Stolz ohne Vorurteil

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Stolz ohne Vorurteil

Stephan hatte die drei erfolgreich in die Flucht geschlagen. Drei gegen einen – und wenn dieser eine Stephan heißt, dann setzt sich dieser eine eben durch. Sie hätten sich alle in das Wohnzimmer setzen können, hätten Wein aus der Silberglas-Karaffe trinken können, hätten in Ruhe den Schrecken verarbeiten können, hätten dies, wenn Maik und nicht Stephan der Held des Abends gewesen wäre, unter einer zyklischen Selbstbeweihräucherung Maiks tun können, in dem dieser mit einem milden Lächeln alle paar Momente Sätze von sich gäbe wie: ,,Ich sah es als meine Pflicht an, dir zu helfen“ - ,,Na, na, halb so schlimm“ und ,,Ich muss zugeben, es war ziemlich einfach, diese Kerle zu verjagen. Die hatten ja nicht so viel auf dem Kasten“.
Nun war es nicht Maiks Heldentat, sondern Stephans und dieser stand jetzt ohne Cape aber mit ziemlich schlechter Laune mitten im Wohnzimmer, den Unterkiefer nach vorne geschoben, die Schneidezähne aufeinander gepresst und das Gesicht verzogen, als hätte er eine Zitrone gegessen. Um ihn herum standen oder saßen seine Freunde, die noch etwas perplex waren. Maja, Pascal und Lena sahen Stephan vom Sofa aus zu, wie dieser sich immer mehr in Rage redete.
,,Diese Dreckskerle, diese miesen, feigen, hinterhältigen Verbrecher! Abschaum! Unrat! Glatzköpfige Nichtsnutze! Einsperren sollte man sie. Ohne Verhandlung. An wie vielen ist 1939, früher und später ein rechtskräftiges – dieses Wort betonte er besonders scharf - ,,Urteil vollstreckt worden, ohne dass es eine Verhandlung gab? Da können sie wenigstens diese Halbaffen ohne Verhandlung ins Gefängnis sperren!“
Sandra und Frederick blieben wie angewurzelt an der Fensterbank stehen und sahen sich nur an und dann wieder zu Stephan. Christina traute sich kaum herein und blieb in der Wohnzimmertür stehen. Sun wusste nicht, ob sie sich wohl fühlen sollte, oder nicht. Vorhin, so viel Sicherheit bestand, da hatte sie sich auf jeden Fall nicht wohl gefühlt. Die drei Kerle in den schwarzen Jacken waren schon an ihrem Auto vorbeigelaufen. Sie stieg aus und warf die Tür zu. Einer der drei blieb stehen, drehte sich um und rief ,,Hey, das ist ja eine Chinesin!“ Und gleichzeitig blieb Suns Herz stehen. Wenn dieser Satz in hundert Kontexten auch hundert Bedeutungen hätte haben können, so hatte er im gräulichen Schimmer der Laterne genau die eine, die Sun zuerst verstand und die ihr Herz zu Recht hatte stehen lassen. Langsam kamen die drei auf sie zu. Ihr Gang wirkte etwas steif, weil sie versuchten, möglichst breitbeinig zu gehen. Den Kopf hatten sie gerade nach oben gereckt, die Brust rausgestreckt und die aufgeblähten Jacken taten den Rest an ihrer merkwürdigen Erscheinung. Vielleicht wollten sie imposant wirken, doch sie erschienen nur bedrohlich und widerlich. Die vom Regen nasse, in einem unheimlichen schwarz glänzende Straße wurde zu einem unüberwindlichen Abgrund und das Haus, aus dem noch leise Musik und die traurige Stimme Amy Winehouse’ drang, rückte in weite Ferne.
