Stitzer

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sohalt

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„Ich würd gern erschossen werden“, sagte Stitzer.

Das überraschte mich dann doch, und ich fragte mich, warum. „Im Bett, mit einer schönen Frau“, damit hatte ich gerechnet, diese Wortmeldung kommt so sicher wie der Tod, wenn es darum geht, wie der Tod kommen soll, und sie war auch tatsächlich bereits gebracht worden. Wir waren darüber hinaus schon so weit übereingekommen, dass das friedliche „Einschlafen“ möglicherweise überschätzt würde, dass es in vielen Fällen nur ein Euphemismus wäre für einen qualvollen, durch Organ-Versagen bedingten Erstickungstod und das so ein unvermitteltes aus dem Leben-Gerissen-Werden ohne langes Hinzittern durchaus seine Vorteile hätte. Aber erschossen werden wollten dann doch die wenigstens. Stitzer schon. Natürlich schon, bei näherer Betrachtung.

Der, der da erschossen werden wollte, war einer der beiden Burgenländer, die dieses Semester in unseren Stock gezogen waren. Der andere, Abel, rief ihn Stitzer, auf eine Art, die mich die längste Zeit glauben ließ, es handle sich dabei um eine besonders perfide burgenländische Beleidigung. Ich hatte Skrupel ihn so zu nennen, bis ich dahinter kam, dass es einfach nur sein Nachname war. Abel und Stitzer kannten sich seit der Volksschule, jetzt bewohnten sie gemeinsam ein Doppelzimmer. Später würde Abel zu seiner Freundin ziehen und auch Stitzer würde anderswo Anschluss finden, aber noch nahmen zumindest wir im Stock sie als Einheit wahr. Die beiden Burgenländer. In ihren besseren Momenten erinnerten sie an Farkas und Waldbrunn, in ihren schlechteren an Beavis and Butthead. Stitzer war kleiner und stämmiger als Abel, wenn man also bedachte, dass dieser ausgesprochen lang und hager war, direkt wohl proportioniert. Ich mochte beide, Abel, weil er so lauthals lachen konnte, und weil er die hunderttausendste Saufgeschichte noch tatsächlich unterhaltsam erzählte, und Stitzer auch, was vielleicht hauptsächlich daran lag, dass er ein bisschen aussah wie mein Großvater als junger Mann, fand ich zumindest. Und das wieder lag vielleicht auch nur daran, dass ich die Neigung hatte – und ich glaube, bei Stitzer hätte die jeder – ihn gedanklich automatisch sofort in eine Uniform zu stecken, was dann natürlich die Assoziation zu meinem Großvater verstärkte, den ich ja als jungen Mann nur von Photos kannte, auf denen er Uniform trug. Ein gerades, offenes Gesicht hatte Stitzer, aber gerade, offene Gesichter hatten viele auf diesen Photos. Was das brachte, weiß man ja. In meiner Vorstellung sehe ich jedenfalls beide, meinen Großvater als jungen Mann und Stitzer in Sepia getönt.

Abel konnte also lauthals lachen, zur Not auch über sich selbst - sonst hätte ich ihn nicht dafür gemocht. Lieber lachte er allerdings über Stitzer und ließ ihn zu diesem Zweck da stehen wie den Leib gewordenen Burgenländerwitz. Denn was dem Rest-Deutschen der Ostfriese, das ist dem Rest-Österreicher der Burgenländer.

Die Burgenländer, ja. Wildes Bergvolk, würde ich sagen, wenn nicht das Burgenland ausnahmsweise flach wäre. Ins Burgenland abkommandiert zu werden, ist das Beschissenste, was einem österreichischen Wehrdienstpflichtigen passieren kann. Die Grenze, Schlepperbanden, Anspannung, geladene Waffen und alle paar Monate Meldungen in der Zeitung von irgendwelchen armen Burschen, denen diese unglückliche Kombination eine Schutzverletzung oder Schlimmeres eingetragen hatte. Und allgemein raue Sitten, zumindest wenn man Abel Glauben schenken wollte. Gerne erzählte er, wie er, um die Verehrer seiner Schwester abzuschrecken, die er prinzipiell nur als Made, Wurm oder Bazille titulierte, an lauen Sommerabenden mit nichts als einem Handtuch um die Lenden auf dem Balkon saß und seine Flinte putze – ja, und leider nicht die, liebe Leser, an die ihr jetzt denkt, sondern eine echte, aus Metall, und das ist, wenn ihr es mal genauer betrachtet, ein noch viel unerfreulicheres Bild. Das Blöde war nur: Im Vergleich zu Stitzer war Abel verhältnismäßig normal. Und Stitzer verdankte er nun einmal die wahren Glanzstücke seines Repertoires. Das brachte uns in den Genuß von Perlen der Unterhaltungskunst wie „Stitzer überfährt ein Reh“ oder „Stitzer kotzt beim Campen das Zelt voll“ und „Stitzer fährt Papas BMW zu Schrott“. So unwahrscheinlich das klingt – wenn Abel das erzählte, mussten wir tatsächlich lachen, wahrscheinlich nur wegen Abels komischem Gesicht und Abels komischer Stimme, wenn er den verdutzten Stitzer imitierte. Einmal verging mir das Lachen, und zwar gründlich, das war bei „Stitzer schockt den Lehrer“. Damals dürfte gerade wieder ein Amoklauf eines Schülers in den Medien die Runde gemacht haben, Stitzers Lehrer jedenfalls fühlte sich bemüßigt eine launige Bemerkung zu machen, von wegen, man könne sich wohl bald nur mehr mit kugelsicherer Weste in die Klassenzimmer wagen. Und was sagte Stitzer da? „Aber Herr Lehrer, dann ziel ich halt auf Ihren Kopf“, sagte Stitzer, erzählte Abel, und lachte Hihi, und Stitzer saß daneben und nickte und lachte Höhö. „Stitzer, du machst mir Angst“, sagte ich. Aber das sagte ich öfters.

