Stiefel

Kyra

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Stiefel (Thema von Blind, andere Geschichte)


Die Nächte waren inzwischen sehr kalt. Ihre Hände umklammerten die Griffe der Schubkarre. Der eisige Wind durchdrang die Schichten von Unterhemden, Pullovern und der derben Strickjacke mühelos. Vor wenigen Stunden hatte sie noch vor Anstrengung geschwitzt, als sie die Karre den gewundenen Weg bergauf schob. Da war sie noch bei den anderen gewesen, bei ihrer Familie und den wenigen, die heute Morgen als letzte das Dorf verlassen hatten. Alle hatten schwer zu schleppen, Marfas Mutter musste die beiden Kleinen schon nach wenigen Stunden tragen, trotzdem ist sie nicht zurückgeblieben. Sie mussten sich alle sehr beeilen, das Grollen der Geschütze war bereits aus der Ferne zu hören, keine Zeit für eine kurze Rast. Die Mutter trieb sie immer wieder an, trotzdem blieb sie weiter und weiter zurück,
… bitte lass mich einen Augenblick ausruhen, Mutter. Ich komme nach. Ich kenne den Weg zum Lager…, sieh doch mir kippt die Karre um, ich kann sie nicht mehr halten…, ich schlafe bestimmt nicht ein, muß mich nur einmal ein wenig setzten….

Die Mutter ist schließlich mit den anderen weiter gezogen, Marfa war ja schon ein großes Mädchen mit ihren vierzehn Jahren. Als sie dann erschöpft am Rande des Weges saß, es war Nachmittag und die Sonne schenkte noch ihre letzte Herbstwärme, war sie doch eingeschlafen. Sie erwachte bei Einbruch der Dämmerung. Marfa sprang rasch auf, fast wäre sie über die zwei langen Röcke gestolpert, die sie trug. Sie trug alles am Leib, was sie an Kleidung besaß, trotzdem würde die Kälte bald bis zu ihrer Haut durchdringen.
Eilig rückte sie die Habseligkeiten ihrer Familie in der Schubkarre zurecht, ein kleines Fernsehgerät mit verbogenen Antennen, Gummistiefel, alle Decken die sie hatten und eine kleine Holkiste mit Fotos und dem wenigen Schmuck der Mutter, Essbesteck, zwei Töpfe und ein wenig Geschirr. All dies war mit mehreren Seilen zu einem schwankenden Haufen zusammengebunden. Sie musste beim Schieben aufpassen, versuchen den Schlaglöchern auszuweichen, die dicken Steinbrocken welche manchmal mitten auf dem Weg lagen umkurven. Am Tage war das kein Problem gewesen, jetzt hatte die Nacht sie erreicht, der letzten hellen Streifen verschwanden hinter der Mauer des Gebirges. Marfa fürchtete die Dunkelheit nicht. Sie war noch nie alleine so weit aus dem Dorf hinausgewandert, aber so lange sie auf dem Pfad blieb, würde sie zum Lager kommen. Sicher war ihre Mutter besorgt, sie musste sich eilen, durfte aber auf keinen Fall ihr schaukelndes Gefährt umkippen.
Sie konnte den knochenweißen Weg vor sich gut erkennen. Der aufgehende Vollmond schien hell, plötzlich hatte sie das Gefühl, aus den nahen Bergen beobachtet zu werden. Sie wusste, was die Soldaten mit Frauen machten, mit ihrer Mutter hatten sie es schon zweimal gemacht – es hatte für Marfa keinen Namen, ihre Mutter wollte nicht darüber sprechen. Einmal, als Marfa noch ein Kind war, drangen eine ganze Horde Männer in das Haus ein, einer der Soldaten stieß sie aus dem Zimmer. Weinend hörte sie damals die Bitten und Schreie der Mutter durch die geschlossene Tür.
Die Erinnerung daran ließ sie schneller gehen, fast wäre sie gegen eine großen Stein gestoßen. Jetzt hatte sie Angst, obwohl die Schüsse aus weiter Ferne zu ihr drangen, fühlte sie Blicke auf sich. Marfa versuchte sich auf die steinige Strecke zu konzentrieren. Wenig später musste sie einen Augenblick anhalten, ihre Hände waren inzwischen so kalt, sie musste sie bewegen, um sie etwas zu erwärmen.
Die Augen furchtsam zu den nahen Hügeln gerichtet, wollte sie ihren warmen Atem in die Handflächen blasen. Marfa erstarrte vor Schreck, ihre Hände waren verschwunden, auch die Ärmel ihrer Jacke schienen leer zu sein. Ungläubig fasste sie sich ins Gesicht, hier konnte sie die Spitzen ihrer eisigen Finger genau fühlen. Sie fühlte sich wie in einem Traum, als sie vorsichtig dorthin blies, wo ihre unsichtbaren Fingerspitzen zu sein schienen. Ein schmerzhaftes Kribbeln ging der langsamen Erwärmung voraus. Offenbar war alles wie sonst, nur waren sie nicht mehr zu sehen. Neugierig hob sie ihre Jacke und Pullover, nichts, ihr Bauch war ebenso verschwunden wie ihre Brüste. Auch als sie umständlich ihre Röcke hob, waren die Beine unter den derben Wollstrümpfen nicht mehr sichtbar.

Obwohl sie nicht verstand, was dies bedeuten könne, war sie erleichtert, ja fast glücklich darüber. Als kleines Mädchen hatte sie sich oft vorgestellt, was sie alles mit einer Tarnkappe anstellen könnte. Damals hatte sie davon geträumt, in den Krieg zu ziehen, wie die Männer. Ganz alleine hätte sie den Feind überwinden können, berühmt wäre sie geworden, eine Heldin.
Fröhlich setzte sie ihren Weg fort, drei Stunden hatte sie bestimmt noch zu gehen bis zum Flüchtlingslager.
Marfa konnte ihre Augen kaum von den Griffen der Schubkarre abwenden, so sehr gefiel ihr der Anblick der hölzernen Handgriffe.
Sie war in Sicherheit, wenn sie die Kleider auszog, würde sie niemand mehr sehen können. Übermütig begann sie ein Lied zu singen, schaute herausfordernd in die düsteren Berge. Als sie schließlich eine Anhöhe erreichte, sah sie die gelblichen Lichter des Lagers im Tal. Beim Abstieg musste sie die Karre mit ihrem ganzen Gewicht bremsen. Sie bemerkte die Gestalten nicht, die vom Hang auf sie zukamen. Erst als sie ihr Lachen hörte, blieb sie erschrocken stehen. Die ersten Männer waren unterhalb von ihr auf dem Weg getreten, standen zwischen ihr und der rettenden Senke. Noch hatten die Soldaten sie nicht bemerkt. Mit zitternden Händen begann sich Marfa auszukleiden, so schnell sie konnte schälte sie sich aus den Pullovern Hemden und Strümpfen, warf schließlich ihr letztes Hemd auf das Bündel und rannte los, den Abhang hinunter. Sie lachte laut, niemand konnte sie sehen, nur schnell hinab. Erstaunt blickte sie sich um, als sie das schwere Stampfen von schweren Schuhwerk hinter sich hörte, raue Männerstimmen die sich gegenseitig anfeuerten, ihr folgten, sie einholten, niederrissen. Als sie auf der Erde lag, war sie von Stiefeln umringt.
 



 
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