Strahlentherapie

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HansSchnier

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Das ganze Haus war mit Kaninchendraht überzogen, fünf Meter hohe Bambuswände ersetzen die dorfüblichen Hecken oder Holzzäune. Herr Mäurer stand in der Tür.
„Herr Schreiber, schön, dass sie hier sind. Und so pünktlich. Das kenne ich ja gar nicht von Ihnen.“
Der Mann am Treppenabsatz lachte jovial und streckte ihm bereits die Hand entgegen, obwohl Felix noch fünf Meter von seinem ehemaligen Klassenlehrer trennten. So oft war er während seiner Schulzeit gar nicht zu spät gekommen, dachte er und beschleunigte seinen Schritt. Die hilfesuchende Haltung des Mannes, der jahrelang Autorität über ihn besaß, beschämte ihn.
„Guten Tag Herr Mäurer“, rief Felix in seine Richtung und folgte zügig dem Schall seiner Worte. Endlich hatte er die Tür erreicht. Er wollte die Begrüßung schnell hinter sich bringen und ergriff die Hand seines Gegenübers.
„Na dann mal rein in die gute Stube. Oder sollen wir direkt zum Mast gehen?“, fragte Mäurer.
„Das können wir später noch machen.“

Der Flur war dunkel. Staubmäuse zogen sich die Fußleiste entlang. Eine verdörrte Topfpflanze stand auf einem Schränkchen.
„Mein Wohnzimmer ist quasi das Hauptquartier“, sagte Mäurer beim Eintritt in den geräumigen Raum, in dem die Deckenlampe für steriles Licht sorgte. Die Fenster waren mit schwerem Stoff verhängt, ein Computertisch stand in der Ecke. Auf dem Monitor prangte ein Aufkleber: www.mastbruch.de.
„Spezialvorhänge, die die Strahlung absorbieren“, referierte Mäurer, der den Blick seines ehemaligen Schülers bemerkt hatte. „Dass Sie mal Journalist werden würden, hätte damals auch niemand gedacht. Aber gefallen mir gut Ihre Artikel. Lese ich gerne.“
Felix wusste nicht recht wie er antworten sollte. „Danke. Freut mich zu hören“.

Rund neun Jahre war es her, dass er das erste Mal in dem Haus war. Herr Mäurer hatte die ganze Klasse eingeladen, die Abschlussfahrt sollte geplant werden. Frau Mäurer hatte gekocht. Obwohl die Möbel, bis auf den Computertisch, damals die selben waren wie heute, war das Zimmer ein anderes. Damals erschien es Felix überraschend wohnlich, die Atmosphäre den Abend über war gelöst, wofür in erster Linie Frau Mäurer verantwortlich war. Jetzt erschien ihm der dunkle Raum lebensfeindlich. Ihm war unbehaglich. Er wollte die Geschichte so schnell wie möglich hinter sich bringen.

„Sie scheinen ja recht gut geschützt zu sein. Kommt in diesen Raum überhaupt noch Strahlung rein? “, fragte er, um schnell zum Thema zu kommen.
„Natürlich. Daran ändern auch die Schutzmaßnahmen nichts. Sie nehmen zwar Strahlung auf, aber ganz verhindert werden kann sie nicht. Ich zeige es Ihnen.“
Hektisch begann er sich umzuschauen und leise „Wo habe ich es nur?“ zu murmeln. Verloren stand er im Raum, und erst jetzt bemerkte Felix, wie stark sein ehemaliger Lehrer gealtert war. Die Spuren der Zeit hatten sich nicht langsam und anschmiegsam wie ein feines Tuch über Mäurer gelegt, sondern das Alter schien ihn erbarmungslos und hinterrücks heimgesucht zu haben.
„Kleinen Moment, Herr Schreiber. Bin gleich wieder da.“

Felix schaute sich ein wenig im Raum um. Seine Augen flogen über die eingestaubte Bibliothek, in der ihm eine ledergebundene Ausgabe von Kleists „Michael Kohlhaas“ auffiel. Mit diesem Text hatte Mäurer ihn in der achten Klasse gequält. Damals hasste er den Text. Erst im Studium begann er, dem alles zefressenden Kampf zwischen Kohlhaas und dem Rest der Welt etwas abzugewinnen. Heute zählte Kleists Erzählung zu seinen Lieblingstexten.

Mechanisches Tocken weckte ihn aus seiner Erinnerung. Mäurer hielt ein weißes Gerät mit kleinem Display in den Händen, an dem eine grüne Antenne angebracht war, die Felix an einen Weihnachtsbaum erinnerte. Das Gerät war Ursprung des anstrengenden Geigerzähler-Getockes.
„Sehen Sie. 423!“, rief Mäurer triumphierend und zeigte auf das Display.
„423? Ist das die Strahlung, der wir hier ausgesetzt sind? Ist das hoch?“
Felix begann nun seinen Notizblock aus der Tasche zu kramen.
„Ein 100stel von der Strahlung, der Sie draußen ausgesetzt sind. Aber immer noch schlimm genug. Schlafen würde ich hier nicht mehr. Aber warten Sie nur, bis ich Ihnen die Werte im ersten Stock gezeigt habe.“
Mäurer hielt das Gerät vor sich wie eine Wünschelrute und verließ den Raum. Das Tocken nahm zu. Felix folgte ihm die Treppe hinauf.

