Straße der Schneemänner

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rogathe

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Straße der Schneemänner

„Winter ohne Schnee ist total uncool!“ Finn klimpert lustlos auf der Tastatur seines Keyboards herum. Als er wieder einmal gelangweilt aus dem Fenster schaut, sieht er die ersehnten ersten Flocken sacht herabsinken. „Tiffi, Tiffi, es schneit, endlich können wir einen riesengroßen Schneemann bauen!“ „Vielleicht morgen, wenn über Nacht genug Schnee fällt!“ Und wie er fällt! Tags darauf stürmen die Geschwister übermütig aus dem Haus, sobald sie ihre Hausaufgaben erledigt haben.
„Wer zuerst die größere Kugel schafft, gewinnt!“
Sie wälzen und rollen den Schnee, den Papa auf dem Gehweg mühsam zu einem Wall geschaufelt hat. „Erster!“, ruft Tiffi mit hochroten Wangen, so sehr ist sie dabei ins Schwitzen geraten. Ihre Kugel ist schon beinhoch. „Dann ist meine halt der Bauch!“, gibt sich Finn geschlagen. „Darf ich den Kopf machen?“ Nachbarsohn Olli stiefelt herbei und zieht seinen Teddy auf der Rodel hinter sich her. „Okay, wir können jede Hilfe gebrauchen“, nicken die Geschwister gutmütig, wenngleich mit verstohlenem Na-wenn-es-denn-unbedingt-sein-muss-Blick. Nach kurzer Zeit ist auch die dritte Kugel fertig. Nun müssen alle drei aufeinander getürmt werden. „Das ist zu schwer für uns beide, wir brauchen kräftige Unterstützung. Olli ist jedenfalls noch zu klein dafür“, stellt Tiffi bedauernd fest. „Warte mal, ich bin gleich wieder da!“ Finn rennt über die Straße, klingelt einige Häuser weiter an der Tür und kehrt mit einem Jungen zurück.
„Das ist Kwabena aus Ghana, er ist ganz neu in meiner Klasse“, stellt er ihn vor. „Freut mich dich kennenzulernen, ich bin Tiffi, Finns Schwester. Hast du schon mal einen Schneemann gebaut?“ „Nö, wirklich nicht. Ich kenne Schnee nur aus dem Internet.“ „Das lässt sich sofort ändern“, grinst Finn, tritt ein paar Schritte zurück, formt ganz fix einen kleinen Schneeball und bewirft Kwabena damit. Dieser reagiert prompt, sodass eine ausgelassene Schneeballschlacht in Gang kommt. Tiffi wird ungeduldig. „Hört endlich auf damit und helft mir, die dicke Bauchkugel anzuheben, ohne dass sie zerfällt. Eins – zwei – drei und hoch damit!“ „Ich will den Kopf selber draufsetzen!“ Olli umklammert Tiffi, bis sie ihn samt Schneekugel hochhebt. „Ist der Schneemann jetzt fertig?“, fragt Kwabena. „Nein, erst kriegt er ein Gesicht, danach wird er geschmückt.“ Finn ist bereits in der Garage verschwunden und schleppt einen großen Sack Grillkohle sowie einen Hammer heran. „Ich habe eine Idee!“ Er reicht seiner Schwester zwei Kohlestücke für die Augen, dann klopft er so heftig auf dem Papiersack herum, bis dieser platzt und das Kohlepulver herausstaubt. „Hast du sie noch alle?“ Tiffi sieht ihren Bruder entgeistert an. Wortlos beginnt Finn den Schneeman von oben bis unten damit einzureiben.
„Das ist der erste schwarze Schneemann der Welt!“, verkündet er stolz und nickt seinem neuen Freund zu. Kwabena lacht so breit, dass seine Zähne von einem Ohr bis zum anderen blitzen.
„Oh, dann wollen wir ihn auch ghanaisch ausstatten!“, ruft er fröhlich aus, flitzt nach Hause und bringt ein langes, rot-gelb-grün gemustertes Tuch und eine bestickte Kappe mit. Tiffi hat in der Zwischenzeit das Gesicht des Schneemanns mittels einer Salatgurken-Nase sowie einem Chilischoten-Mund vervollständigt. Um die Kohleaugen zieht sie mit dem Finger eine weiße Rille in Form einer Brille. „Jetzt sieht er aus wie mein Deutschlehrer in Accra“, lacht Kwabena und bindet ihm das Tuch wie eine Schärpe um.
