Stufen II

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Haremsdame

Mitglied
Entwicklung

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Diese Zeilen stammen aus Hermann Hesses Stufengedicht, entstanden am 4.5.1941. In all den Jahren haben seine Zeilen in meinen Augen nichts an Aussagekraft verloren.

Auch wenn dieses „darf nicht ewig dauern“ zum Widerspruch reizt. Denn gerade, wenn wir uns wohl fühlen, wollen wir diesen Zustand für immer erhalten. Wir können und wollen uns dann nicht vorstellen, dass Besseres nachkommt.

Bei Situationen, die unser Leben zur Qual machen, sieht das bei den meisten von uns anders aus. Trotzdem gibt es auch Menschen, die sich in ihrem Leid suhlen – viel zu lange nicht einsehen, wie sehr sie sich das Leben damit unnötig vergällen...


Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.

Wie schwer fällt es uns, geliebte Menschen loszulassen! Festhalten wollen wir sie! Veränderungen in der Beziehung leugnen wir, so lange es geht. Und dann kommt der Schmerz, die Trauer. Unaufhaltsam. Wir können nicht verstehen, warum und wieso nichts mehr so ist, wie es einmal war. Vielleicht war alles so selbstverständlich, dass wir unser Gegenüber nicht mehr würdigten?

Noch härter ist es, wenn eine unheilbare Krankheit uns den Geliebten oder die Geliebte nehmen. Dann werden wir hilflos. Können nur das geben, was wir noch haben – bis den Kranken oder uns Gesunde die Kraft verlässt.

Tapfer sein? Für wen? Für was? Warum müssen wir so leiden? Was haben wir verbrochen? Hat uns das Glück nun für immer verlassen? Woher sollen wir den Mut nehmen, neue Bindungen einzugehen? Sollen wir uns wirklich der Gefahr aussetzen, wieder verletzt zu werden?

Die Wahrheit in Hesses Zeilen habe ich im Laufe meines Lebens schon mehrmals durchlitten. Ebenso wie jeder Mensch musste ich Vergangenes hinter mir lassen und das Zukünftige an mich heranlassen. Auch wenn das nach Passivität aussieht; Schmerz loslassen und warten, was dann kommt, ist aktives Tun...


Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Drei Wochen Schonzeit gab mir der Arzt, den Schmerz in meinen Knien loszulassen. Liegen war angesagt. Zeit zum Träumen. Zeit, mich mit mir und meinen Wünschen zu beschäftigen. Zeit, mich in der Leselupe umzusehen und mich dem alten Hobby des Lesens und Schreibens hinzugeben. Zeit gesund zu werden – körperlich und seelisch.

Das war ein Geschenk des Himmels! Wer hat in dieser hektischen Welt schon das Glück, ohne schlechtes Gewissen so viel Zeit für sich selbst zu finden? Und dabei noch von Menschen, die einem teuer sind, verwöhnt zu werden...


Wir wollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen.
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.

Nun nähert sich die Zeit des Aufstehens. Ich darf meine Knie langsam wieder belasten. Wohin mich meine realen Schritte führen werden, ist klar. Wir wollen bald umziehen. Uns schrittweise wieder der vor Jahren verlassenen Heimat nähern.

Die geistigen Wege dagegen zeichnen sich erst schemenhaft ab. Die gleißende Helligkeit am Ausgang des langen dunklen Tunnels blendet meine Augen. Sie verspricht aber auch eine Vielfalt von Möglichkeiten.

Meine Träume sagten mir, dass mein Bauch schon weiß, wohin der Weg mich führt. Der Kopf versteht die Aussagen bisher nur andeutungsweise. Aber er bemüht sich, tiefer einzutauchen...


Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Wie haben wir gekämpft, um uns die ehemals fremde Umgebung zur Heimat werden zu lassen! Wir haben aus- und umgebaut. Wir haben Blumen und einen Baum gepflanzt. Ich habe eine neue Sprache gelernt und versucht, die Mentalität der hier beheimateten, mir fremden Menschen zu verstehen. Wir haben keinen Gedanken daran verschwendet, dass alles nur eine Episode in unserem Leben sein könnte.

Doch das Schicksal will es anders. Zum Glück haben wir gute Ohren. Wir hörten den Ruf der Zukunft! Wir fanden eine Möglichkeit, all das Schwere, Dunkle, Unverständliche, das zur Verzweiflung treibende abzuschütteln. Das gemeinsame Tragen der Last hat uns stark gemacht. Stark füreinander. Stark miteinander. Stark zu neuem Aufbruch.


Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden.
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz: nimm Abschied und gesunde!

Morgen muss ich nun Abschied von drei Wochen Faulheit nehmen. Es rufen der Alltag und die damit verbundenen Pflichten. Es ruft körperliche Aktivität. Nach der Abstinenz der letzten drei Wochen freue ich mich schon drauf, wieder Treppensteigen zu dürfen. Neuen Zielen entgegen zu wandern...

Die Weisheit „Ohne Abschied kein Neuanfang“ hat mich schon vor Jahren beschäftigt. Inzwischen weiß ich, dass sie sich nicht nur auf Menschen und Orte bezieht. Ich weiß aber auch, dass der Abschied - mit Verstand angegangen – oft weniger schmerzt, als wir uns vorstellen.

Hoffentlich werden unsere Herzen auch künftig den Ruf des Lebens hören.

29.04.2007 gst
 

memo

Mitglied
Liebe Haremsdame!

Du hattest 3 Wochen Zeit. Ich glaube das war kein Zufall. Denn alles was wir tun und denken, hat eine Wirkung.
Nun hast du die Muße zu lesen, zu schreiben und dich mit dir selbst auseinander zu setzen. Dafür war ja in den letzten Jahren wenig Raum.
Zwischen deinen Worten, spürt man dein neues Leben. Deine Aufbruchstimmung und deine Neugierde. Das ist schön.

Ich finde es nett, wie ich bemerkt habe, dass du ältere Beiträge aufspürst.

Nur ein paar Gedanken zu deinem Tagebuch Beitrag,
von memo
 
A

Arthrys

Gast
hm,

Jeder Abschied ist ein neuer Anfang.
Wenn wir es denn wollen.
Danke
Gruß
Arthrys
 

Haremsdame

Mitglied
Liebe memo,

danke für Deine mitfühlenden Zeilen!

Was das Hervorkramen älterer Beiträge angeht: mich erstaunt, dass so manches Werk einfach "untergeht". Ich finde das schade, deshalb krame ich immer mal wieder im Schatzkästlein der Leselupe. Manchmal werde ich fündig, manchmal halt nicht... Auf jeden Fall habe ich bemerkt, dass so manche Blume im Verborgenen blüht. Wenn es meine nun leider wieder etwas eingeschränkte Zeit zulässt, dann macht es mir einfach Freude, den Scheinwerfer auf solche im Dunkeln versteckte Blüten hinzuweisen...

Hallo Arthrys,

danke für die Mitteilung, dass Dich mein Text angesprochen hat. Wenn mich nicht alles täuscht, sind Abschiede auch Dein Thema?

Liebe Grüße
Haremsdame
 

ENachtigall

Mitglied
Gestaltung

Hallo Haremsdame,

mir hat, ganz abgesehen vom Inhaltlichen, die Gestaltung des Beitrags sehr gefallen. Durch die Hervorhebung der Zitate erfährt der Text eine Struktur, die dem Lesen Raum und Ruhe gibt, den Text mitzufühlen.

Grüße von Elke
 

Haremsdame

Mitglied
Liebe Elke,

ich danke Dir ganz herzlich für Deine Worte, sie machen mir viel Mut, weiter meine Art des Schreibens zu verfolgen...

Viele Grüße
Haremsdame
 

Milko

Mitglied
tag 03

hallo haremsdame ( da fällt mir noch was ein...ich schrieb zu deinem namen haremsdame,
die sich nicht ganz geben , so oder so ähnlich ! worauf du meintest "falsch interpretiert "
dazu nur eins
eine frau die einen weg im harem geht , teilt mit vielen frauen einen mann , der mann ist in der pflicht sich der an diesem tage zugewendeten , sich ganz zu geben .
( nicht nur das diese frau das dann in diesen wenigen stunden fordert , sie empfindet und regestriert doch sofort "fehlhaltungen des mannes / der mann bekommt dies doch meist nicht mit !)
wenn ich mir also vorstelle wieviele unglückliche ehen es gibt, zumeist die frauen darunter seelisch leiden,
und empfinden ,
ist eine frau im harem , nur ein stück vom ganzen gegenüber /partner ,
muss sich also nicht voll und ganz auf den herrscher einlassen , sondern nur dies zeitfenster des wunsches /vereinbarung vom haremsmann.
das dazu
zur stufe 2 .

