Struktur

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Studiosus

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Im Oktober des Vorjahres hat er angefangen, Autoren und Titel der Bücher zu notieren, die er ausgelesen hat. Einige wenige, die er im Laufe des Jahres 2005 schon gelesen hatte und die ihm noch eingefallen sind, vielleicht zwei, was wahrscheinlich auch schon alle waren, konnte er noch nachtragen; der Rest sind Bücher, die er nach Oktober des Vorjahres begonnen und ganz gelesen hat.
Zwischendurch ist ihm die Idee gekommen, er könnte auch Bücher in seine Liste aufnehmen, die er nur zum Teil gelesen hat, einfach mit der Präzisierung des gelesenen Kapitels oder der gelesenen Zahl von Seiten. Damit würden auch Aufsätze aus Sammelbänden Aufnahme finden, wie sie im Zuge wissenschaftlichen Arbeitens häufig vorkommen. Das Problem dabei ist, eine Grenze zu setzen. Wie viele gelesene Seiten sind nötig, damit er ein Recht hat, das Buch in seiner Liste zu erwähnen, damit er sagen kann, dass er es zum Teil gelesen hat. Die Hälfte? Oder nur ein Viertel? Oder ein Kapitel? (Ganz nebenbei, sollte er eventuell kurz den Grund nennen, warum er es nicht ganz gelesen hat?) Mit Sicherheit reichen ein paar Seiten vom Anfang nicht aus. Aber wo ist die Grenze? Wo ist die Grenze für die Aufnahme in seine Liste? Wie klein können die Einheiten sein, die er aufnimmt? Aufsätze? Ausschnitte aus Aufsätzen? Paragraphen? Einzelne Sätze, die er irgendwo gelesen hat? Wörter? Buchstaben?
Nach strukturalistischen Maßstäben könnte er die Existenz von Bedeutung voraussetzen, und das mit dem einfachen Argument, dass nur das, was Bedeutung hat, für ihn festhaltenswert ist. Damit würden Buchstaben alleine herausfallen, da sie keine sprachlichen Zeichen mit Inhalts- und Ausdrucksseite sind, sondern als schriftliche Codierung der Laute in einem Sprachsystem nur bedeutungsunterscheidenden Charakter haben. Allein sagt ein „i“ nichts, in „List“ dagegen macht es den Unterschied zu „Lust“ klar, ist also das bedeutungsunterscheidende Element. Ein „i“ des Ekels trüge dagegen schon Bedeutung.
Würde er aber alles in seine Liste aufnehmen, was Bedeutung hat, so müsste er einzelne Wörter aufnehmen, die er im Alltag liest, was in Gänze unmöglich ist. Wie würde er also alternativ aus all den von ihm in Büchern, Zeitschriften, auf Schildern, auf dem Fernsehbildschirm, auf Verpackungen und Produkten gelesenen Wörtern diejenigen auswählen, die es Wert sind, in seiner Liste zu erscheinen? Er müsste sich zuerst zwischen einem noch auszuarbeitenden Kriterienkatalog und einer nicht systematischen, situationsabhängigen Spontanauswahl entscheiden.
Wie er es auch machte, das Grundproblem der Grenzziehung bliebe bestehen. Und aus diesem einfachen Grund hat er eine im Grund willkürliche Grenze gezogen und als Kriterium für die Aufnahme in seine Liste das Publikationsformat gewählt, indem er festgelegt hat, dass es sich um eine „Liste gelesener Bücher“ handelt, in die getreu dieser von ihm selbst gemachten Vorgabe nur Titel aufgenommen werden, die erstens Titel eines Buches, also einer selbstständigen Publikation (mit Einband, wie er sich ein Buch eben vorstellt), sind und zweitens natürlich von ihm selbst gelesen wurden. Einhergehen soll damit, wenn dies auch im Namen der Liste nicht mehr expliziert ist, dass die Bücher ausgelesen worden sein müssen. Wahrscheinlich ist die Festlegung noch nicht einmal vollkommen willkürlich zustande gekommen, da sie von vielen Leuten wohl ebenso gemacht worden wäre und wird und somit das Ergebnis kultureller Normen und Gewohnheiten unserer Welt sein könnte, in der das Buch als eine – wenn auch nicht die einzige – im Alltag handhabbare Form der Verfügbarkeit von Lesbarem eine herausgehobene Stellung einnimmt.
 



 
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