Strafe

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Paloma

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Das Dach der Kapelle schimmerte von Weitem zwischen den Bäumen hindurch. Mit ausladenden Schritten lief er die Kastanienallee entlang, deren blühende Schönheit ihn heute nicht berühren konnte. Nur mühsam unterdrückte er den Wunsch, das letzte Stück des Weges zu rennen. Trotz der brennenden Wunden auf seinen Rücken versuchte er aufrecht zu gehen. Der Schmerz gab ihm ein Stück Zufriedenheit. Als er die verwitterte Holztüre der kleinen Kirche erreichte, drückte er mit der rechte Hand die rostige Klinke herab, mit der linken schob er die Tür einen Spalt auf. Erst als er überzeugt war, dass sich kein Wanderer zum Gebet verirrt hatte, trat er ein, schloss eilig die Tür hinter sich und schob einen der Besucherstühle davor.
Das Kinn auf die Brust gesenkt, die Kapuze tief in das Gesicht gezogen schritt er zum Altar und bekreuzigte sich. „Herr, ich habe gesündigt. Ich habe schwer gesündigt! Verzeih, was ich getan habe und vergib mir, was ich tun muss.“
Mit dem Ärmel seiner Kukulle wischte er sich über das nasse Gesicht. Schwer atmend begann er: „Vater unser ...“ Immer wieder musste er das Gebet unterbrechen, weil er den Text vergaß, den er seit Jahrzehnten täglich sprach. Ein Zittern, als würde die Erde beben, erfasste seinen Körper. Er schlug die Hände vor das Gesicht und ließ sich schluchzend auf eine Betbank fallen. „Ich wollte dir dienen. Mein Leben für dich ... Ich habe versagt.“ Er wagte es nicht den Blick zu heben und seinem Heiland am Kreuz, ins Gesicht zu sehen.
In einer der Nischen stand lebensgroß ein Abbild Marias, aus Marmor gehauen. Ihr Antlitz betrachtete er und folgte dann der Silhouette des Kleides bis zu ihren nackten Füßen. Lange saß er dort. Schwankend, als stünde er auf den Planken eines Segelschiffs, erhob er sich. Als er die Kapelle verließ, war die Sonne bereits untergegangen. Die feuchte Luft des Frühlingsabends schlug ihm entgegen. Für einen Moment nahm sie ihm den Atem.

Das Abendessen ließ er ausfallen und zum Komplet, der letzten Hore des Tages, würde ihn höchstens Bruder Daniel vermissen. In seinem Zimmer zog er die fünfschwänzige Geißel unter dem Bett hervor, ließ die Kutte fallen und holte aus. Er schlug zu. Spürte den Schmerz wie lodernde Zungen. Die Peitsche riss ihm die Haut in Streifen vom Rücken. In seinen Ohren kündigte ein Rauschen die nahende Ohnmacht an. Dennoch wollten die Bilder, die in seiner Erinnerung gemeißelt waren, nicht verschwinden. Dieses weiße Fleisch, die festen, fast knabenhaften Brüste und das gelockte, harte Haar hielten seine Lust, unter all den Schmerzen, wie das ewige Licht am Brennen. Er griff zur Kutte und bedeckte seinen Körper. „Herr verzeih mir“, stieß er keuchend hervor und seine Hand tastete nach dem Zingulum. Fest legte er den Gürtel um seinen Hals, die Enden band er an den Türgriff, dann kniete er mit gebeugtem Kopf nieder und zog, bis er ins Nichts fiel.

Lehmige Erdbrocken zwängten sich zwischen seine Zehen. Durch die Dunkelheit führte der endlose Weg abwärts. Es roch nach Verwesung und die Kälte legte sich wie eine eisige Hand auf seine Wunden. Wie weit noch bis Canossa?
Die Temperatur stieg. Zuweilen blieb er stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, versuchte Sauerstoff in die verkrampften Lungen zu pumpen, und erinnerte sich schemenhaft an braune Augen und ein mädchenhaftes Lachen.
Die Stille wurde zerfetzt von einer Stimme, die keine war. Von überall her kroch sie wie eine Schlange, über die Wände, auf seine Haut, in sein Hirn, fraß sich in seine Seele. Hämmerte Worte ins Bewusstsein, die ihn nahezu ohnmächtig werden ließen, verstummte irgendwann. Er fiel auf die Knie, beugt sich vornüber und presste die Stirn auf den heißen Boden. Jammerte Worte der Reue. Ewigkeiten vergingen, bis er in jeder Pore qualvoll das Urteil vernahm. Nur ein einziges Wort: „Warten!“

In seinen Händen, zum Gebet gefaltet, fühlte er die glatten Perlen des Rosenkranzes. Starr lag er auf dem Rücken. Die Augen geschlossen, lauschte er hellwach der Stille. Er fühlte, wie seine Haut erste Blasen bildete und seine Organe sich verflüssigten. Mikroorganismen in seinem Körper erwachten zum Leben.
Die Strangulationswunden an seinem Hals brannten wie glühende Eisenbänder.
 



 
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