ist es ein toller ansatz deines schreibens und mitteilens
zum schluss wird es immer interessanter , in wortwahl fragenspiel und gewähltem
zwar weiß man nun:
du lebst im ausland mit deinem partner
schafften dort ne neue heimat ,
sehr viel arbeit , arbeit die bei dir diese auch nur arbeit ist ( 3 wochen krank .....wer kann das schon !)
-bitte lächeln ....
bei diesem format
das einzige was mir dazu enfällt
- bzw mir fehlte beim lesen
ein klein wenig mehr bezug zu euch
als beispiel dazu:
du schreibst von einer anderen sprache ,
dadurch auch anderes land
doch nicht ein kleiner hinweis wo und was
oben , nach den treppen auf dich wartet !
so habe ich das gefühl ( ein wenig)
du hast dieses schöne stück gar nicht für andere (leser=)
geschrieben .
dies tolle willst du selbst.
but
mehr als nur das wort
gut
nacht
milko
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo Milko,

woher weißt Du eigentlich so viel über das Leben im Harem :)?

Aber zum Text: Dir fehlt der Hinweis, was oben auf den Treppen auf uns wartet? Wie soll ich ihn Dir geben, wenn ich selbst noch wenig Ahnung habe? Aber zum Trost: heute ist im Kopf die Fortsetzung entstanden. Eine Zustandsbeschreibung - auch noch kein klarer Hinweis, was kommen wird...

Auch meine Leser brauchen Geduld :) - nicht nur ich...

Frohes Warten :)

Haremsdame
 

Haremsdame

Mitglied
Unterwegs

ENachtigalls Vorschlag folgend, werde ich die auf „Stufen II“ folgenden Entwicklungsschritte in diesem Thread fortführen.
Wen es interessiert, kann die ersten beiden Folgen unter „Stufen“
und „Zerbrochen“
nachlesen. Zum Themenkreis gehören auch „Einen Menschen so nehmen, wie Gott ihn gemeint hat“
und „Alzheimer“.

Auf dem Weg

Seit Anfang Mai bin ich wieder auf den Beinen. Die körperliche Bewegung ist im Vergleich mit der geistigen Entfaltung ist ein Klacks. Ich fühle mich, als würde in meinem Kopf ein zerknittertes Stück Papier glatt gestrichen und die darauf stehenden, längst vergessenen Zeichen zum Leben erweckt.

Mein Wunsch, schreibend in Gedanken zu versinken, nimmt immer mehr Gestalt an. Dank der Leselupe findet rege Befruchtung statt. Die Hoffnung, aus den Anfängen mehr zu machen, wächst...

Sechs Jahre lang stand die Frau meines Lebensgefährten im Mittelpunkt unserer gemeinsamen Sorge. Sie ist vor über neun Jahren, noch vor Vollendung des 50. Lebensjahres, an Alzheimer erkrankt und lebt nun seit Januar dieses Jahres in einem dementengerechten Heim.

In den vergangenen Monaten haben wir aus der Zwangsisolation ins Leben zurückgefunden. Nur ab und zu kommen alptraumartige Erinnerungen an unruhige Nächte und ständige Lauschbereitschaft hoch. Erinnerungen an festgezurrte Rituale, die den Alltag mit der Alzheimer-Krankheit erst ermöglichten. Erinnerungen an den ständigen Blick zur Uhr, um den nächsten Toilettengang nicht zu versäumen. Erinnerungen an gemeinsame Mahlzeiten, bei denen wir uns mehr auf den Hilfebedarf der Kranken konzentrierten, als auf unsere eigenen Teller. All das können wir nun hinter uns lassen und werden nur beim Besuch im Heim an das unaufhaltsame Fortschreiten der Krankheit erinnert.

Heute fühlen wir uns frei. Jeder unbeschwerte Tag ist wie Urlaub. Die Alltagsarbeiten gehen ohne größere Unterbrechungen leicht von der Hand. Wir finden Zeit füreinander und jeder auch Zeit für die Dinge, die ihm allein wichtig sind. Unsere Liebe blüht in ebenso kräftigen Farben, wie die Blumen im Garten.

Ich will das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen. Ich stehe zu meinen graumelierten Haaren und meinen Falten im Gesicht. Der Spätsommer des Lebens hat begonnen, ich bauche die reifen Früchte nur noch ernten.

