Stumtoben
„Irgendwie werden wir schon nach Hause kommen.“ Zweifelnd sah Angelika ihren Mann an. Der Wind zerzauste ihre Haare. Unter zahlreichen Beteuerungen, einander baldmöglichst wiederzusehen, hatte sie auf Stefans Drängen hin, die spontane Party ihrer Freundin nur ungern so früh verlassen. Stefans Entscheidung, den Heimweg früher als üblich anzutreten, erwies sich als goldrichtig: Orkanartige Böen schlugen ihr harten Regen ins Gesicht und zerrten an Jacken und Kapuzen. Beide Kinder waren müde, quengelten und kamen auf kurzen Beinen kaum gegen den Gegenwind an.
„Ich hab’s Dir ja gesagt, aber Du musstest ja noch einen Moment länger mit Sabine sprechen als nötig.“ Angelika seufzte. Das schien in letzter Zeit typisch für Stefan zu sein: Er suchte die Schuld bei ihr: Als ob sie Sturm bestellte, um ihn zu ärgern. „Tut mir leid, dass ich das nicht so ernst genommen habe. Im Partykeller war von dem Sturm auch nichts zu bemerken. Durch Sabines Leben fegt auch gerade eine Art Sturm, weißt Du. “ Angelikas Stimme nahm einen schrillen Ton an – wie meistens, wenn sie sich rechtfertigte. Die mögliche Diagnose „Epilepsie“ hing wie ein Damoklesschwert über ihrem Patenkind. Da brauchte Sabine jeden Zuspruch, den sie bekommen konnte. Angelika wollte der jungen Mutter beistehen, so gut sie es aufgrund eigener Erfahrungen eben konnte. „Sabine ist alleinerziehend, Stefan. Da bricht ein Sturm über ihr Leben herein, der sie leicht überfordert.“ Angelika konnte gut nachempfinden, wie sich ihre Freundin fühlte. „Alles gut. Gleich kommt die S-Bahn. Das schaffen die Kids.“ Stefan blieb zuversichtlich und nahm Angelika einen Teil ihrer Sorgen ab. Die Kinder waren es gewohnt, die Fahrt in der S-Bahn zurückzulegen.
„Mir ist kalt.“ Der kleine Marko jammerte und Angelika rieb ihm sanft über Rücken und Arme. Auf einem der Plastiksitze saß der achtjährige Elias und schaukelte mit dem Oberkörper vor- und zurück. Ein eigenartiger Rhythmus, fand Angelika. „Oh, nein! Das darf doch nicht wahr sein! Was machen wir jetzt?“ Angelika wurde panisch. Alleine oder mit Stefan, so meinte sie, wäre eine Nacht in einer fremden Stadt auszuhalten. Mit den Kindern jedoch wurde sie bereits bei der Vorstellung von Angst gepackt. Eine Laufschrift auf der Anzeigetafel über dem Bahnsteig stellte unmissverständlich klar, dass die S-Bahnen bis auf weiteres ausfielen. Verzweifelt strich Angelika sich erneut die Haare aus der Stirn. Ihren Kindern gegenüber riss sie sich zusammen und ließ sich nicht anmerken: Angst und Sorge stürmten auf sie ein. Einen klaren Gedanken konnte sie nicht fassen. Es war Stefan, der vorschlug, mit dem Bus zum Hauptbahnhof zu fahren. Von dort aus, nahm er an, könne man mit der Regionalbahn nach Duisburg fahren. Angelika lächelte. Sie war dankbar, dass ihr Mann mitten im Sturm die Ruhe bewahrte. „Ach, dann ist ja alles gut. Es ist wirklich etwas ganz anderes, ob ich mit Dir nicht weiß, wie ich nach Hause komme, oder ob ich mit den Kindern im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehe.“
Der Linienbus trotzte Wind und Starkregen. Sicher erreichte er den Hauptbahnhof. Mit je einem Kind an der Hand durchquerte das Ehepaar die überfüllte Bahnhofshalle. „Mama, sieh mal. Der sieht aber komisch aus!“ Niko zerrte an ihrer Hand und Angelika hielt ihn davon ab, auf einen der Punker vor ihr zu zeigen. Von allen Seiten wurde Angelika angestoßen, zur Seite geschoben oder angepflaumt. „Stefan, ich will nur nach Hause.“ Angelika fing an zu jammern. Das Stimmengeschwirr, die quengelnden Kinder und die schlechte Luft überforderten sie. „Der Regionalverkehr ist zusammengebrochen, aber wir können den ICE benutzen.“ Stefan deutete auf die Anzeigetafel. Angelika atmete erleichtert auf. „Gut, ich würde sagen, wir nehmen den nächsten ICE, der nach Duisburg fährt. Kommt mit, Ihr beiden.“ Fest behielt Angelika die kleine Kinderhand in ihrer. Vor ihr bahnte Stefan sich mit Niko einen Weg durch das Gewimmel, auf dem Angelika mit Elias folgen konnte.