„1280“, rief der alte Mann am Treppenabsatz. „5020“, auf halbem Weg und „11924“ am Schlafzimmerfenster, das durch die Maschen des Kaninchendrahtes direkten Blick auf eine Sendeantenne bot, die auf dem Dach eines grauen Quadratgebäudes montiert war.
Der Raum war hell, die Sonne schien herein und Staub tanzte im Licht. Obwohl die Luft stickig war, hatte das Zimmer etwas Freundliches. Das Bett war gemacht und mit einer Tagesdecke überzogen. Auf den Kommoden zur Linken und zur Rechten des Bettes standen Bilder von Herr und Frau Mäurer, mal einzelne Porträtaufnahmen, mal Bilder, die beide zeigten. Felix verglich den Mann auf den Bildern mit dem erheblich dünneren Männlein, das vor ihm stand und bemerkte mit Schrecken dessen Verwahrlosung. Die zu große braune Cordhose war speckig. Auf dem abgetragenen Hemd lagerten sich Schuppen ab, und das ins Weiße übergehende Haar war fettig und zerzaust.

„11924. Die Gleiche Strahlung wie in einer Mikrowelle. Innerhalb von einer Stunde erhöht sich Ihre Körpertemperatur um 0,3 Grad.“, sagte Mäurer und zeigte auf die Antenne gegenüber. „Alles wegen der da!“
„Sie bewohnen den ersten Stock gar nicht mehr?“, fragte Felix.
„Sie haben den Wert doch gesehen. Undenkbar. Und Sie wissen schließlich, was die Strahlung mit meiner Frau angerichtet hat.“

Mäurers Frau war seit einem Jahr tot. Sie war an Krebs gestorben. In den ersten Monaten nach ihrem Tod hatte Mäurer kaum das Haus verlassen, bis er plötzlich mit einer Petition von Tür zu Tür ging und Unterschriften gegen den Handymast sammelte, selbsternannte Experten einlud und Infoabende veranstaltete. Felix Mutter, die etwas abseits des Dorfes wohnte, hatte ihm die Geschichte kürzlich erzählt. Wenige Tage später meldete sich Mäurer in der Redaktion. Felix hatte eigentlich keine Lust, die Geschichte zu übernehmen. Doch dem Ressortleiter gefiel sie. Da stecken Emotionen drin, klein gegen groß, sowas brauchen wir - und die Diskussion war beendet.

„Die Ärzte waren sicher, dass sie sich vom Gebärdmutterkrebs erholen würde,“ setzte Mäurer seinen Gedanken fort. „Die Therapie war gerade beendet. Und dann wurde der Mast aufgestellt. Ein halbes Jahre später...“ Mäurer schwieg einen Moment und schaute durch seinen Strahlenkäfig.
„Das die Strahlung Krebs fördert ist mittlerweile unwiderlegbar bewiesen“, fuhr es aus ihm hervor. „Und ich habe es ja an mir selber gemerkt, Schlafstörungen und Antriebslosigkeit. Sowas bildet man sich ja nicht ein. Und wenn Sie sich mal umhören in der Nachbarschaft. Herr Steiners Kaninchen fressen urplötzlich ihre Jungen. Der Jüngste von Austs hat massive Konzentrations- und Lernschwächen. Und Frau Schmidt von nebenan, Hautauschlag. Haben Sie zufällig auf die Obstbäume in der Nachbarschaft geachtet? Tragen alle kaum noch Früchte. Und Vögel, Vögel hört man auch keine mehr. Das ist doch kein Zufall!“

Mäurer holte einen Hefter hervor, den er unter den Arm geklemmt die ganze Zeit mit sich herumschleppte.
„Sehen Sie. Ich habe das untersuchen lassen. Eine Expertin, Frau Dr. Beisam, war hier. Sie hat bestätigt, dass der Mast für all das verantwortlich ist.“
Felix wunderte sich nicht, gerade diesen Namen zu hören. In seiner Vorabrecherche war er regelmäßig auf den Namen gestoßen. Die Medizinerin war einer von wenigen Menschen mit Doktor-Titel, auf den sich Strahlenopfer stützen konnten. Zwischen titelfreien Naturheilpraktikern und Seelenkundlern war sie eine Art Schutzpratonin der Verstrahlten. Sie zog von Dorf zu Dorf und bestätigte verängstigte Anwohner in ihrer Angst. Auf ihrer Homepage konnte man sie auch für Vorträge buchen und Spezialgerätschaften, vermutlich auch den Tannenbaum-Geigerzähler, kaufen.