Mein in jungen Jahren offen als Geschenk dargebotenes Herz, das ich in Alpträumen gegen eine wunderschön verzierte, aber leider leere Schachtel eintauschte, quält mich nicht mehr. Heute schlägt es mit einer geheimnisvollen Kraft in meiner Brust und ich kann bestimmen, wem ich es öffne und wem nicht. Ich muss mich nicht mehr beweisen. Ich muss nicht mehr für meine Ideale kämpfen. Ich weiß, dass meine Füße immer wieder festen Boden finden. Ich weiß, dass ich mich auf meine Stärke verlassen kann. Und ich weiß, dass ich genug Stärke habe, sie mit anderen zu teilen...

Am Wochenende haben wir in unserer neuen Wahlheimat an der tschechisch/deutschen Grenze eine passende Wohnung mit weit über 100 Quadratmetern Wohnfläche gefunden. Die Fassade des Gründerzeithauses in Dìèin (an der Elbe) ist zwar noch dem Verfall preisgegeben, doch im Inneren ist es ebenso gut in Schuss wie wir. Der Blick aus den Fenstern fällt auf bereits restaurierte, grüne, blaue, orange Hausfassaden, hinter denen sich die Berge der tschechischen Schweiz erheben.

Ganz anders als hier, wo „Lysa Hora“, der höchste Berg der tschechischen Beskiden, über 30 Kilometer entfernt und deshalb nur an klaren Tagen von unserem Wohnzimmerfenster aus zu sehen ist. Dafür haben wir hier nicht nur einmal vom Frühstückstisch aus erlebt, wie Hasen über das Feld hoppelten, Rehe ästen, Goldfasanen durchs Gras staksten und ein Storch sich auf dem Nachbarhaus niederließ.

Abschied und Neubeginn werden unser Leben weiterhin begleiten. Mal intensiver, mal weniger spürbar. Hoffentlich schaffen wir es, flexibel zu bleiben.
 

Haremsdame

Mitglied
Vorurteile?

Die Vorfreude auf die neue Wohnung hat nicht lange gedauert. Kurz nachdem ich meinen Beitrag in die Leselupe gestellt hatte, bekamen wir einen Anruf. Die jetzige Besitzerin der Wohnung hat es sich anders überlegt, sie will nun doch nicht verkaufen. Dabei habe ich speziell diese Wohnung schon Ende Januar zum ersten Mal besichtigt. Dann fanden wir jedoch eine Wohnung zum Mieten, was uns zu jenem Zeitpunkt, als unser hiesiges Haus noch nicht verkauft war, viel lieber war. Wir schlossen bereits im Februar einen Mietvertrag, der ab Juli in Kraft treten sollte und bezahlten die Kaution. Beim Ausmessen der Zimmer stellten wir mit Erschrecken fest, dass der Vermieter einen kleineren Maßstab als wir verwendet haben musste. Statt über 100 blieben nur noch 87 Quadratmeter übrig. Dann wagten wir es, noch ein paar Fragen zu stellen. So etwas sind tschechische Vermieter nicht gewöhnt. Vor zwei Wochen wurde der Mietvertrag einseitig aufgehoben, auf die Kautionsrückzahlung warten wir noch heute.

Einzelfälle? Unsere Erfahrung lehrt uns etwas anderes. Wenn ein Tscheche sagt: „ich ruf Dich morgen an“, dann gehen wir inzwischen davon aus, dass das der letzte Kontakt war. Kommt dann tatsächlich ein Rückruf, sind wir angenehm überrascht. Auf tschechische Versprechen zu vertrauen, haben wir verlernt. Auch der Umgang mit Behörden erfordert ein gutes Nervenkostüm. Oft weiß die rechte Hand nicht, was die linke gerade getan hat. Nur die Frage nach dem Vorgesetzten bringt so manchen Besserwisser auf Trab.

Zur Entschuldigung der Tschechen möchte ich bemerken, dass wir noch vor dem Beitritt zur EU in dieses Land kamen. Mit der Offenheit, die wir aus Deutschland mitgebracht hatten, konnten die Menschen hier nichts anfangen. Sie waren das Improvisieren gewohnt, egal ob es um Reparaturen oder Gesetze ging.

Noch heute fragt man lieber nicht, ob etwas erlaubt ist, man macht einfach. So entstehen Komposthaufen, sofern sie überhaupt angelegt werden, außerhalb des eigenen Grundstückes. Viel lieber wird frisch geschnittener Gartenabfall im Freien verbrannt – unabhängig davon, ob die Nachbarn der näheren und weiteren Umgebung frische Luft genießen wollen oder nicht. Im Winter werden, vor allem in dörflichen Gemeinden, Feststofföfen mit Abfällen beheizt. Fassaden und Dächer sind graue Zeugen der Luftverschmutzung. Atemwegserkrankungen bei Kindern und Erwachsenen sind an der Tagesordnung.

