Straße im Nebel

Cirias

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STRAßE IM NEBEL


Der Winter endete nirgends. Er war eingewurzelt in der Haut. Sein dunkles Auge ließ Marie das Gewicht ihrer Angst spüren. Nervös trommelte sie mit ihren Fingerspitzen auf den Glastisch des kleinen Cafes. Unruhig hasteten ihre Blicke abwechselnd zur Uhr über dem Tresen und dann wieder hinaus auf die regenglänzende Straße. Tom war spät. Als er schließlich vor ihr stand, sagte ihr die tiefe Furche auf seiner Stirn sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Wenn Tom sich Sorgen machte, war es ernst. Er setzte sich zu ihr.
„Du hattest recht“, sagte er tonlos. „Der Kerl hat einen Schnüffler auf dich angesetzt. Kuhn und Partner aus Hamburg“.
„Seit wann?“ fragte Marie leise.
„November. Der Mann hatte schon immer eine gute Buchhaltung. Aber dafür hat er das Schloss zu seinem Büro nicht erneuert...“
Marie wendete den Blick von den Regenschleiern zu ihm.
„Was können die rausbekommen haben?“
In ihren müden Augen stockte der Atem. Tom lehnte sich zurück.
„Alles und nichts. Ich weiß es nicht. Aber überleg doch mal, würden sie dich weiter beschatten, wenn sie alles wüssten? Außerdem hätte dein Mann die bittere Pille bestimmt nicht so geschluckt, ohne dich nicht vor die Tür zu setzen, mein Engel.“ Tom grinste.
Marie überlegte einen Augenblick.
„Ok. Ich weiß nicht, was Joachim für ein Spiel spielt. Aber früher oder später wird er die Wahrheit erfahren.“
Ihre blauen Augen schimmerten verräterisch.
„Also müssen wir handeln. – Nicht hier“, unterbrach sie Tom. „gehen wir zu meinem Auto. Es steht um die nächste Straßenecke, direkt vor einem seiner verdammten Häuser.“

Tom und Marie verließen das Cafe. Ein weißer Van fuhr langsam die Straße hinab. Er hielt. Ein Mann stieg auf den Beifahrersitz. Der Van entfernte sich rasch. Marie öffnete die Tür des silberfarbenen Sportcoupes. Sie stutzte.
„Wie riecht es denn hier?“
Sie sog die Luft ein und warf einen misstrauischen Blick in den Spiegel.
„Es riecht nach kaltem Rauch“, bestätigte Tom.
„Verdammt Tom, ich rauche seit zehn Jahren nicht mehr.“
„Sind vielleicht nur unsere Klamotten, vom Cafe. Hast du Paranoia?“
« Lass uns fahren. Dann kann ich besser reden.“
Sie fuhren stadtauswärts. Eine Stunde später bog der Wagen in die Auffahrt einer modernen Villa am Hamburger Stadtrand. Marie war allein.

Zur gleichen Zeit saß Joachim Ulrich in seinem Büro in Bergedorf. Er blieb oft bis tief in den Abend. Drei Stunden nachdem Marie an diesem regnerischen Februarabend nach Hause zurückgekehrt war, klingelte das Telefon. Joachim Ulrich hörte erst ungeduldig, dann immer blasser werdend zu. Erschöpft legte er das Telefon zur Seite. Er trat an das Fenster. Inzwischen war es dunkel geworden. Lichtschleifen rieben am Glas. Seine untersetzte und massige Gestalt spiegelte sich im Fenster. Ulrichs Hände zitterten. Marie... Es gab keinen Zweifel. Der Anrufer hatte ihm das ganze verdammte Band vorgespielt, das Gespräch mit diesem Nichtsnutz Tom, den er vor einem Jahr gefeuert hatte. So wie man einen Einkaufsbummel plante, so redeten sie über seinen Tod. Ein unmerkliches Lächeln spielte um seine traurig gewordenen Züge. Wenigstens war er ihnen nun einen Schritt voraus...

