. Der Großvater war aber zu einer ganz anderen Zeit geboren worden, in der diese natürlichen Vorgänge nicht unbedingt schon kleinen Kindern bis in alle Einzelheiten erklärt wurden.
Deshalb wusste Ben auch schon vorher, das seine Geschichte ein klein bisschen anders sein würde.

So saßen Lara und Ben auf dem Fussboden vor dem Großvater, der seinen Kopf auf seine rechte Hand gestützt hatte und lauschten gespannt seinen Worten.

„Kinder sind Sternenstaub“, waren seine ersten Worte. „Wenn ihr euch in einer klaren Nacht den Himmel anseht, werdet ihr viele, viele Sterne entdecken und wenn ihr denkt, dass ihr alle gesehen habt, so leuchtet immer noch einer mehr als ihr zählen könnt.“ Der Großvater atmete tief durch. „So ein Stern ist Jahrtausende alt und genauso wie ein Mensch während seines Lebens Haare verliert“ – dabei fuhr er sich mit der Hand über den Kopf – „verliert ein Stern Staubkörnchen.“
Lara und Ben blickten sich an. Sie wagten es aber nicht den Großvater mit Fragen zu unterbrechen.

„Diese Staubkörnchen fliegen durch das Weltall und fallen eines Tages auf die Erde. Je nach Drehung der Erde werden sie in bestimmte Länder getragen – auf bestimmte Menschen, die dann ein Kind bekommen.“ Der Großvater räusperte sich. „Die Chance vom Sternenstaub getroffen zu werden ist höher als auf einen Lottogewinn“, fügte er schmunzelnd dazu.

„So erklärt es sich auch, warum manche Menschen, die gar keine Kinder wollen, trotzdem welche bekommen. Sie konnten dem Sternenstaub nicht ausweichen“, fuhr der Großvater fort.
„Manchmal fällt der Sternenstaub in großen Mengen auf die Erde. Dort gibt es dann besonders viele Kinder und manchmal bekommen Menschen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, nichts von diesem Sternenstaub ab.“ Der Großvater nickte den beiden Kindern zu.

„Woher willst du das wissen – das mit dem Sternenstaub?“ fragte Ben neugierig. „Ich weiß’ es eben!“ brummte der Großvater ein bisschen trotzig, holte tief Luft und wandte sich an Ben.

„Ben, du hast doch schon mal ein kleines Baby gesehen. Dann hast du vielleicht auch das Leuchten in seinen Augen bemerkt?“ sagte der Großvater mit tiefer Stimme.
„In diesem Leuchten sieht man noch immer ein bisschen vom Sternenglanz“, fuhr der Großvater fort. Ben und Lara kicherten leise. So recht wollten sie dem Großvater das nicht glauben, aber trotzdem sagten sie kein Wort, sondern warteten gespannt darauf, was der Großvater weiter erzählen würde.

„Sicher habt ihr auch schon mal eine Sternschnuppe gesehen?“ fragte der Großvater die beiden Kinder.

„Ja klar!“ antworteten beide wie aus einem Mund, „und wir haben uns dabei etwas gewünscht!“

„Immer wenn eine Sternschnuppe vom Himmel fällt, wird ein ganz besonderer Mensch geboren. Das müssen nicht immer berühmte Leute werden. Nein, das sind Menschen wie Du und ich, aber wenn sie etwas aus ihrem Leben machen, werden sie vielleicht zu berühmten Menschen“, erzählte der Großvater weiter.
„Und wenn sie nicht berühmt werden, sind sie für die Leute, die sie kennen etwas Besonderes - so wie ihr beide etwas Besonderes für mich seid.“

Lara und Ben warteten, ob der Großvater weiter erzählen würde. Eigentlich hatten sie ja viele Fragen, aber es war einfach schöner, den Erzählungen zu lauschen.

Ben nutzte die kleine Pause und redete einfach los: „Opa, was sind weiße Riesen und schwarze Löcher und warum hat man die Sternbilder mit Namen bezeichnet?“

Der Großvater räusperte sich. Jetzt musste er sich aber etwas einfallen lassen, denn die Fragen von Ben waren schon ganz schön schwierig.