Im Laufe unseres Aufenthaltes hier habe ich mir angewöhnt, für meinen Seelenfrieden zu sorgen, indem ich meine Augen auf die positiven Entwicklungen richte. Immerhin werden jedes Frühjahr die Straßen, die mit ihren Unmengen von Schlaglöchern eher Panzerübungsstrecken gleichen, wieder mit Teerflicken versehen. Ich freue mich, wenn ein verrostetes Brückengeländer frisch gestrichen ist und versuche dabei zu übersehen, dass nach dem Verbrauchen des einen Farbkübels der Inhalt des zweiten Eimers einen anderen Farbton aufweist.

Sicher gibt es auch Ausnahmen. Landschaften zum Verlieben haben schon vor Hunderten von Jahren Blaublütige dazu animiert, ihre Herrensitze hier anzusiedeln. So manche Schlossanlage wurde seit der „samtenen Revolution“ mit viel Aufwand für Touristen aufpoliert. Ausgestattet mit ursprünglichen Möbeln und reichen Waffenkammern sind sie wirklich einen Besuch wert.

Doch angesichts der vielen negativen Erfahrungen mit der Unzuverlässigkeit der Menschen überlegen wir nun ernsthaft, ob für uns eine Rückkehr nach Deutschland nicht sinnvoller wäre. Mein Lebenspartner, in Tschechien geboren, aber 1969 nach Deutschland emigriert, hat gegen sein ehemaliges Vaterland eine Abneigung entwickelt, die dem Verhalten eines Exrauchers gegenüber Rauchern gleicht.
 

Haremsdame

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Wohnungssuche

Auch im Sommer, wenn es heiß ist und ein Wohnwagen fest auf dem Compingplatz steht, träumen "normale" Menschen von einem "echten" Zuhause. Einem Zuhause, wo sie ihre Möbel aufstellen können, einem Zuhause, in dem sie sich wohl fühlen.
Manchmal ist es gar nicht so leicht, dieses Zuhause zu finden. Das Haus, in dem wir über sechs Jahre lebten, ist verkauft - und nun? Über hunderte Kilometer hinweg eine neue Bleibe zu finden, ist nicht leicht. Da bleibt nichts anderes übrig, als die Reise in die neue Heimat anzutreten und vor Ort zu suchen.
Zum Glück ist eine Auswahl an entsprechenden Wohnungen vorhanden. Aber: bei der einen muss man im Falle eines erneuten Elbe-Hochwassers damit rechnen, dass zumindest im Keller alles schwimmt. Die andere hat gleich gar keinen Keller. Im elften Stock eines Hochhauses wohnen? Warum nicht? Die Aussicht in die sächsische Schweiz ist herrlich! Aber um in die Küche oder ins Bad zu kommen, muss man durchs Kinderzimmer. Nein - unzumutbar. Draußen, vor der Stadt gibt es eine wunderschöne Wohnung mit großem Keller, Stellplatz fürs Auto, Bushaltestelle um die Ecke, ob die`s wird? Oder doch lieber mitten in der Stadt, alle Geschäfte zu Fuß erreichbar?
Entscheidungen gehören zum Leben. Manche sind schwer zu treffen, andere leicht. Es gibt aber Tage, an denen auch kleine Entscheidungen schwerwiegend sind. So wie heute, bei 34 Grad im Schatten...
 

Haremsdame

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Sachsen

In München aufgewachsen, hätte ich mir früher nie vorstellen können, eines Tages in Sachsen zu landen. Doch heute habe ich im Internet gelesen, dass die Lebensqualität in der sächsischen Schweiz höher bewertet wird, als die in München. Auch im Radio sprechen sie häufig vom "schönsten Freistaat". Ich will's mal glauben und die früheren Vorurteile abbauen.
Nach Jahren in Tschechien ist zumindest eines klar: die Verständigungsprobleme werden geringer. Musste ich mir in den letzten Jahren aus ein paar verstandenen Worten den Sinn des Gehörten zusammenreimen, so kann ich hier zumindest fragen: "Wie bitte?" Und wenn ich im zweiten oder dritten Anlauf immer noch nichts verstehe,kann ich ja wieder auf meine bereits bewährte Methode des Zusammenreimes zurück greifen.
Aber ich will nicht unfair sein. Es gibt viele Sachsen, die sich bemühen, Hochdeutsch zu sprechen (Bayern, die das versuchen, gibt es übrigens auch). Zumindest, wenn sie meinen verzweifelten Gesichtsausdruck und meine doch etwas andere Aussprache bemerken.
Da die sächsische Schweiz bei Touristen sehr beleibt ist, haben die meisten Einheimischen auch Interesse daran, verstanden zu werden. Es ist also ein Vorteil, sich in einer schönen Gegend nieder zu lassen.
Auch wenn wir ursprünglich alles etwas anders geplant haben, sind wir - dank unserer Flexibilität - sehr zufrieden. Die "Vertreibung" aus Tschechien könnte für uns auch Vorteile bringen. Wir müssen sie nur suchen, dann finden wir sie auch...
 