Marie ging schwimmen. Joachim hatte für sie im Parterre des Hauses ein Schwimmbad bauen lassen. Sie ließ sich auf dem durchsichtigen Neonblau des Wassers treiben. All das hier, die schillernde Pracht des Hauses, die Freiheiten und das Geld, das Joachim ihr ließ, war für die ehemalige Waise Marie wie ein Traum. Als der zwanzig Jahre ältere Stararchitekt Ulrich sie vor einem Jahr in einem Club in Frankfurt aufgelesen hatte, war das die Chance ihres Lebens. Ulrich heiratete sie. Doch nach der Affäre mit Tom mussten ihm Zweifel gekommen sein. Tom war einer der Fallstricke ihrer Vergangenheit. Wenn Joachim erfuhr, dass sie wegen Beihilfe zum Mord zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte und überdies zwei Haftbefehle gegen sie vorlagen, war der Traum bald zu Ende. Sie lebte jetzt zwar unter anderem Namen, aber es konnte keinen Zweifel daran geben, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Detektei ihr Geheimnis lüftete. Aber Tom war perfekt, was das Inszenieren von Unfällen anging. Sie konnte ihm vertrauen. Dabei hatte sie sogar so etwas wie ein Gefühl, eine Mischung aus Mitleid und väterlicher Achtung für Joachim entwickelt, aber sie wusste sehr wohl zwischen diesem Gefühl und ihrer Entschlossenheit zu unterscheiden, keinen Fußbreit mehr von der Treppe, die sie erklommen hatte zu weichen. Um Maries Mundwinkel spielte ein Lächeln, als sie an die Erweiterung des Testaments zu ihren Gunsten dachte, die Joachim nach einer Reihe zärtlicher Nächte in ihrem Beisein vorgenommen hatte. Auch das für ihre möglichen Kinder hatte er lachend wie ein kleiner Junge unterzeichnet und dann vergessen. Marie bewahrte es in einem Bankschließfach auf.

Zwei Tage später stieg Joachim Ulrich abends in seinen dunklen Mercedes. Nebel zog in dichten Schwaden durch die Straßen. Auf seinem Schreibtisch hatte er einen Umschlag zurück gelassen, der alle Ermittlungen der Detektei enthielt. Marie, der Liebe seines Lebens, wie er einmal gedacht hatte, würde nicht viel Zeit bis zu ihrer Verhaftung bleiben. Ulrich fuhr langsam stadtauswärts. Der Nebel wurde dichter.

Marie war nervös. Als Tom sie endlich anrief, versuchte sie ruhig zu klingen.
„Wie weit seid ihr?“
„Er ist gerade losgefahren. Wenn alles glatt geht, ist er um halb zehn am Bahnübergang.“
„Joachim ist immer pünktlich. Ruf mich an, wenn ihr fertig seid.“
Tom starrte auf das Funkgerät. Wenn das Signal kam, mussten sie schnell sein: das Pannenauto auf die Straße schieben, Ulrich überwältigen, bewusstlos machen und seinen Wagen auf die Gleise schieben. Das ganze hatte schon einmal hervorragend funktioniert. Das Signal riss Tom aus seinen Gedanken. Gebannt starrte er in die Dunkelheit, während die anderen den Wagen auf die Straße schoben.

Ulrich trat das Gaspedal durch. Den Trottel an seinem Funkgerät hatte er gerade passiert. Die Straße war ein langes dunkles Band in die Finsternis, ein schwarzes, von Nebelfeldern durchzogenes Tor ins Nichts. Hinter der nächsten Kurve würde der Bahnübergang aus dem Nebel auftauchen. Ulrich schloss die Augen. Er hielt den Wagen gerade in der Spur. Für einen Augenblick spürte er, wie das Auto auf dem Asphalt haftete, dann plötzlich raste das Fahrzeug über den Straßengraben ins Leere. Ulrich fühlte sich unsagbar leicht. Das letzte was er sah, war der Schatten einer langen Baumreihe, der auf ihn zu raste.

