Stille Laute

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Aurora

Mitglied
Eine Hommage an die Gebärdensprachen dieser Welt:



Stille Laute

Schweig dir ein Lied aus der Seele.
Lass es erblühen ganz leis'.
Lass es mich sehen, erzähle!
Freund, sei gewiss, dass ich's weiß.

Schaff ein Gedicht mit den Händen.
Trag es mir vor voll Gefühl.
Lass uns kein Wort nur verschwenden:
Freund, davon hat's schon so viel.

Zeig mir dein Leid im Gesichte.
Deutlicher könnt' es nicht sein.
Laut machtest du nur zunichte,
Freund, was mir schön ist als Dein.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Worin besteht das Leid?
Es gibt verschiedene Formen. Ist es Selbstmitleid wegen der Unfähigkeit zu sprechen? Oder ein anderes Leid?

Das Gedicht ist sonst sehr schön und konkret.

Ein Gedicht in Zeichensprache ist sicherlich auch nicht ungewöhnlich, sofern man diese Sprache beherrscht.

Geteiltes Leid ist halbes Leid, im Gedicht haben wir zwei Personen, den, der zuhören möchte, und den, der aufgefordert wird, zu erzählen.

Weitere Personen kommen nicht vor, sie sind vielleicht da, aber die zwei sind eins in sich, abgeschirmt von den anderen.

Sie mögen sich.

Einer der beiden mindestens leidet. Beide beherrschen die Gebärdensprache.

Das ist, was ich aus dem Gedicht lese.
 

Aurora

Mitglied
Ich oute mich: ich studiere (u.a.) Gebärdensprache und Deaf Studies.

Glaube mir, die Gehörlosen haben zu leiden. In ihrer Erziehung, in ihrer Schullaufbahn, in der Berufswelt, im Alltag sind sie ausgegrenzt, missverstanden, stets unterschätzt.

Sie können sprechen. Auch in Lautsprache, vor allem aber in ihrer eigenen Sprache, die der Lautsprache in nichts nachsteht. Darüber sind sie nicht traurig.

Sie sind traurig darüber, dass man ihre Sprache unterdrückt, man versucht, sie "normal" zu machen, sie mit Cochlea-Implantaten versieht, sie zur Lautsprache zwingt.

Und genau darin bestand meine Intention: Ich finde dich so, wie du bist, wundervoll. Auch wenn wir anders sind, erkenne ich deine Kultur und vor allem dich als Menschen an. Und ich bin dankbar, dass du mich einen Teil davon sein lässt.
 
P

Pelikan

Gast
Zitat Aurora

Sie sind traurig darüber, dass man ihre Sprache unterdrückt, man versucht, sie "normal" zu machen, sie mit Cochlea-Implantaten versieht, sie zur Lautsprache zwingt.
Ist Dein "zwingt" nicht ein wenig dick aufgetragen?
Ist es nich eher ein Angebot der Gesellschaft an diese
Gruppe um ihr die Möglichkeit einer normalen Korespondenz
mit der Masse der Bevölkerung zu ermöglichen?
Oder bist Du der Meinung, die breite Bevölkerung sollte eher
"gezwungen" werden die Gebärdensprache zu erlernen?

Ansonsten bin ich Deiner Meinung: Alles Außergewöhnliche,
nicht "Normale" kann einen großen und eigenen Reiz haben, den man nicht zerstören sollte, was jedoch nicht automatisch bedeuten muss, dass sich jeder dem Außergewöhnlichen auch anpassen muss/sollte. Vielleicht mehr Toleranz? auf beiden Seiten.


Schweig dir ein Lied aus der Seele.
Lass es erblühen ganz leis'.
Lass es mich sehen, erzähle!
Freund, sei gewiss, dass ich's weiß.

Die obige Strophe finde ich übrigens wunderschön!
Diese Strophe ist übrigens allgemeingültig.
Sie spricht davon, dass man nicht immer alles zerreden
muss/sollte, sondern dass auch eine andere Art der Korespondenz (eine innere/seelische) möglich ist.

Mit herzlichen Grüßen, Pelikan :)
 

Aurora

Mitglied
Zwingen...

Es gibt in Deutschland genau 4 (!!!) Gehörlosenschulen, die mit Gebärdensprache arbeiten. In den anderen Schulen werden die Kinder tatsächlich gezwungen, zu sprechen. Ihr Unterricht ist kaum auf Inhalte ausgerichtet: Der Lehrer verwendet Lautsprache, die Kinder müssen Lippenlesen, selbst artikulieren. Und das, obwohl sie kein Feedback über ihre Stimme haben.

Die Idee der Möglichkeit auf Integration durch Lautsprache ist schön, aber praxisfern. Im Alltag verständigen sich die Gehörlosen mit den Hörenden so, wie wir in China: Mit Hand und Fuß und nicht auf Deutsch, im schlimmsten Fall schriftlich.

Das Thema ist sehr komplex, nicht umsonst ist das ein eigener Studiengang. Die Gehörlosen haben eine eigene Kultur und Sprache. Jedes Land wiederum weist diesbezüglich massive Unterschiede auf.

Und es stimmt, das Gedicht ist zwar primär auf Gehörlose bezogen, aber letztlich betrifft die Aussage die gesamte Gesellschaft... Wer anders ist, soll sich anpassen. Scheinbar in eigenem Interesse, um der Teilhabe Willen. Dass wir dabei das verlieren, was uns interessant macht, wird dabei übersehen. Es sind nun einmal nicht alle Menschen gleich. Und das ist der größte Schatz, den wir haben.
 



 
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