Beide waren sie vernarrt in Waffen. Aber nur wegen Stitzer machte ich mir Sorgen. Weil Abel so viel redete und Stitzer so viel schwieg. (Lehrbuchbeispiel, dachte ich.) Ja, wenn man Stitzer aus der Reserve locken wollte, dann musste man das Gespräch schon auf gewisse Themen lenken, Kriegsfilme zum Beispiel – da mutierte der große Schweiger zur munteren Plaudertasche. Er würde dir erklären, was an den Filmen nicht genau war, warum echte Soldaten niemals die Waffe so halten würden, sich niemals so anschleichen würden, warum sie bei diesem oder jenem Schusswinkel, dieser oder jeder Tretmine, dieser oder jener Brandbombe anders fallen, anders verbluten, schneller oder langsamer, leiser oder lauter sterben. Stitzer wusste es genau. Er wusste, welche Waffen warum mittlerweile verboten worden waren (Napalm – schon der kleinste Spritzer bewirkt unheilbare Verätzungen), und wo sie von wem trotzdem noch eingesetzt wurden (von den Amis, auch beim 3. Golfkrieg – heißt zwar offiziell nicht Napalm, weil Kerosin drin ist, wirkt aber genauso). Und während die anderen schon längst dazu übergegangen waren, alle Standard-Ami-Verunglimpfungen aufzulisten, würde Stitzer, nachdem er dir detalliert geschildert hatte, was für grausige Wunden Napalm hinterlässt, noch einmal tief seufzen. „Napalm“, würde er seufzen, jede Silbe andächtig auf der Zunge wiegend und einen verträumten Blick bekommen dabei. Napalm…

Und jetzt hatte er ihn schon wieder, diesen Blick, während er mir erklärte, was so nett daran wäre, erschossen zu werden. Wir saßen in der Stockwerksküche, ich löffelte eine Packerlsuppe und Stitzer schnitzte sich Apfelstückchen in den Kaiserschmarrn und weckte schon wieder so heimelig großelterliche Assoziationen, diesmal allerdings an meine Großmutter, die Meisterin der Mehlspeisen, denn Stitzer war nämlich ein Süßer, ein Mehlspeisentiger. "Dann solltest du dir aber einen anderen Lebenswandel zulegen", sagte ich, denn wenn jemand es darauf anlegt, erschossen zu werden, ist man doch geneigt, ihm anzuraten, es erstmal beim Bundesheer oder bei der Polizei zu versuchen oder zum Beispiel bei der Russenmafia. Dann fiel mir allerdings ein, dass Stitzer, der auf Lehramt studierte, bei den heutigen Schülern durchaus gewisse Chancen hatte, von seinem Wunschtod ereilt zu werden.

Stitzer hatte allerdings ohnehin eher an einen Unfall gedacht, an einen Jagdunfall nämlich. So wie bei seinem Großvater. Mit einem Hirsch verwechselt worden und aus war's mit ihm. "Das letzte, was er getan hat, war etwas, das er gern getan hat", sagte Stitzer. Ist doch was. Denn Stitzer wollte, wenn er schon ins Gras biss, in richtiges Gras beißen, in grünes, frisches, saftiges und nicht in irgendein metaphorisches, in beschissenen Asphalt bei einem beschissenen Verkehrsunfall.
"Und ein paar Blumen vielleicht. Blumen wären nett" meinte Stitzer. Ja, das letzte, worauf sein Blick fallen sollte, das sollte eine Blume sein, so hatte Stitzer sich das vorgestellt.
"Na, ob dir das noch viel bringt, mit einer Kugel in den Eingeweiden" zweifelte ich.

Aber ich sah es vor mir. Ich sah die schöne Blumenwiese, so wie man sie bei allen Meditiationsübungen und Traumreisen visualisieren soll, am besten voller Himmelschlüssel, ein fröhliches sonniges Meer aus Himmelschlüsseln. Ich sah Stitzer, wie er beschwingten Schrittes über die Wiese lief, fast schwebte – wie Bambi, wenn es am Waldsaum die Mama sieht. Ich hörte den Schuss und sah Stitzer der Länge nach ins Gras sinken, sah er wie er mit einem letzten verträumten Napalm-Blick den Himmelschlüssel vor seiner Nase bedachte und mit einem selig-belämmerten Lächeln auf den Lippen den Atem aushauchte.

"Doch," sagte Stitzer. "Das fände ich schön."
 
D

Denschie

Gast
hallo sohalt,
sehr gerne gelesen! das schon mal vorab.
die rahmung könnte meiner meinung nach noch
ein bisschen perfekter werden.
vielleicht solltest du auf die eine oder
andere anekdote verzichten.
bspw., welches österr. bundesland aus welchen
gründen das andere bevorzugt verspottet. das
ist unterhaltsam, aber für die geschichte
nicht eigentlich wichtig.
ich versteht schon, dass es darum geht, besagten
stitzer zu schildern (super auch der eingangssatz)
und dabei quasi von höckschen auf stöckschen zu kommen,
aber das sollte nicht ausufern. du hast schon die
großeltern, die waffenvernarrtheit und die amok-
laufenden schüler, mir reicht das.
und zur not kann man sich das mit den burgenländern
auch denken. die österreicher werden es ja eh wissen
und ich habs auch schon mal gehört, obwohl nicht-
österreicherin.
viele grüße,
denschie
 



 
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