Sturm

Er ging auf die Straße hinaus, um dem Gewitter näher zu sein, in ihm zu sein. Der Regen strömte auf seine Haare, seine Schultern. Durchnässte ihn binnen weniger Sekundenbruchteile.
Es war ihm egal, dieses eine Mal.

Seine Wahrnehmung wurde von den gleißend blau-violetten Rissen im Himmel, dem Grollen der Luft und des Bodens, dem Lärm überrannt. Jetzt war zwischen einzelnen Donnern nicht mehr zu unterscheiden; es begann ein bestialisches Crescendo, das seinen Körper vibrieren ließ.

Gewaltige, tiefschwarze Wolken konnten ihn jeden Augenblick erdrücken. Das Licht der Sonne war schon endlos lange fort. Dem dämmerschweren Zwielicht, das die kahlen Hauswände, die Bäume, das Bitumen und die Pflastersteine verschlucken wollte, folgte schnell ein grelles, kaltes elektrisches Licht, gefärbt wie heißeste Feuerglut, wie tausend beißende Neonröhren in einer viel zu kleinen Lagerhalle. Es umgab ihn, bestrahlte ihn. Seine Sinne gaben auf.

Er war ein Fremdkörper, er passte nicht hinein in diesen Ausschnitt der Zeit und er war in großer Gefahr. Gefangen in diesem Spiel von gebogenem und brechendem Holz, von weggeschwemmter Erde und schrumpfendem Beton. Gefangen als Insel im Meer einer Welt die ihn anspuckte, die ihn zertreten wollte. Gleich hier, zwischen geborstenem Chitin, rostigem Blech und geschmolzenem Polymer.
Doch es war ihm egal, dieses Mal.

Diese Luft, zum atmen so nötig, sie floh plötzlich immer schneller an einen helleren, besseren Ort und alles, was ihr folgen konnte, folgte ihr. Schilder klapperten zum Abschied, nein, sie schrieen ihn an: „Komm mit, komm mit, so komm doch mit uns!“ Er konnte nicht.

Je stärker alles an ihm vorüberwehte, je mehr gruben sich seine Füße in den Schotter um ihn. Das Fundament hielt, wurde immer fester und eiserner. Die Grenzen seines Körpers weiteten sich eine Schicht, wurden dicker als die Mauern von Jericho; unüberwindbar, egal wie sehr die Trompeten des Himmels und der tonnenschwere Hagel gegen sie anstürmten.

War es vorbei? In seiner Blindheit und Taubheit war er gezwungen, über das Bollwerk seiner geröteten, zerfetzten Haut in der Schale hinwegzuahnen, zu riechen und zu schmecken, wie viel alte, vertraute Existenz dort draußen noch war. Dort draußen, abseits, in der Weite der Welt, die nun pulsierte, bebte, lebte. Ja! Er konnte!
Dieses Mal.

Er fühlte die Bewegung, nahm das neue Instrument im Orchester wahr, filterte es aus dem Hintergrundrauschen des Äthers heraus. Euphorie nahm sich seiner an, trug ihn weit hinauf in Höhen, die er nun zum ersten Male sah. Wirklich sah.
Glück.

Eingebettet in Chaos und Zerstörung wurde er plötzlich unbarmherzig herausgerissen. Er spürte den Schmerz jetzt. Den Aufprall am Boden. Ein einzelnes Auto fuhr an ihm vorbei. Die Fahrgastzelle war erleuchtet, Scheibenwischer taten ihre Arbeit. Er ging zurück ins Haus und in die Küche, wo er zuerst den Rauch der verbrannten Nahrung sah.
Das war ihm egal.
Dann fiel leise der erste Schnee und wärmte sein Leben.

- 28.02.07
 



 
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