Haremsdame

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Besuch in der Vergangenheit

Liebe Dorothee,
es war schön, wie sehr Du dich gestern über meinen Besuch gefreut hast. Eigentlich hatte ich ja gehofft, noch pünktlich zum Mittagessen bei Dir im Pflegeheim zu sein. Aber als ich eintraf, saßt Du jedoch schon auf der Bank im Gang. Alle anderen waren noch im Eßzimmer.
Eine Schwester berichtete mich gleich, dass Du die Zähne mal wieder nicht auseinander bekommen hast. Kein Wunder, dass Du innerhalb von vier Monaten so schmal geworden bist. Gerne hätte ich mir die Zeit genommen, Dir das Essen zu reichen, aber leider war es um halb zwölf dafür zu spät.
Deine Freude, als ich Dich mit Namen ansprach und fragte, wie es Dir ginge, war unbeschreiblich. Auch die Schwestern sahen fasziniert zu, wie sich Dein trüber Blick plötzlich aufhellte und Du übers ganze Gesicht strahltest. Ich konnte mich nicht beherrschen, als ich Dich in den Arm nahm und Du immer wieder jubeltest: "Ist das schön! Ist das schön!" Mir liefen die Tränen übers Gesicht, das Schluchzen konnte ich gerade noch hinunter schlucken.
All die Angst vor der neuerlichen Begegnung löste sich in Nichts auf. Was übrig blieb, war nur das Gefühl für ein kleines, verlorenes Mädchen.
Kurz darauf kam auch Deine "Ersatzmutter", deren Sprache Du zwar nicht verstehst, die sich aber - ebenfalls krank - rührend um Dich kümmert. Immer wieder brachte sie "moje zlatá" etwas zu trinken, erzählte mir unverständliche Stories und berichtete, dass sie aus der Slowakei komme und früher Krankenschwester gewesen sei. Sie hat an Dir einen Narren gefressen - Gott sei Dank!
Es ist schlimm, dass ich nicht mehr weiß, was ich Dir erzählen soll. Einerseits will ich Dich nicht beunruhigen, andererseits weiß ich nicht, was Du noch verstehst. Immerhin haben die Plaques schon Dein Sehzentrum zerstört, das Sprachzentrum ist wohl als nächstes dran. Dabei bist Du gerade erst 59 Jahre alt geworden. Du weißt nicht mehr, dass Du eine kleine Tochter hast. Mich hältst Du für Dich. Zumindest kommt es mir so vor, denn Du nennst mich Dorothee - so, als würde ich Dich an die frühere Frau Deines Mannes erinnern.
Lange Zeit hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil das Herz Deines Mannes immer mehr mir gehörte. Heute weiß ich, dass das ein Geschenk des Himmels war. Für Deine Tochter, für Deinen Mann, für mich - und in gewisser Weise auch für Dich. So konntest Du dich beruhigter in Deine Welt zurückziehen. Deine veränderten Bedürfnisse konnten wir mal mehr, mal weniger, befriedigen.
Doch nach über sechs Jahren wurde es uns zuviel. Wir hielten Deinen Verfall nicht mehr aus. Wir ertrugen das daraus resultierende Eingesperrtsein nicht mehr. Nachdem der erste Versuch, Dich in einem Heim unterzubringen, kläglich gescheitert war, verließen mich die Kräfte. Dein Mann hielt tapfer durch, versuchte mich erneut zu motivieren. Kleine blaue Pillen halfen mir die zwei Monate bis zum nächsten Versuch über die Runden. Mit denen fühlte ich weniger, war viel ruhiger. Gut, dass es sowas für Notfälle gibt!
Aber es war klar, dass es so auf Dauer nicht weiter gehen konnte. Ich glaube nicht, dass Du in gesunden Zeiten gewollt hättest, dass so viele Menschen mit Dir an Deiner Alzheimerkrankheit zu Grunde gehen.
Als ich Dir gestern erzählte, ich sei zur Zeit alleine auf dem Campingplatz, bist Du kurz hellwach gewesen. Alleine sein ist für Dich das Schlimmste, was es gibt. Du kannst Dir nicht mehr vorstellen, dass es gut tut, frei und ungebunden in den Tag hienein zu leben. Du kannst Dir gar nichts mehr vorstellen. Leider!
Trotzdem hast Du gestern einen guten Eindruck gemacht. Wir haben zusammen Kinderlieder gesunden. Du hast es genossen, Dich in meine Arme zu kuscheln. Als ich Dir erzählte, dass wir jetzt in Deine Nähe ziehen, hast Du dich gefreut. Ob Du wirklich verstanden hast, was ich Dir da gesagt habe, weiß ich nicht. Es ist im Grunde genommen auch gleichgültig. Es war nur wichtig, Dir irgendetwas zu sagen. Dir meine Nähe zu zeigen.
Sobald ich nicht mehr unmittelbar bei Dir war, kam aus Deinem Mund schon wieder der altbekannte Spruch: "Mir ist kalt." Dabei fühltest Du dich warm an, hattest keine Gänsehaut. Ich glaube, die Kälte kommt von der inneren Leere. Schade, dass es inzwischen so gut wie unmöglich ist, die zu füllen. Würde ich heute versuchen, Dir all mein Leben zu geben, dann wären wir beide tot.
Aus diesem Grund mussten wir Dich ins Heim geben. Du hast Dich beim zweiten Anlauf nicht mehr dagegen gewehrt. Hast mit stoischer Ruhe alles hingenommen. Dafür danke ich Dir von ganzem Herzen. Damit hast Du uns unser Leben wieder geschenkt.
Wenn Du dich vor Freude über unsere Besuche kaum noch einkriegst, dann erinnern wir Dich immer an den Spruch: "Versprochen ist versprochen und..." Ja, Du kennst ihn noch: "...wird nicht gebrochen." Das ist ein kleiner Lichtblick.
Doch ansonsten , liebe Dorothee, lässt mich Deine Krankheit vollkommen hilfslos zurück. Ich kann mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als einem Menschen nicht mehr helfen zu können. Deshalb haben wir zum Loslassen jetzt diesen Abstand geschafffen.
Glaub mir, wir haben Dich trotzdem lieb!
 