„Also, das ist so zu erklären“, hab der Großvater an, „weiße Riesen sind Sterne, die kurz vor dem Erlöschen sind. Ein großer Teil ihres Sternenstaubes ist bereits auf die Erde gefallen und mit all ihrer letzten Kraft versuchen sie noch einmal, ihren Sternenstaub im Weltall zu verteilen, dann erlöschen sie und werden zu schwarzen Löchern.“
Der Großvater schloss die Augen und sein Gesicht wirkte nun sehr nachdenklich.
„Auch ein Stern strahlt nicht ewig am Himmel – sicherlich länger als wir uns das vorstellen können, aber auch Sterne hinterlassen eine Lücke wenn sie nicht mehr da sind.“

Es interessierte die beiden Kinder brennend, noch mehr über die Sterne zu erfahren, aber der Großvater war müde geworden und mochte nicht mehr erzählen.
„Fällt dir wohl nichts mehr ein?“, stellte Ben vorlaut fest, doch der Großvater schmunzelte und schüttelte den Kopf.
„Ich weiß noch viel mehr zu berichten – aber nicht mehr heute!“

Ben wusste genau, dass dies alles nur die Fantasien des Großvaters waren, dass alles ganz anders war, aber es klang alles so wahr und verständlich, dass er doch ein bisschen daran glaubte.
Und was Ben glaubte, das glaubte auch Lara.

Die beiden Kinder verließen das Zimmer des Großvaters. Morgen – ja morgen, da wollten sie weiter den Geschichten lauschen.
Während Lara und Ben im Garten umhertollten, war der Großvater in seinem Sessel eingeschlafen. Die Erzählungen hatten ihn müde gemacht.

Gleich am nächsten Morgen wedelte Ben mit der Tageszeitung vor des Großvaters Nase herum.
„Hier steht was ganz Komisches“, rief er dem Großvater zu. „Lies selbst!“ Ben traute sich noch nicht so richtig etwas laut vorzulesen.
Der Großvater griff die Zeitung, setzte seine Brille auf und las laut vor: „Die Zukunft steht in den Sternen!“ Lächelnd schüttelte er den Kopf, „das ist doch nichts Besonderes. Es ist doch klar, dass mit Hilfe der Sterne in die Zukunft sehen kann.“
„Wie denn das?“, fragte Ben und Lara blickte den Großvater mit erwartungsvollen Augen an. Beide wussten, dass jetzt wieder eine von Großvaters schönen Geschichten folgen würde.

„Setzt euch hin und hört mir zu!“, wies der Großvater die beide Kinder an, hüstelte einmal und ein zweites Mal und fing mit fester Stimme seine Erzählung an:
„An den Tagen, an denen ihr geboren wurdet, standen die Sterne alle auf einem ganz bestimmten Platz im Weltall. Am Abend von Bens Geburtstag habe ich in den Sternenhimmel geschaut und sah den Stern Regulus besonders hell leuchten.“

Der Großvater wandte sich an Ben. „Du, Ben, bist im Sternbild des Löwen geboren und der Name des hell leuchtenden Sterns bedeutet ‚kleiner König’. Das warst du an dem Tag deiner Geburt für deine Eltern und wenn du ganz ehrlich bist, manchmal benimmst du dich auch noch heute so.“
Ben wollte etwas dagegen sagen, aber Lara hatte schon angefangen zu plappern: „Klar, Opa und brüllen wie ein Löwe das kann er auch!“
„Ach, du hast das ja gar nicht richtig verstanden!“, schnauzte Ben in Richtung Laras.
Der Großvater schaute amüsiert auf seine beiden Enkel. „Tja, Ben und so wie der Stern sich verändert – so wie er seine Position zu den anderen Sternen verändert – so wirst auch du dich ändern!“

„Opa“, Lara zupfte am Hemdärmel des Großvaters, „was weißt du über meinen Stern?“
Der Großvater strich Lara liebevoll über den Kopf. „Lara, dein Stern leuchtet immer wunderschön. Es ist vielleicht das schönste und eindrucksvollste Sternbild des ganzen Himmels, denn an dem Tag an dem du geboren wurdest, leuchtete Bellatrix ganz hell und strahlend am Himmel.“
„Weiter, erzähl’ weiter“, Lara wollte mehr darüber hören.