„Krass!“ Andi und Basti, Zwillinge aus der Nachbarschaft, die soeben vom Fußballtraining heimkommen, bleiben überrascht stehen, obwohl sie sonst nichts für solchen Kinderkram übrig haben. „Gar nicht schlecht, ein Piercing würde noch passen!“ Andis Augen beginnen zu leuchten. „Kannst dir ja selber einen bauen und piercen!“, kontert Finn brüsk. „Mit Tattoo!“, ergänzt Basti grinsend.
Wie auf Kommando beginnen die Brüder ihren eigenen Schneemann in geringem Abstand daneben zu setzen. Bald darauf haften verschiedene aus dem Internet ausgedruckte Motive, wie Flammen, Totenschädel, Kreuze und sogar eine Fledermaus an ihm. Nase und Mund sind aus schwarzer Pappe und mit Sicherheitsnadeln in unterschiedlicher Größe gespickt. Als Augen leuchten neongrüne Flummis. Auf dem Kopf prangt ein kleiner schwarzrotborstiger Handfeger. „Echt geiler Iro!“
„Na, was sagt ihr?“
Olli sitzt stumm auf seiner Rodel, den Teddy im Arm, und starrt ihn hingerissen an. Noch ehe die anderen Kinder antworten können, ruft jemand hinter ihnen: „Stellt euch mal alle zusammen für ein Foto mit den Schneemännern auf. Ich will es unbedingt auf meine Freunde-Seite ins Netz stellen!“ Leyla, aus dem vierstöckigen Haus gegenüber, hat soeben zwei Abfallsäcke in den Müllcontainer geworfen. Sie zieht verschmitzt lächelnd ihr Handy aus der Jeanstasche und dirigiert die Schneemann-Künstler in die richtige Position. „Los, zeigt eure Zähne!“ ermuntert sie die fünf und macht einige Aufnahmen. „Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne mit nach oben kommen. Dann sehen wir uns die Fotos gemeinsam auf dem großen Bildschirm an.“
Gleich darauf hasten sie am alten Herrn Niemaier aus der dritten Etage vorbei, der lauthals über lästigen Schnee sowie säumige Hausmeister schimpft und sich auf unsicheren Beinen zu seinem geparkten Wagen vorantastet. Als er an den Schneemännern vorbeikommt, grummelt er: „Früher hatten die noch einen Topf auf dem Kopf, eine Möhre als Nase und Reisigbesen als Arme.“
„Sie müssen aber zugeben, dass diese hier sehr originell und fantasievoll sind“, lenkt sein Nachbar Herr Wanders ein, der soeben mit seinem Sohn Nguyen aus dem Auto gestiegen ist.
„Genau, Papa! Und deshalb baue ich jetzt auch einen!“
Nguyen steckt ihm zwei blaue Schraubdeckel als Augen, eine leere Zahnpastatube als Nase und einen Kamm als Mund an. Dann stülpt er ihm einen Cowboyhut über, wickelt ihm ein Tuch um den Hals und bindet ihm einen Nietengürtel um. Zuletzt zieht er ihm sogar Lederstiefel an, die er aus einem Sammelsack für alte Schuhe neben dem Müllcontainer klaubt.
„Da sitzt ja ein richtiger Schnee-Cowboy!“, staunt sein bester Freund Alex, der soeben um die Ecke biegt. „Übrigens komme ich heute nicht zum Tischtennis-Training. Meine Oma hat Geburtstag und ich habe noch kein Geschenk für sie.“ Nguyen verzieht sein Gesicht zu einem schelmischen Grinsen: „Ich hätte da einen Vorschlag ...“
Wenig später ist vor Omas Haus, ein Stück weiter die Straße hinunter, ein vierter Schneemann zu bewundern. Seine Brust ziert ein Riesenherz aus roter Pappe, auf dem „Für die liebste Oma der Welt“ steht. Sogar das Gesicht ist aus kleinen und großen roten Herzen gebastelt. Den Kopf krönt ein Küchensieb, in dem etliche Wunderkerzen stecken. „Wenn es dunkel ist, werden sie ganz toll strahlen“, freut sich Alex.
„Wie süß!“ „Das habt ihr echt super hingekriegt!“ Leylas Freundinnen, die im Internet ihre jüngsten Fotos gesehen haben, schlendern die Straße entlang und sind von dem Herzen-Schneemann hellauf begeistert. „Dem fehlt noch eine knuffige Schneefrau!“ „ Mit rosa Glitzer!“ „Helft ihr uns dabei?“ Übermütig albernd und kichernd machen sich alle gemeinsam ans Werk. „Leyla, komm runter. Bring rosa Sachen mit“, wird gesimst. Sie findet jedoch nichts Geeignetes. „Ich hole schnell mein altes Tutu und die zu klein gewordenen Ballettschuhe. Dann machen wir eine Ballerina aus ihr!“ Tiffi ist schon voller Begeisterung unterwegs.
