Stromschnellen

Stromschnellen (Prolog meines Romans "Lebwohl, aber bleib")

Ein Fluss schlängelte sich durch seine Landschaft. Schmal war er, wie jeder Fluss, am Anfang, ehe sich ihm aus zahlreichen Seitenarmen viele Wasser zuflossen und ihn mehr und mehr füllten, wodurch er an Breite zunahm und schließlich auch an Tiefe. Berge bildeten die Landschaft mit sanften Kuppen und bewaldeten Böschungen, mit spitzen Gipfeln, von denen sich steile Hänge bis an des Flusses Ufer senkten. Bald blieben Hügel übrig, die endlich fast unmerklich in eine weite Ebene übergingen. Ganz am Ende zerteilte sich der Fluss in zahlreiche Arme und floss in vielfachen Windungen durch eine kultivierte Weide- und eine wilde Graslandschaft.
Vier Länder durchfloss der Strom, vier Länder, die mit der Sprache und den Traditionen ihrer Völker auch vier Kulturen hervorbrachten. Da war das Land der Gesänge, Lieder und Gedichte. Da war das Land stolzer Fürsten und fleißiger Bauern und Hirten. Da war das Land mit Geschichten und Märchen längst vergangener Zeiten. Und da war nur für wenige Kilometer entlang enger Kurven und hoher Berge das Land der Bergleute und Steinbrüche. So verschieden auch die Geschichte der Völker war, ihre Kultur und ihre Traditionen, denn die Landschaft prägten diese mit Erzählungen von Kobolden, von Hexen und Teufeln, von Helden und anmutigen Schönheiten, so gab es doch eine Geschichte, die in allen Flussvölkern die gleiche war, wenngleich unterschiedlich erzählt.
Es war einmal, so beginnen überall die alten Geschichten, und auch in unseren vier Ländern. Es war einmal ein junges, sehr schönes Mädchen, das öfter aus ihrem Dorf in den Bergen zum Ufer des Flusses kam, um in dessen erfrischenden Wasser zu baden. Es kannte die flachen Stellen und die Tiefen genau, die Untiefen ebenso wie die wirbelbildenden Strömungen um die Felsbrocken nahe dem Strand, zu dem es fast immer, wenn es das Mädchen zu Bade zog, lief. Es wusste also, wie es schwimmen musste, um sich frei in ihrer Bewegung zu entfalten, sich nicht zu stoßen, um nicht an den Fels zu geraten, der ihm hätte gefährlich werden können, um den Wasserwirbel der Untiefen auszuweichen. Auch am sonnigen Morgen eines warmen Sommertages schwamm das Mädchen entspannt in ihrem Fluss. Es war damals noch nicht Mode, irgendwelche Badebekleidung zu tragen. So also badete es üblicherweise völlig nackt.
In den Erzählungen der Alten diesseitig des Stroms wurde das Mädchen Barbara geheißen, auf der gegenüberliegenden Flussseite nannte man es Ursula, und andernorts wiederum hieß es Anna. Doch wir bleiben in unserer Geschichte bei dem wunderschönen Namen Barbara.
Sie stieg ins Wasser, ging langsam an einigen Felsen vorbei, auf sicheren Stand achtend, denn die Kiesel im Fluss waren sehr beweglich und glatt, als sie die Tiefe erreichte, breitete sie die Arme aus und schwamm langsam zur Mitte. Im Fernen sah sie flussaufwärts eine kleine Insel. Einige Male war sie bereits dorthin geschwommen, hatte Pause gemacht und war von dort wieder zurückgekrault. Doch heute wollte sie weiter hinaus, was war wohl hinter der Biegung, in die der Fluss sich hinter der Insel hinein schlängelte? Mit ruhigen Armbewegungen kam sie voran. Sie freute sich auf die Insel und war ob des Abenteuers, das dann folgen sollte, neugierig. Deshalb achtete sie wenig auf die Umgebung, es war wohl so, wie immer sonst. Sie musste an einer Stelle einen weiten Bogen um eine Untiefe, die von der Spitze eines Felsbrockens markiert wurde, machen, denn sie war dort schon einmal in einen Wirbel hineingeraten und hatte sich nur mit größter Konzentration und Kraft wieder herauswinden können. Doch inzwischen kannte sie alle Tücken des Flusses und zog in Ruhe ihre Bahn.
Es war einmal, so könnte auch eine andere Geschichte beginnen, jedoch wollen wir einen anderen Anfang für die neue Geschichte wählen: Es geschah am gleichen Tage, zur gleichen Stunde, an einem Ort auf der anderen Seite des Flusses.
Dort nämlich stieg ein junger Mann ins Wasser. Wir könnten ihn Heinrich oder Friedrich nennen, doch in den Erzählungen der Alten wurde er meistens Konrad genannt. Konrad also kam das erste Mal zu dem Fluss, er kannte bisher nur das kleine Flüsschen, das sich um sein Dorf herum seinen Weg bahnte und in dem er schon als kleiner Junge mit seinen Freunden herumtollte. Und wie staunte er über das gewaltige Wasser. Lange stand er am Ufer und betrachtete ehrfürchtig die Strömung, die Wellen und die weite Sicht bis in eine unbekannte Ferne, in der sich die Einzelheiten verloren. Der Ehrfurcht gegenüber wuchs jedoch eine Neugier nach dem Unbekannten der Ferne, bis er sich in die Tiefe des Flusses wagte und gegen den Strom schwamm. Fast wie Flügel kreisten seine Arme durch das kühle Wasser. Ruhig ging sein Atem, und dennoch war er durch diese einzigartige Situation innerlich erregt. Neu war das Gefühl, er war Herrscher über den Fluss. Das machte ihn stark. Er kämpfte gegen die Strömung, ließ sich für Augenblicke zurückfallen, um erneut seine Kraft mit den Flussschnellen zu messen.