„Dieser Stern gehört zum Sternbild des Orion. Dieses Sternbild ist wirklich schön“, fuhr der Großvater mit seiner Erzählung fort.
„Der Sage nach konnte Orion alles besiegen, nicht mit Waffen, sondern mit seiner Schönheit und Kraft. Und wenn ich Dich so anschaue, dann sehe ich schon jetzt, dass du ein hübsches Mädchen bist und mit deiner Kraft auch viel erreichen kannst.“
Ben prustete vor Lachen los: „Die und hübsch ? – Keine Zähne, Sommersprossen, viel zu dünne Beine – da muss sich aber noch viel verändern...!“
Der Großvater schmunzelte. „Mich hat sie damals schon um den Finger gewickelt.
Ich wollte keinen zweiten Schreihals im Hause haben“ – dabei blickte er auf Ben –
„ich wollte in den Keller ziehen...!“
Ben und Lara sahen sich an. Lara verzog das Gesicht zu einer Grimasse und Ben streckte ihr die Zunge aus.
„Auch wenn ihr euch noch soviel streitet. In den Sternbildern von euch beiden sind viele Doppelsterne und das bedeutet, dass ihr immer gerne zusammen sein werdet und auch, wenn ihr erwachsen seid, nicht aus den Augen verliert.“
„Abwarten!“, dachte Ben, aber im Stillen musste er ja zugeben, dass er seine Schwester doch ganz gern hatte.
Ben und Lara waren stolz darauf wie der Großvater ihre Sternbilder erklärt hatte und
ihnen wurde bewusst, dass er sie beide sehr lieb hatte.
Lara hüpfte auf den Schoß des Großvaters, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, rutschte wieder auf den Boden und verschwand mit Ben im Garten.
Gedankenversunken schaute der Großvater beiden nach – es lag ein wenig Wehmut in seinem Blick.

Am Abend saßen Ben und Lara vor dem Fernseher und sahen wie eine Rakete mit Astronauten an Bord auf eine Reise ins Weltall geschickt wurden.
„Mensch, da frage ich aber Opa, warum man so etwas tut“, sagte Ben zu Lara und Lara nickte ganz eifrig.

Beide wussten, dass sich der Großvater in sein kleines Stübchen zurückgezogen hatte. Er saß im Sessel und es sah aus als ob er schliefe.
„Psst, Opa, bist du wach?“, fragte Ben ganz leise und Lara zupfte vorsichtig an der Weste des Großvaters.
„Mmmh, seid ihr schon wieder da?“, kam eine schroffe Stimme aus Richtung des Sessels. Ben und Lara sahen sich an. Was war mit dem Großvater los? So einen schroffen Ton waren sie überhaupt nicht von ihm gewohnt.

Der Großvater räusperte sich. „Na gut, kommt her – ich hab’s ja gar nicht so gemeint, aber ich bin müde, einfach müde.“ In diesem Worten klang etwas mit, was Ben und Lara noch nie von ihrem Großvater gehört hatten und was sie auch nicht verstehen konnten.

Lara kuschelte sich ganz nahe an ihren Großvater und Ben setzte sich im Schneidersitz auf den Boden vor dem Sessel.
Beide wagten es nicht auch nur einen Ton zu sagen bis schließlich der Großvater mit tiefer und jetzt ganz sanfter Stimme fragte: „Na, ihr beiden, was habt ihr denn für eine Frage?“
Ben hob den Kopf und sagte leise: „Wir wollen dich aber nicht nerven. Du siehst so müde aus und wenn du nichts erzählen willst, dann bleiben wir hier einfach ganz still sitzen.“
Lara kuschelte sich bei den Worten Bens noch ein bisschen dichter an den Großvater.
„Nein, nein – ihr beide nervt mich überhaupt nicht“, brummelte der Großvater mit seiner tiefen Stimme. „Es tut mir leid, wenn ich euch Angst gemacht habe, aber einen Moment dachte ich, dass mich jemand ruft, den ich noch nicht kenne.“

‚Jetzt’ – dachte sich Ben, ‚jetzt kann ich wieder fragen!’ „Äh, Großvater – wer soll dich gerufen haben? Wir waren das nicht...!“
„Vielleicht war es die Unendlichkeit – Ben, das kann ich dir nicht beantworten“, seufzte der Großvater.
„Häh, die Unendlichkeit – was ist das denn?“ Ben verstand kein Wort mehr. Er dachte aber im nächsten Moment schon wieder an seine Astronauten und überlegte, wie er beide Dinge unter einen Hut und zu einer Frage bringen konnte.

„Werden Astronauten auch gerufen, suchen sie die Zukunft oder warum fliegen sie ins Weltall?“ Benn wollte es jetzt endlich loswerden und wenn auch die Frage keinen
Zusammenhang zu haben schien – er war sie endlich los.