„Was geht denn hier ab?“ Leyla, die Zwillinge, Finn und Olli, betrachten überrascht die neuen Schneeskulpturen. „Die sind ja megageil!“ „Echt der Hammer!“ Fröhlich plappern alle durcheinander. Leyla knipst ein Gruppenbild nach dem anderen, die sie umgehend zu Hause hochlädt. Als sie wieder zurückkehrt, balanciert sie ein Tablett, vollbeladen mit Baklavas über die Straße. „Mit besten Grüßen von meiner Mutter!“ Wie die munden! Das gibt Kraft für eine ausgiebige Schneeballschlacht, in die nun auch weitere Kinder aus der Umgebung hineingeraten.
„Hey, da seid ihr ja!“ „Wir haben die Fotos mit den Schneemännern gesehen und wollen auch mitmachen. Seht mal, was wir dabei haben. Das reicht bestimmt für drei neue!“ „Ach was, wir bauen die ganze Straße zu und kommen ins Buch der Rekorde!“, witzeln sie. In kurzer Zeit säumen die unterschiedlichsten buntgeschmückten Schneemänner die Strecke.
„Habt ihr eigentlich darüber nachgedacht, was daraus wird, wenn der Schnee taut? Dann bleibt jede Menge Müll übrig!“, regt sich eine Frau auf, die trotz Schneeglätte mit dem Fahrrad unterwegs ist. „Diese Spaßbremse ist Biolehrerin an unserer Schule“, tuscheln einige Kinder.
„Ich zeige euch, dass man einen Schneemann auch umweltfreundlich schmücken kann. In meinem Korb sind Walnüsse und Kastanien, geeignet für Augen und Mund. Dieser Tannenzapfen, den ich vorhin auf dem Weg aufgelesen habe, wird die Nase. Außerdem habe ich Futterknödel für Vögel gekauft.“ „Die kommen wie eine Kappe auf seinen Kopf.“ „Irgendetwas Farbiges fehlt noch.“ „Ein grüner Kranz aus Efeuranken. Ich schneide schnell welche von unserer Hauswand ab.“ „Rote Hagebutten als Sommersprossen. In unserem Garten sind noch welche!“, sprudeln die Kinder los. Mit einem Lächeln setzt die Lehrerin ihre Fahrt fort, nachdem der Natur-Schneemann vollendet ist.
„Der sieht aus, als hätte er Masern - wie meine kleine Schwester“, stellt ein Junge namens Sergej sachlich fest und bleibt davor stehen. „Olga wäre bestimmt viel lieber hier bei euch anstatt mit Fieber im Bett zu liegen.“ „Na, dann bring ihr doch zum Trost einen kleinen Schneemann mit“, schlagen gleich mehrere Kinder vor. „Gute Idee, den stelle ich außen auf die Fensterbank von ihrem Zimmer“, überlegt Sergej. „Wir können ihn auf dem Tablett transportieren. Aber vorher mache ich ein Foto für Olga. Los, alle zusammenrücken!“, kommandiert Leyla. Vorne sitzt Olli auf seiner Rodel und hält das Tablett mit dem kleinen Schneemann fest. Daneben hocken Sergej auf der einen, Nguyen auf der anderen Seite. Im Hintergrund drängen sich die übrigen Kinder. Dann ziehen sie allesamt zum Haus, in dem die kleine Patientin wohnt. „Gute Besserung!“, rufen sie hinauf und winken, als Olga kurz aus dem Fenster blickt und sich freudestrahlend bedankt.
„Da wird einem ganz warm ums Herz, ausgerechnet von einen Schneemann. Wer hätte das gedacht“, seufzt Olgas Mutter.
„Leute, wir müssen dann mal so langsam nach Hause!“ „Macht's gut!“ „War toll heute!“ „Gib mir deine Handynummer!“ „Man sieht sich!“
Allmählich wird es still in der Straße der Schneemänner. Nur einmal noch tönt es laut im Dunkel: als der Chor der Gratulanten seine Geburtstagslieder für Oma anstimmt und zum Aufblitzen der Wunderkerzen applaudiert.
 



 
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