liebe haremsdame,

ich habe hier endlich gelesen und bi n tief beeindruckt vom inhalt wie auch vom schreibstil. gefällt mir bis jetzt am besten von allem wa sich inzwischen von dir las.
lieben gruß heike
 

Haremsdame

Mitglied
Nicht so schnell...

„Nimm Dir Zeit und nicht das Leben“, möchte man so manchem tschechischen Autofahrer hinterher rufen. Da wird an durchgezogenen Linien, ohne jegliche Sicht, überholt. Durch Städte und Dörfer rasen sie nicht selten mit 80 km/h. In den Gräben, die die Straßen häufig links und rechts säumen, hat schon so manches Gefährt sein Leben gelassen. Es scheint, als hätten die Autofahrer eine Stufe übersprungen: von den früheren Zweitaktern sind sie gleich auf die schnellsten Schlitten umgestiegen.
Kürzlich sah ich am Straßenrand vier junge Männer um einen gelben BMW stehen, dessen Spoiler herunterhing und die Zierleiste abgerissen war. Einer telefonierte, der andere wischte sich die Tränen aus den Augen. Im ersten Moment empfand ich nur Mitleid. Stellte mir vor, wie mühsam das gute Stück zusammengespart und mit wie viel Liebe aufgemöbelt worden war. Doch dann wurde mir bewusst, welches Glück die vier hatten. Alle waren unverletzt. Der sichtbare Schaden war für sie in diesem Augenblick sicher schrecklich, aber bestimmt heilsamer als jede Belehrung.