„Kommen Sie. Setzen Sie sich.“ Eine indische Familie rückte im Abteil des ICEs zusammen. Ihren Jüngsten nahm Angelika auf den Schoß und hieß Elias, sich zu setzen. Eine Reisende saß zwischen ihnen. Direkt im Auge hatte sie Elias nicht mehr, aber sie hörte ihn leise mit sich selbst quasseln. Angelika sah hinaus auf die Anzeigetafel über dem Nachbargleis. Der ICE nach Norddeich schien seit Stunden überfällig zu sein. Da war doch hoffentlich die Uhr kaputt! Unruhe machte sich unter den Mitreisenden breit und auch Angelika war verwundert. Längst hätte ihr ICE abfahren sollen. Draußen auf dem Gang drängte sich ein Schaffner an Stefan vorbei in das Abteil. Den Schwerbehindertenausweis ihres Sohnes aus ihrer Tasche kramend, fragte Angelika, warum ihr ICE noch im Bahnhof stand. „Wir haben keinen Lokführer. Er hängt im Regionalverkehr fest.“ Das war eine Antwort, die Angelika im ersten Moment die Sprache verschlug. „Kein Lokführer? Nun, dann kann der Zug in der Tat nicht fahren.“ Allen widrigen Umständen zum Trotz musste Angelika lachen. Es war nicht leicht für sie, mitten in diesem Sturm die Ruhe zu bewahren und gelassen abzuwarten. „Bitte? Ich kann Sie nicht verstehen.“ Verzweifelt versuchte Angelika aus dem Gestammel und Gesten der ihr gegenüber Sitzenden schlau zu werden. „Was braucht Sie? Eine Bescheinigung vielleicht?“ Angelika wandte sich an die Inderin, die eifrig nickend einen Zettel beschrieb. Verneinend den Kopf schüttelnd gab die junge Frau den Zettel zurück. Mit unverständlichen Lauten und Gebärden sprach sie auf ihre Sitznachbarin ein. In gebrochenem Deutsch versuchte diese vergeblich, die verstandenen Worte zusammenzufassen. Inzwischen versuchte ein weiterer Reisender zu intervenieren, aber auch er scheiterte am mangelnden Sprachvermögen. „Vielleicht weiß der Schaffner Rat.“ Auf dem Gang entstand erwartungsvolle Unruhe, als sich die Türen schlossen.
Endlich setzte der Zug sich in Bewegung. Aufgeregt fuchtelte Niko mit einer Hand und zeigte auf die Hochspannungsmasten, die scheinbar am Fenster vorüberglitten. „Ja, es geht los. Bald sind wir zu Hause.“ Besänftigend strich Angelika ihm über den blonden Haarschopf und hielt gleichzeitig nach dem Schaffner Ausschau. Angelika hoffte im Stillen, dass dieser über genug Erfahrung verfügte, um helfen zu können. Gefühlt dauerte es noch Stunden bis der Schaffner kurz vor Mülheim an der Ruhr das Abteil erreichte. „Bitte, können Sie der jungen Frau nicht helfen? Wir verstehen nicht, was diese benötigt.“ „Sie arbeitet wohl in Düsseldorf, aber ...“ Hilflos zuckte die indische Mitreisende mit den Achseln. „Ich werde mit ihr in Düsseldorf aussteigen, damit ihr geholfen wird. Ich komme wieder, wenn ich den Zug abgepfiffen habe.“
Fassungslos sah die junge Frau dem Schaffner nach. Angelika konnte ihr den empfundenen Ärger darüber vom Gesicht ablesen. Tränen standen in den Augen ihres Gegenübers.
Die Stimme der Bandansage kündigte Mühlheim an der Ruhr erst an, als der Zug bereits im Bahnhof stand. „Der Sturm hat bei der ganzen Bahn für Durcheinander gesorgt.“ Angelikas Bemerkung galt ihrem Mann, der in dem Gedränge im Gang kein Durchkommen fand. „Na, los. Wir müssen gleich aussteigen. Geh‘ schon mal zu Papa, ja?“ An der Tür des Abteils nahm ihr Mann seinen Sohn in Empfang. Angelika erhob sich und nahm Elias an die Hand. Dieser unterbrach sein gestenreiches und nur für ihn verständliches Selbstgespräch. Er zerrte so sehr an ihr, dass Angelika ihn schließlich kurz los ließ. Verdutzt sah sie zu, wie Elias zielstrebig auf die taubstumme Frau am Fenster zuging. Es war Angelika ein bisschen unangenehm, wie unvoreingenommen ihr Sohn dieser mit der Hand auf die Brust tippte. Irritiert wandten Mitreisende ihre Köpfe und musterten Elias ebenso mitleidig wie verärgert. Mit vor Überraschung geöffnetem Mund verfolgte Angelika die Gebärden ihres Sohnes. Zu ihrer Verwunderung schien Elias deren Unsicherheit und Ärger über den weggegangenen Schaffner verstanden zu haben. Mit seiner freien Hand vollführte Elias die Gebärde für „Freund“. Das Gesicht der ihm Fremden strahlte auf: Sie verstand die Gebärdensprache, mit deren Hilfe Elias sprechen lernte. „Elias“ war das einzige lautsprachliche Wort, das der Junge herausbrachte. Angelika staunte, als ihr Sohn die Worte des Schaffners in Gebärdensprache übersetzte. Tränen der Freude rannen der eben noch die Hände ringenden Frau über die Wangen. Während der Zug anfuhr, verließ Angelika mit Elias das Abteil. Es half ja nichts: Bis zum nächsten Halt mussten sie die Tür erreicht haben, um aussteigen zu können. Ein- oder zweimal drehte Elias sich nach dem Abteil um und winkte fröhlich zum Abschied.
Bis sie in Duisburg ausstiegen, ließen Regen und Wind nach. Obwohl die Kinder zunehmend müde wurden und ihr die Ohren voll quengelten, legte sich die Unruhe in Angelika Bald würden sie es geschafft haben und die Kinder ins Bett bringen können. „Das war ein schönes Erleben, Stefan. Ich bin so dankbar dafür.“ Angelika versuchte, ihre Gefühle zusammenzufassen. Stumm nickte Stefan zu ihren Worten. „So ein Sturm hat eben auch sein Gutes. Hoffentlich konnte der Schaffner wirklich helfen.“ Angelika lächelte in der Erinnerung an die Gesichter der Mitreisenden.