Sturzflug

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Silberpfeil

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Sie hat das Radio ausgeschaltet. Heute mag sie die laute Rockmusik nicht hören, die sie für gewöhnlich auf dem Weg zur Arbeit begleitet. Eine Stunde dauert die Fahrt durch die Stadt. Es ist der schnellste Weg, trotzdem sieht sie rot: rote Bremslichter. Doch an diesem Morgen stört sie sich nicht am Verkehr, denn zu groß ist der Kummer, der sie seit dem gestrigen Streit mit ihrem Partner gefangen hält.
Sie fühlt sich taub, kann sich nur schwer auf die Straße konzentrieren. Müdigkeit übermannt sie zusätzlich, denn sie hat in dieser Nacht keinen ruhigen Schlaf gefunden. In ihren Gedanken wiederholen sich immer wieder die Worte ihres Partners. Sie weiß, sie muss sich nun zusammenreißen, aufhören, sich selbst zu zerfleischen, doch sie ist machtlos gegen den Automatismus, den ihre Gedanken fahren.

Es geschieht nur wenige Meter vor ihr. Wie ein Liebespaar sausen zwei kleine Vögel Seite an Seite durch die Luft und einen kurzen Augenblick lang spürt sie bei ihrem Anblick einen Stich mitten ins Herz. Doch die Vögel rasen direkt auf die Straße zu. Sie kann nicht sagen, ob sie sich absichtlich in einen Sturzflug begeben, oder ob es sich um Jungtiere handelt, deren Flugkünste noch nicht ausreichend ausgebildet sind. Einer von beiden prallt seitlich gegen das Auto vor ihr, fällt auf die Straße, rollt unter das Auto, ohne von den Reifen erfasst zu werden und landet schlussendlich im Straßengraben. Der andere Vogel ist verschwunden. Wie in Trance fährt sie an der Stelle vorbei, versucht im Rückspiegel zu erkennen, ob der Vogel noch lebt. Am liebsten hätte sie nachgesehen.
Das Auto vor ihr biegt ab, als wäre nie etwas geschehen. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. Sie merkt nicht, dass sie schneller fährt. War es ein Zeichen? Sie kommt nicht mehr dazu, über diese Frage nachzudenken, denn sie hat die enge Haarnadelkurve vergessen, durch die der Weg hinab ins Tal führt.
 



 
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