Der Großvater wiegte den Kopf leicht hin und her. „Ob die Astronauten gerufen werden, das kann ich dir nicht sagen, denn ich habe noch mit keinem sprechen können. Vorstellen kann ich mir das schon, denn es gehört doch eine Menge Mut dazu, sich in den Weltraum zu den Sternen schicken zu lassen. Ich selbst hätte den Mut nicht!“
Die Kinder lachten laut auf. „Wie, du hättest keinen Mut – das glauben wir dir nicht!“
„Na gut, ich bin ja auch nie gefragt worden,“ antwortete der Großvater ein bisschen verletzt.
„Nein, aber jetzt ganz ernst“, fuhr der Großvater fort. „Ich glaube schon, dass die Astronauten gerufen werden. Irgendetwas zwingt sie, sich dieser Strapaze zu unterziehen. Irgendetwas ruft sie.“
„Sie fliegen in das Weltall – ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Oder wissen sie es doch?“, entgegnete Ben seinem Großvater und Lara blickte von einem zum anderen.

Der Großvater stützte seinen Kopf auf die Hand. „Es scheint, als wollen die Menschen ihr leben durch das Weltall begründet sehen. Sie suchen die Spuren ihrer Herkunft und seht ihr – sie suchen sie bei den Sternen.“ Und voller Überzeugung setzte der Großvater hinzu: „Erinnert ihr euch, was ich über den Sternenstaub erzählt habe....!“
Ben sah den Großvater mit weit aufgerissenen Augen an – so hatte er das noch gar nicht gesehen. Sollte letztendlich der Großvater doch Recht haben.

„Morgen kommen eure Eltern wieder“, rief die Großmutter ins Zimmer.
„Na ja!“, sagte Ben „sie bringen bestimmt etwas Schönes mit.“ Und leise fügte er hinzu „... aber ganz ehrlich! Wir sind lieber bei euch, Oma und Opa!“ Lara nickte zustimmend.

„Zeit zum Schlafen!“ Großmutters Stimme klang unerbittlich.
„Gute Nacht, Opa!“ klang es zweimal durch das Zimmer. Der Großvater lächelte seine Enkel an und wünschte sich im Stillen, dass er noch viel Zeit mit ihnen verbringen könnte.

Wie jeden Abend vor dem Schlafengehen blickten Ben und Lara aus dem Fenster
in den Himmel. Ben konnte viele Sterne erblicken, doch der hellste Stern stand heute an einer ganz anderen Stelle. Nachdenklich blickte Ben umher. „Heute stehen die Sterne ganz anders als vor ein paar Tagen!“, sagte er leise zu sich selbst.
Lara knufte ihn in die Seite. „Was hast du gesagt?“
„Heute sieht der Himmel anders aus!“, antwortete ihr Ben.
„Na das ist doch klar!“ gab Lara naseweis zurück. „Das habe ich doch schon von Opa gelernt, dass kein Tag wie der andere ist und dass deshalb auch der Sternenhimmel täglich anders ist...!“
„Jetzt fängst du auch schon mit solchen Sprüchen wie Opa an“, machte sich Ben über Lara lustig.
„Pah, das habe ich mir selbst auch gedacht!“, erwiderte Lara beleidigt, drehte sich um, schlüpfte ins Bett und zog die Bettdecke über den Kopf.
Ben stand noch lange am offenen Fenster, blickte in den Sternenhimmel und hörte ganz leise noch immer die Worte seines Großvaters.

Am nächsten Tag kehrten Lara und Bens Eltern wieder von ihrer Reise zurück – in ihrem Gepäck viele kleine Mitbringsel für die Kinder.
So sehr sich Lara und Ben auch darüber freuten, dass ihre Eltern wieder da waren, so wichtig war ihnen aber auch, den Eltern die Geschichten zu berichten, die ihnen der Großvater erzählt hatte.
Der Tag verging und als beide am Abend vor dem Schlafengehen wie gewohnt aus dem Fenster sahen, war der Himmel wolkenverhangen – kein einziger Stern war zu sehen.

Sofort nach dem Aufstehen liefen die beiden zu ihrer Mutter. „Heute Nachmittag wollen wir zu Oma und Opa!“, sagte Ben und Lara nickte zur Bestätigung heftig mit dem Kopf.
Doch die Mutter erwiderte ihnen mit betrübten Gesicht: „Opa geht es heute nicht so gut, deshalb könnt ihr die beiden heute nicht besuchen!“

Irgendwann am Nachmittag klingelte das Telefon. Ben und Lara versuchten zu erraten mit wem ihre Mutter wohl sprach. War es Oma? Konnten sie doch zu ihnen?
Doch schnell merkten sie, dass etwas nicht stimmte.
Sie sahen wie ihrer Mutter Tränen in die Augen stiegen und ihre Stimme immer leiser wurde. „Ja, wir kommen sofort!“ – und sie legte den Hörer langsam auf.