„Wenn Sie weder hier, noch im Wohnzimmer schlafen, wo dann?“, fragte Felix.
„Im Keller. Hier oben schlafe ich seit Hildas Tod nicht mehr. Langsam merke ich, wie mein Körper sich von der Strahlung erholt. Mittlerweile schlafe ich nachts wieder durch und fühle mich auch wieder aktiver. Das ist auch bitter nötig, schließlich habe ich eine Aufgabe.“
„Den Kampf gegen Handymasten?“
„Dabei geht es ja gar nicht um mich. Es kann doch nicht sein, dass ein paar Weltkonzerne, Yuppies und Politiker uns alle krank machen. Nur für den Profit und nichtsagendes BlaBla vor Kaffeebuden. Und wir Opfer sind meist zu schwach, uns zu wehren. Das ist ja das Perfide.“

„Können die Erkrankungen keine anderen Gründe haben?“, wagte sich Felix vorsichtig hervor.
„Jetzt fangen Sie ja schon an wie die. Glauben Sie, wir bilden uns das alles ein? Schauen Sie mal. 30 Familien aus der Nachbarschaft haben die Petition unterschrieben. Und hier: Die Symptome. Alles ordentlichst aufgeführt.“
„Aber die staatlichen Richtwerte werden von der Antenne nicht überschritten, das habe ich vorab in Erfahrung bringen können.“
„Richtwerte! Haben Sie sich mal gefragt, wer diese Richtwerte aufstellt? Fragen stellen ist doch Ihr Beruf. Genau die selben, die die UMTS-Rechte für 50 Milliarden verkauft haben und denen Anteile an T-Mobile gehören. Und wer finanziert denn die Forschung? Glauben Sie unsere Initiative könnte sich ein Gutachten leisten. Nein. Das können nur die großen Unternehmen. Unser Gutachten ist unser Leid.“

Felix merkte, dass es keinen Zweck gehabt hätte, zu diskutieren. Genau so gut hätte er versuchen können, dem Dorfpfarrer den Glauben an Gott auszureden.

„Müssen noch mehr Menschen sterben, bis endlich gehandelt wird?“ Das Messgerät pochte fortwährend, als applaudierte es Mäurer. Felix wollte antworten. Setzte an, ohne zu wissen, was er sagen sollte und verstummte plötzlich. Das Zittern in seiner Hosentasche bemerkte er als erstes, vernahm dann das Brummen des Vibrationsalarms, und schließlich ertönte die Klingel-Fanfare seines Handys.

Mäurer betrachtete ihn fassungslos. Felix versuchte den Anruf umständlich wegzudrücken. Doch so oft er auf die Taste mit dem roten Telefon seinen Finger presste, es half nicht. Sie klemmte mal wieder. Er musste warten, bis die Mailbox endlich ansprang.
Mäurer verfolgte die Szenerie mit angewidertem Entsetzen. Das verlegen genuschelte „Äh, Verzeihung“ konnte er jetzt genau so wenig akzeptieren wie vor zehn Jahren Störungen des Unterrichts. Mäurer zeigte wutentbrandt in Richtung Treppe. „Felix, raus!“
 

Haremsdame

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Super, HansSchnier! Diese Erzählung ist nicht nur vom Inhalt gut (recherchiert?), sondern auch vom Aufbau lesenswert.

Leider hast Du noch ein paar Tippfehler üersehen:
[blue]Eine verdör[red]r[/red]te Topfpflanze[/blue]und
[blue]Au[red][strike]d[/strike]f[/red] dem Monitor [/blue]

Ein wenig konnte ich auch grinsen, weil mich diese Geschichte an eigene Erlebnisse erinnerte :D und wieder meine inzwischen verdrängte Unsicherheit aufflackern ließ, ob diese Strahlen wirklich so gefährlich sind oder nicht...

Respekt!

Haremsdame
 

HansSchnier

Mitglied
Hallo Haremsdame,

danke für dein Lob. Freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. Bei etwas längeren Texten bin ich noch einw enig unsicher.

Die Recherche war übrigens nicht übermäßig anstrengend, der Text hat eine Spiegel-Geschichte als fachlichen Hintergrund.

Grüße
HansSchnier
 

maerchenhexe

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hallo Hans Schnier,

eine Erzählung die, mit Schmunzeleffekt geschrieben, doch einen ganz traurigen Hintergrund hat. Denn wie sollte Mäurer wohl den Tod seiner Frau überwinden und seinem restlichen Leben noch einmal ein Ziel geben, wenn er nicht einen "Schuldigen" gefunden hätte: den Funkmast! Deine Erzählung hat mir sehr gefallen.

lieber Gruß
maerchenhexe
 



 
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