Zwei Monate nach Joachim Ulrichs Selbstmord lief Marie über den dunklen Hof einer Frankfurter Haftanstalt. Ein trauriger Zug lag um ihre Mundwinkel. Nur wenn sie auf ihren runder werdenden Bauch sah, spielte ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen. Joachim hatte Überraschungen immer geliebt. Aber diese hier würde ihm ganz gewiss nicht gefallen.
 
Hallo Cirias,

bei deiner Geschichte habe ich ein Problem. Du schreibst, dass die Frau mit einem bekannten Mann verheiratet ist, seit einiger Zeit übrigens. Sie lebt entsprechend schick. Auf der anderen Seite liegen Haftbefehle gegen sie vor.
Wie dumm sind denn die Polizisten in deiner Geschichte, dass sie es nicht schaffen, die Ehefrau einer stadtbekannten Größe aus ihrer Protzvilla zu holen? Auch die Detektive hätten das längst herausfinden und handeln müssen. Wäre für diese nebst Auftraggeber ein gefundenes Fressen, so die Frau los zu werden.

Grüße
Marlene
 

Cirias

Mitglied
Hallo Marlene,

dein Problem liegt in diesem Fall daran, dass du einen wichtigen Satz überlesen hast: sie lebt dort unter anderem Namen. Dies tun übrigens zehntausende von Menschen in Deutschland und es gibt in diesem Fall keine Handhabe, diesen Leuten beizukommen, es sei denn, man lüftet ihre Identität, und genau dies soll hier ja geschehen, was wiederum das Motiv für den Mord ist.
Für Hinweise bei Krimis was die logische Struktur angeht, bin ich immer sehr dankbar, kann aber hier keinen Fehler darin sehen- dennoch herzlichen Dank und liebe Grüße

Cirias
 

Roni

Mitglied
hallo cirias,

wie eigentlich immer habe ich freude an deiner sprache.
"Lichtschleifen rieben am Glas.” – das ist ein satz, der mir tagelang so richtig gut nachgehen kann.

zuweilen sind mir deine bilder aber auch etwas schwer.
"Der Winter endete nirgends. Er war eingewurzelt in der Haut. Sein dunkles Auge ließ Marie das Gewicht ihrer Angst spüren."
tja. da sitz ich hier und bemueh all mein assoziatives vermoegen ...
und bin mir dennoch nicht sicher, ob ich eine ahnung von dem bekomme, was du da genau sagen willst. ein winter ohne ende mit einem auge, das sich wellenfoermig ausbreitet? eine art taifun? winter-taifun?
aber das kann durchaus sache des geschmacks, des einfuehlens, der stimmung sein.

zum inhalt. - vom krimitechnischen her - schlage ich, ganz entgegen meiner kuerzungsliebe, einen ausbau vor.
in dieser form ist es mir zu skizzenhaft und du tappst da genau in die falle, die „kurzkrimi-schreiben“ bedeutet. naemlich auf knappstem raum moeglichst viele infos moeglichst spannend zu vermitteln. und weil nicht ALLES geht, oder zumindest es so scheint, geht irgendwas verloren.
genau da liegt das enorme problem: dass man neben crime, plot, hinfuehrung und ‚auslegbarer’ aufloesung - also einer unmenge von notwendigen infos - doch auch noch all das andere schaffen muss, was einem sonst in einer kurzgeschichte begegnet. die personen und situationen sollen doch dennoch lebendig und glaubwuerdig sein, aber das ist halt sehr schwierig, wenn man den krimistrang schon hat und ihn einhalten will.