Ein Gebüsch kam näher. Er steuerte geradewegs drauf zu. War es das gegenliegende Ufer. Konrad wunderte sich, nein, das Ufer war weit entfernt. Es konnte nur eine Insel sein, der er sich zielbewusst näherte. Sie kam ihm gerade recht, so konnte er sich etwas ausruhen, die Einsamkeit genießen und sich auf dem fremden Eiland umsehen. Nachdem er einige Züge tief Luft geholt hatte, schaute er sich um und bemerkte plötzlich ein Mädchen im Grase liegen, von Grasbüscheln bedeckt. Wie wir uns denken können, war dieses Mädchen unsere Barbara.
Sie schlief nicht, nein, sie ruhte und genoss die Natur, das Vogelgezwitscher, das Rauschen der Blätter von Baum und Strauch im Winde und das fortwährende Rollen der Wellen ans Ufer. In dieser Ruhe wurde ihr eine unbestimmte Veränderung gewahr und sie öffnete die Augen. Als sie den jungen Mann sah, lächelte sie, richtete sich auf und fragte: „Wer bist du denn und woher kommst du?“ „Du sprichst eine mir fremde Sprache, aber ich verstehe dich. Konrad nennt man mich bei uns im Dorf“, ging er auf sie ein, „dort drüben liegt es.“ Er deutete mit einem Fingerzeig auf das entferntere Ufer des Flusses hinter dessen Bäumen sein Dorf lag und sagte weiter: „Ich kenne dich nicht, wer bist du und wo liegt dein Dorf?“ Barbara stellte sich vor und wies ebenso mit dem Finger auf das diesseitige Ufer, „in den Bergen liegt mein Dorf.“ Barbara erzählte, dass sie hin und wieder den Fluss bis zu dieser Insel schwömme, heute aber gern weiter wolle, das Unbekannte suchte. Konrad schaute sie an: „Du bist ein hübsches Mädchen, du gefällst mir. Wir können gemeinsam noch ein Stückchen den Fluss entlang schwimmen.“ Und so geschah es.
Sie tauchten in das Wasser und erkundeten Neuigkeiten. Barbara schwamm vorn, Konrad hinterher, er überholte sie und wieder schwamm sie vorn. Konrad schaute von Zeit zu Zeit zu ihr hinüber. Sie berührten einander, waren neugierig auf den anderen, kamen sich näher, entfernten sich wieder. Das Spiel war Innigkeit. Darüber vergaßen beide, auf Veränderungen ihrer unbekannten Umgebung zu achten. Das Wasser schien mit seiner Strömung überall gleich. Zwar bemerkten sie einen Fels vor sich, allerdings nahmen sie ihn nicht ernst, obzwar Barbara sehr genau hätte die Gefahren einschätzen können. Doch sie neigte sich eher Konrad im Scherzen, Erzählen und in Zärtlichkeiten zu. So kam es, wie es kommen musste.
Konrad konnte nur schwer den stärksten Stoß abfangen. Die Frau umarmend prallte er mit leichten Blessuren vom harten Stein ab. Die Strömung war kräftig. Sie verloren für Augenblicke den Kontakt, fanden einander wieder, hielten sich an den Händen und wurden erneut auseinander gezerrt. Barbara hatte mit energischen Armbewegungen die Kontrolle über ihren Körper gewonnen. Allerdings trafen ihre kraftvollen Befreiungsstöße Konrad am Kopf, so dass er für Momente die Orientierung verlor. Zugleich wurde er in den Wasserstrudeln durcheinander gewirbelt, stieß unsanft an Barbaras Rücken, suchte ihre Hände zu fassen und nicht mehr loszulassen, um dennoch nach Momenten des Eins-Seins von ihr fortgerissen zu werden. Abermals trieben sie beide einem gewaltigen Stein zu. Barbara schwamm rechts an jenem vorbei, Konrad links. Nun hatte auch er seinen Schwimmrhythmus wiedergefunden. Doch die Strömung war stärker, als selbst der Wille der jungen Menschen, und schied sie endgültig. Barbara drängte in eine Richtung, Konrad in eine andere. Sie rief ihm als letztes noch energisch zu: „Rette dein Leben, sonst stoße ich dich noch in die Tiefe“, danach hörte er nichts mehr von ihr. Es hatte nunmehr für beide Schwimmer keinen Sinn, sich mit schier unermesslichen Kraftanstrengungen einander zu nähern und sich gar festzukrallen. Jeder musste für sich selbst mit der Situation klarkommen, sein eigenes Ziel stecken und ihm folgen, wie es oft im Leben ist, dass zwei Menschen sich finden, eine Wegstecke gemeinsam gehen und durchleben, bis die Umstände oder eigene Entscheidungen eines unbändigen Willens sie für immer trennten.
Barbara wurde in das Land der Märchen und Geschichten verschlagen, Konrad in das Land der Bauern und Hirten. Und wenn sie nicht gestorben sind, so endet vorerst unsere Geschichte, dann leben sie noch heute gesund mit ihren Kindern und Kindeskindern und mit den Gedanken an die wunderbare Begegnung im Fluss.
 



 
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