,,Ja, diese Ausländer! Wenn irgendein immigrierter, womöglich nicht ganz Weißer, ein kleines Kind, einen alten Mann, eine schutzlose Frau angreifen würde, würden wir es aus jeder Zeitung und über jedes andere Medium erfahren und diese Verbrecher würden eine sofortige Ausweisung fordern, und wenn sie so richtig in Fahrt sind, gerne auch die Todesstrafe. So ein Unsinn. Was hier sinnvoll ist, soll doch ein Richter klären. Doch verhält es sich umgekehrt anders?“ Stephan redete nicht nur mit dem Mund. Sein ganzer Oberkörper war in Bewegung. Seine Finger spreizten sich, seine Hände ballten sich zu Fäusten, ein Zeigefinger strecke sich in die Höhe. ,,Es scheint überhaupt kein Problem für diese Scheißkerle zu sein, wenn jemand angegriffen wird, der seine Wurzeln nicht in Deutschland hat. Im Gegenteil, sie gehen selbst zum Angriff über, gehen auf Farbige, auf Kopftuch-Tragende, auf nach Asylanten und Immigranten Aussehende los und wenn die Bullen denen im Weg stehen, bekommen die halt auch was aufs Maul.“ Stephan war so voller Wut, dass etwas Wildes, Ungestümes in seiner Gestallt sichtbar wurde und die anderen ihm nicht unterbrechen wollten. Die Zwillinge standen gegenüber dem Sofa. Daniela hatte ihre Schwester Laura am Arm gepackt und zog sie sanft zurück. Sie alle kannten ihn. Er war immer freundlich, ruhig und besonnen gewesen. Ein lieber Kerl. Das Bild, das sie von ihm hatten, stand in großem Kontrast zu seinem plötzlichen lautstarken Wutausbruch.
Es ist nicht ganz sicher, was die Glatzen mit Sun gemacht hätten, hätte man sie machen lassen, doch der schraubstockartige Griff, ausgeübt von wulstigen Fingern, in dem sich Suns Arm befand und ihr erfolgloser Versuch, sich aus diesem zu befreien, ließen nicht Gutes erahnen. Melda war kurz in die Küche gegangen, hatte glücklicherweise einen Blick aus dem Fenster auf die Straße geworfen und die anderen gerufen. Während Sandra und Christina in die Küche liefen und Christina ihr Handy in ihrer Handtasche suchte, lief Stephan aus dem Wohnzimmer durch den Flur und aus dem Haus heraus. Er lief über die Straße, sagte kein Wort, sagte nichts von ,,lasst das Mädchen los“, lief nur geradeaus auf die vier zu. Stephan sagte nicht deswegen nichts, um auf so etwas wie ein Überraschungsmoment zurückzugreifen zu können. Er war schlicht und einfach so wütend, dass er kein Wort raus brachte. Andere Menschen müssen schreien, wenn sie richtig wütend sind. Bei Stephan will die Wut nicht zum Munde raus, sondern zu den Fäusten. Erst kurz bevor Stephan die drei Männer erreicht hatte, wurde ihnen klar, welches Unheil auf sie hereinbrach. Stephan setze ein Fausthieb gegen die rechte Gesichtshälfte des ersten der drei, der noch auf der Straße stand, nun aber seinen Körper etwas unkoordiniert über den Bürgersteig bewegte, kurz den Anschein erweckte, er könne sein Gleichgewicht wieder finden und gleich darauf lang auf den Rasen fiel. Ein paar Links-Rechts-Kombinationen und einen gezielten Tritt in eine Kniekehle später humpelten drei fluchende Gestalten die Straße runter. Der regennasse schwarze Asphalt war immer noch regennass und schwarz. Die Musik aus dem Wohnzimmer war immer noch leise und traurig. Doch alles wirkte plötzlich viel freundlicher und schöner. So schnell die Gefahr gekommen war, so schnell war sie auch verschwunden. Stephan sei Dank.
Die ganze Szene dauerte nur einen Moment und als Sandra Sun ins Haus bugsierte, hielt Christina noch ihr Handy in der Hand.