„Großvater ist tot“, sagte sie mit leiser Stimme und Tränen in den Augen zu Lara und Ben, die sie erwartungsvoll anblickten.
Ben und Lara konnten die Bedeutung dieser drei Worte noch nicht sofort begreifen, aber sie merkten, dass sich von Minute zu Minute in ihrem Leben etwas geändert hatte.
Sie fielen ihrer Mutter in die Arme und eine Zeit lang war nur ein Schluchzen zu hören.

„Können wir zu Oma und ... “, schnell unterbrach Ben seine Schwester.
„Wir möchten zu den Großeltern!“ sagte er mit fester Stimme aber mit Tränen in den Augen. Die Mutter nickte.

Es war wie immer wenn sie zu den Großeltern gingen, doch als Großmutter die Tür öffnete, merkten sie, dass heute alles anders war.
Keine fröhliche Begrüßung, kein Pfeifen des Großvaters war zu hören, stattdessen fielen sich die Erwachsenen wortlos in die Arme.
Lara und Ben standen ein bisschen verloren daneben.
„Kommt nur herein! Ich bin so froh, dass ihr da seid“ waren die Worte der Großmutter.

Ben und Lara liefen zu Großvaters kleinem Stübchen und drückten leise die Tür auf.
Lara suchte Bens Hand, griff nach dieser und hielt sich ganz fest. Ben wiederum ergriff die Hand der Großmutter und so betraten die drei – Hand in Hand – das Zimmer des Großvaters.
Der Großvater saß in seinem Sessel und hatte die Augen geschlossen. Sein Kopf war ein wenig zur Seite geneigt – es sah aus als ob er schliefe, doch sein Gesicht war von einem geheimnisvollen Leuchten überzogen.

Jeder im Zimmer fühlte die friedliche Stimmung und niemand mochte sie auch nur durch ein Wort zu stören.
Lara war die erste, die nach einer Weile die Stille durchbrach, zum Großvater lief, seine Hand streichelte und leise schluchzte: „Tschüß, Opa – du bist jetzt der hellste Stern, den es je gab!“
Ben stand wie versteinert da. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sein über alles geliebter Großvater konnte ihm keine Fragen mehr beantworten, keine Geschichten mehr erzählen – kein ‚Glaubt’s oder glaubt’s nicht’ mehr brummen.
Mit hängendem Kopf drehte er sich um und verließ das Zimmer, dann nahm ihn seine Mutter in den Arm und er weinte leise.

Lara war die erste, die an diesem Abend am Fenster stand.
„Ben, komm’ schnell und schau!“ Ich sehe einen neuen Stern“ rief sie aufgeregt ihrem Bruder zu. Ben kam zum Fenster. „Wo?“ fragte er ziemlich ungläubig.
„Dort!“ Lara streckte seinen Arm aus und deutete mit dem Finger in den tiefdunklen Himmel.
„Der ist aber hell“ – Ben hatte den Stern jetzt auch entdeckt. „Das ist bestimmt Großvaters Stern, der ab heute besonders hell leuchtet!“
„Ich hab’s ja immer gewusst! Großvater hat immer recht gehabt! Glaub’ es oder glaub’s nicht!“ sagte Lara selbstbewusst und über Bens Gesicht huschte trotz aller Traurigkeit ein Lächeln.

Ganz lange standen Lara und Ben an diesem Abend am Fenster und blickten in den Sternenhimmel und im leisen Wind hörten sie die liebevolle Stimme des Großvaters – „Glaubt’s oder glaubt’s nicht!“

Sie glaubten jetzt die Geschichten ihres Großvaters, die sie wohl eines Tages ihren eigenen Kindern erzählen werden.



Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein,
als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne...
(Antoine de Saint Exupéry – Der kleine Prinz)
 

3-Haar

Mitglied
Hallo Gabi, auch ich bin erst neu hier. Ich lese regelmäßig
die Geschichten und Kritiken umzu lernen. Deine Geschichte gefällt mir supergut. Ich finde sie trifft direkt ins Herz.
Der Tod ist immer etwas trauriges, aber Du hast dieses Ereignis so beschrieben, daß man sich dafür nicht fürchten muß. Großes Kompliment, weiter so

Gruß 3-Haar
 



 
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