***

Angesichts der bekannten Gefahren auf tschechischen Straßen wählen wir auf unserem Weg nach Deutschland am liebsten eine Route über Polen. Da bleibt auch Zeit, bei Ortsdurchfahrten die prachtvollen Kirchen und die verschnörkelten Betoneinfassungen der Gärten zu bewundern. Die in Tschechien üblichen, bunt bemalten Kunstschmiedezäune sind hier viel seltener.
Außerhalb der Ortschaften zieren Mohn- und Kornblumen die bestellten Felder. Die Kirschbäume am Wegesrand tragen reife Früchte. Wären sie nicht so hoch, würden wir am liebsten anhalten und welche pflücken. Auf einigen der Zaunpfosten entlang der Autobahn sitzen Raubvögel. Ob sie schlafen, oder schon nach neuer Beute Ausschau halten, kann ich nicht erkennen.
Bei einer erlaubten – und großteils eingehaltenen - Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h hat der Reisende Zeit, die Natur um sich herum zu genießen. Ab und zu sieht man große Gehöfte mit interessanten Torbögen als Einfahrt. Natürlich fehlen auch die hässlichen Industriegebiete nicht. Aus riesigen Hallen, im Schnellverfahren aufgebaut, wird das Hinterland versorgt.
Sobald am Wegesrand die typischen Märkte mit Adonis- und Venus-Steinskulpturen beginnen, ist klar, dass es nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze (Zgorzelec/Görlitz) sind. Wenn dann auch noch die auf der deutschen Seite stehenden Windmühlen ins Blickfeld gelangen, wissen wir: bald haben wir es geschafft. Nach sechseinhalb Stunden Fahrt sind wieder in dem Land angekommen, in dem wir neue Eindrücke sammeln wollen. In Sachsen, das uns in zwei Wochen zur neuen Heimat werden soll.
 
Liebe Haremsdame,

ich lese hier zwei geschichten die in einer mehr oder weniger verknüpft sind. im ersten abschnitt empfinde ich beim lesen ein bedrücktsein und auch ein gewisses tempo, welches durch den zweiten teil, der zu anfang tatsachlich einen touch von lyrischer impression vermittelt.
deine sprache ich relativ gut zu lesen. doch habe ich den eindruck das es sich lohnt am text noch ein wenig feinarbeit zu leisten. hier und da könntest du den satzbau ändern.
**gg** der text wirkt ein wenig wie unter zeitdruck geschrieben...
ich fände es auch besser wenn du deine fortsetzungen jeweil als extratext einstellt satt wie hier unter fortlaufenden kommentaren zu posten.
ich z.B. lese nichte jede per lupenmail benachrichtigung vermittelten kommentarhinweis. so gehen dir auch viele antworten verloren.
lieben gruß heike
 

Haremsdame

Mitglied
Liebe Heike,

danke für Deine Meinung. Ich hab mir jetzt erst mal Zeit gelassen, um darüber nachzudenken und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dieses Tagebuch auf diese Art und Weise weiterführen werde. Hier will ich festhalten, wie sich das Leben verändert, wenn wir bereit sind, Entwicklung zuzulassen.

Als ich begann, meine „Stufen“ hinaufzusteigen, wusste ich noch nicht, was mich oben erwartet. Wir leben seit Ende Januar in einem totalen Umbruch. Nachdem wir unsere alte Arbeit, die Pflege unserer Alzheimerkranken, wegen Überforderung aufgegeben haben, verlassen wir in zehn Tagen auch noch unsere momentane Heimat. Was kommt in der neuen Wahlheimat auf uns zu? Werden wir Arbeit finden, die uns ausfüllt? Werden unsere finanziellen Reserven für ein Leben in Deutschland ausreichen? Wird sich unsere 12jährige im deutschen Schulsystem zurechtfinden?

Unser Leben ist spannend und es ist jedes Mal ein Erfolgserlebnis, wenn wir eine weitere Stufe erklommen haben. Es ist wie beim Bergsteigen: je höher man hinauf kommt, desto besser wird die Aussicht.

Natürlich könnte ich das auch in vielen einzeln eingestellten Texten darstellen. Mich reizt aber gerade diese Zusammenfassung!

Im letzten Text habe ich keine neue Stufe erstiegen. Da bewegte ich mich eher auf einer Ebene. Aber ich überwand einige hundert Kilometer auf dem Weg in die künftige Heimat. Insofern passt der Text in meinen Augen auch dazu.

Dank Deiner Worte überlege ich mir noch, ob ich daraus eine selbständige Geschichte mache. Dann, muss ich Dir absolut recht geben, muss ich allerdings noch daran arbeiten, damit der Titel „Nicht so schnell“ auch zum Tragen kommt...

Ich danke Dir auf jeden Fall für Dein Feedback.

Liebe Grüße
von der Haremsdame
 



 
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