Stephan, der Mann, der Sun immer anlächelte, wenn er sie zum ersten Mal am Tag sah, sah nun sehr grimmig aus. ,,Nein, ich weiß nicht viel über Südkorea, aber ich weiß, dass diese Frau, die nach Deutschland gekommen ist, um hier zu studieren und zu arbeiten, keine Angst vor diesem Schritt ins Ungewisse hatte. Ich weiß, dass sie unsere Sprache in nur wenigen Monaten recht gut gelernt hat und hier schon viele Freunde gefunden hat. Es war ihr Interesse an einem fremden Land, das sie nach Deutschland führte und der gute Ruf unserer Universitäten. Das hat mit den Vorurteilen wie Sozialschmarotzerei nichts zu tun. Diese Frau hat meine Anerkennung verdient. Sun sah Stephan etwas verblüfft an. Erst setzte er sich durch Taten für sie ein, jetzt folgten Worte. Er hatte nur ein T-Shirt an und schien vor Hitze fast zu glühen. An seiner rechten Hand war etwas trockenes Blut. Es war nicht seins.
,,Die Herkunft einer Person spielt immer noch eine Rolle in den Köpfen vieler Menschen’’ und drehte sich dabei um seine Achse, um alle Anwesenden kurz zu mustern. ,,Man hätte doch meinen können, dass die Menschheit endlich weiter ist. Ich blicke mich hier um und sehe völlig verschiedene Menschen. Und nicht verschieden, weil ihr aus unterschiedlichen Ländern kommt, sondern weil einfach jeder Mensch vom nächsten verschieden ist. Auf einer Linie zwischen Sun und Melda stand Stephan jetzt in etwas Entfernung vor Ersteren mit dem Rücken zur Letzteren. Draußen war es kalt. Im Wohnzimmer herrschte dagegen eine angenehme Hitze. Suns lange schwarze Haare glänzten samtig im weiß-gelben Licht der Wohnzimmerlampe. Sie fror nicht mehr, zitterte nicht mehr. Doch spürte sie eine merkwürdige Aufregung in sich. Ihr war, als würde in den nächsten Minuten noch irgendwas passieren.
,,In Deutschland ist so viel passiert, dass wir manchmal beinahe Identitätsprobleme bekommen. Unsere Vergangenheit ist immer da. Doch soll ich euch was sagen?’’, und er lächelte dabei. ,,Ich bin stolz ein Deutscher zu sein. Seht mich an, hört meine Stimme! Ich bin ein echter Deutscher. Ein kerniger, zäher, fleißiger, der manchmal ganz ruhig und leise ist und sich zurückhält, um dann, wenn es nötig wird nach vorne zu preschen und wutentbrannt und mit wenig Feingefühl, dafür aber mit um so größerem Elan und unvergleichbarer Ausdauer seine Sache zu verteidigen, sich für die einzusetzen, die Hilfe brauchen und auch bekommen, weil ich nicht von meinen sturen Zielen abweiche. Wir waren und wir sind ein Volk der Dichter und Denker. Das darf sich nicht ändern. Wir brauchen die Demokratie, um es zu bleiben. Wir brauchen Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt.’’
Stephan war Sun langsam näher gekommen, während er sprach. Er sah von ihr zu den anderen. ,,Das, was wir hier untereinander haben, meine Freunde, brauchen wir in ganz Deutschland, in der ganzen Welt!’’ Stephan stand nun so dicht vor Sun, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Seine Gestik wurde ruhiger und seine Stimme etwas leiser. ,,Es mag dieser braunen Bande nicht gefallen, aber durch die vielen Immigranten werden wir nicht schwächer, sondern stärker. Doch die Rechten, die Diktatoren, die Nationalisten ohne Verstand wollen alles voneinander trennen. Stephan stand nun direkt vor Sun und sah ihr tief in die Augen. ,,Was fällt ihnen ein, zwischen uns Gräben auszuheben und Mauern hochzuziehen, wo doch keine Gräben und keine Mauern zwischen uns gehören!“ Schließlich legte er seine Hände an ihr Gesicht, zog sie an sich heran und küsste sie leidenschaftlich.


Gewidmet denen, die nicht über Toleranz reden, sondern Toleranz leben:
Maja, Stephan, Laura, Daniela, Frederick, Lena, Sandra,
Christina, Pascal, Maik, Sunny und Melda

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