z.b. joachim ... das ist doch eine ueberaus interessante figur. bzw. koennte es sein. im moment ist sie aber nur schachfigur in deinem krimi-komplott, sein entdecken, seine entscheidung, seine reaktion – da steckt doch so viel mehr an dramatik, an gefuehl drin ... seine entscheidung ... seine loesung ... das koennte mich glatt umhauen, wenn du bereit waerst, dem ein paar zeilen mehr zu widmen ... dem mann ein wenig mehr leben einzuhauchen.

also: es ist mir noch zu wenig – ich wuerd mir mehr wuenschen.
kleinigkeit: ich wuerd joachim einen anderen nachnamen verpassen, da der nachname, der wie ein vorname klingt, etwas irritiert und man sich kurzzeitig fragt, von wem ist da jetzt gerade die rede.


lg
roni
 
Hallo Cirias,

wie hat die Frau es geschafft, den Papierkrieg einer Heirat zu absolvieren, ohne dass ihre exakte Identität gelüftet wurde. Ich erinnere mich noch genau an die Papiere, die ich bei meiner Heirat vorlegen musste.

Meldebescheinigungen kriegt man nicht ohne Weiteres, das Familienstammbuch der Eltern verrät die genaue Abstammung.

Es mag relativ einfach sein, unter fremdem Namen in Deutschland zu leben - aber nur solange, bis man das kleinste Stückchen Dokument braucht.

Grüße
Marlene
 

Cirias

Mitglied
Hallo Marlene,
ich bin da prinzipiell anderer Meinung als du.Es gibt sehr sehr viele Menschen, die plötzlich in die Illegalität abtauchen: es gibt nicht ein einziges Papier, was man nicht fälschen kann, bestimmte Leute haben sich da auf die Nachahmung bestimmter Papiere spezialisiert, es gibt ganze Bücher und Zeitungsartikel über dieses Thema, auch spannende Berichte über menschen, die von heute auf morgen spurlos verschwinden und mnachmal nur einen Nachbarort weiter ein anderes Leben unter anderem Namen führen. Für einen längeren Krimi von mir konnte ich das recherchieren- es gibt keine fälschungssicheren Dokumente und eine Heirat ist kein so dramatischer Akt, als dass hier genauere Prüfungen erfolgen würden in Hinblick auf einen Datenabgleich , Fälschung etc.
Grundsätzlich finde ich deine Bedenken gut und wichtig- du hast gerade in meinem "Das Haus am Fluss" einfach noch viele Sachen gefunden, aber ich denke, dass ich hier nicht von Dingen erzähle, die ganz unwahrscheinlich oder gar unlogisch sind.
Liebe Grüße, Cirias
 

Cirias

Mitglied
Hallo roni,
herzlichen Dank für deine fundierte Kritik.
Das mit dem Winter, der sich in der Haut eingewurzelt hat, empfinde ich so als konkretes Bild, ich kann das fühlen, und es ist mir wichtig solche Metaphorik auch in einen Krimi zu bringen, die Sprache sinnlich erlebbar zu machen- und dabei muss ich stets damit rechnen, nicht verstanden zu werden. Das ist der Wesenszug moderner Dichtung, und meine Sprache hat, vielleicht auch leider manchmal, einen Hang zum Lyrischen...
In allem anderen kann ich dir nur beipflichten. Das Verrückte ist, dass es mir geht wie dir und das Geheimnis dessen ist die Tatsache, dass ich den Text vor kurzem für einen Wettbewerb verfasste, der mir genau diese Beschränkung auferlegte. Nun, und all die Dinge die du ansprichst wollte ich vertiefend darstellen, vor allem die Figur des Jochaim. Vielleicht mache ich das noch- ich fand deine Bemerkungen sehr treffend.
Das Spiel mit den Namen finde ich reizvoll- es ist gerade beabsichtigt, dass der Leser irritiert ist, weil das einen anderen Blickwinkel auf den Text erlaubt, eine Vertiefung, einen zweiten Blick ermöglicht.
Vielen Dank und liebe Grüße,
Cirias
 



 
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