Superstau

Hubel

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Superstau

Na, nu sind Se mal nich so nervös! Das dauert noch 'ne Weile.
Hab ich im Urin.
Also, ich find Staus geil. Absolut stark.
So richtig im Stau stehen, auf der Autobahn, vorne vernebeln Auspuffgase den Himmel, hinten blubbern heiße Motoren, du zündest dir eine Zigarette an, wartest und hörst Radio. Find ich echt stark.
Mein längster Stau war zehn Stunden lang. Von 11 bis um 9 Uhr abends. Um sechs hab ich mal gemußt, na, Sie wissen schon. Bin ins nächste Dorf gelaufen damals. Hab bei der Gelegenheit gleich 10 Stück FRANKFURTER NACHTAUSGABE gekauft. Tolle Schlagzeile: "Superstau! 60 Kilometer und nichts geht mehr!" Weiß ich noch wie heute. Die gingen weg wie warme Semmeln im Stau. Jeder wollte halt lesen, was Sache war.
So ein Stau ist ja eine richtige Solidargemeinschaft. Da steh ich drauf: Wenn alle neben den Autos stehen, auf den Seitenstreifen, ganz Mutige balancieren auf den Leitplanken, Blick in die Ferne, andere murmeln "verdammte Scheiße" vor sich hin, ganze Familien mit Kind und Hund, dann kommt ein tolles Gemeinschaftsgefühl auf.
Meine besten Bekanntschaften hab ich im Stau gemacht. Richtige Freundschaften fürs Leben.
Briefe schreib ich ja nicht besonders gerne, aber telefonieren tu ich oft und wir besuchen uns gegenseitig. So ein gemeinsamer Stau verbindet und ich kenn da inzwischen Leute aus ganz Deutschland: Die Meiers aus Aachen zum Beispiel, hab ich am Kamener Kreuz kennengelernt und den Stempel Arno aus Hamburg bei Northeim, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Naja, wie gesagt, das is noch 'ne echte Gemeinschaft! Gibts sonst gar nicht mehr.
Also, wenn man da so 'ne Weile gestanden hat und nichts geht mehr - bei gutem Wetter, versteht sich, bei Regen, da ist der beste Stau Scheiße - also, wenn die Sonne scheint, dann kommt Stimmung auf. Ich flez mich bequem und locker hin, hör Musik und krall mir eine Flasche Bier aus der Kühltasche. Hab ich immer dabei, auch Proviant, ist ja logisch, oder! Und dann kommt einer zum Wagen, oder ich stoß zu einer Gruppe und man kommt ins Gespräch. Alle möglichen Themen, nicht nur Stau, nee, Sport, Politik, Filme, was weiß ich. Kannste unheimlich viel lernen.
Der eine steuert Kaffee aus der Thermosflasche bei, der andere schmeißt 'ne Runde Bier. Oft sind auch Leute mit Campingklamotten da, die packen dann ihre Klappmöbel aus und einer hat bestimmt Karten dabei. Dann wird's heiß. Bei Dortmund hab ich mal fünf Stunden lang gezockt. Als ich grad am Gewinnen war, gings auf einmal weiter, ohne Vorwarnung. Das Geld ham'se mitgenommen, die Karten hab ich noch. Solche Sachen, ich mein, so Erinnerungsstücke heb ich auf. Ich führ auch Tagebuch: Stautagebuch. Drei Schulhefte, Din A4 sind schon voll, Datum, Standort, Dauer, Adressen und so die großen Eindrücke, ich mein, daß man später mal weiß, wie man seine Zeit verbracht hat. Ist eben mein Hobby. Der eine ist Heimwerker, der andere sammelt Briefmarken und ich find eben Staus stark. Jeder nach seiner Fassong, oder! Ist ja schließlich ein freier Staat, wo wir leben, oder!
Ich wohn' ja auch ziemlich günstig. In der Nähe vom Kasseler Kreuz. Da brauch ich nicht weit zu fahren: Zwischen Kassel und Göttingen, bei Northeim, oder Ostheimer Senke, falls Ihnen das was sagt, oder mehr ostwärts, Richtung Eisenach, ehemalige DDR, da ist immer was los.
Als Junggeselle bin ich auch unabhängig. Ich hör um 10 Uhr HR 3, also am Wochenende, weil in der Woche geh ich ja schaffen. HR 3 Inform. Und dann gehts los. Ne halbe Stunde oder so, dann steh ich im Stau. Schlafsack hab ich immer dabei. Früher, als das hier um Kassel herum noch nicht so dick war, da bin ich oft Stunden gefahren, bis Frankfurt, Richtung Nürnberg oder nach Dortmund. Manchmal total für die Katz. Einmal bin ich fast bis Salzburg, bis zum Irschenberg, falls Sie den kennen. Guter Tip. War aber nichts, absolut nichts, nicht mal zähflüssiger Verkehr. War Scheiße, verkorkstes Wochenende. Aber jetzt, null Problem, ich mein, die ehemalige DDR hat schon 'ne Menge gebracht in der Hinsicht.
Naja, das Staustehen, das ist schon saisonbedingt. Im Winter, iss nich. Bei Null Grad und Schnee und so, da hörts bei mir auf. Soll ja Staufans geben, die sind auch winterstaugeil. Ich nicht. Ab April, da fang ich an. Juni, Juli, August, da ist Hochsaison. Ich mach keinen Urlaub. Brauch ich nicht. Wenn ich in so einen richtigen 50-Kilometerstau erwische, hab ich Urlaub genug. Kriegt man ja alles mit: die einen kommen aus Italien, die andern aus Griechenland oder Türkei. Gibt ja Leute, die machen halbe Weltreisen. Und wenn die dann richtig aufgetaut sind, dann gehn die Urlaubsfotos rund und dann wird erzählt, wer mit wem, und wie und wo. Was meinen Sie, was ich alles erfahr von all den Urlaubsländern. Die berühmten Ferienorte, kenn ich alle. Kann ich Ihnen die Strände aufzählen, Hotels und wo man gut ißt und so. Wofür soll ich da noch selbst hinfahren. Nee, mein Urlaub ist im Umkreis von 300 Kilometer um Kassel herum. Da kenn ich aber jeden Kilometerstein, können Sie mir glauben.
Quatsch, da braucht man keinen schnellen Superschlitten. Sehn'se ja, ich fahr Golf, Baujahr 86: Liegesitze, gute Stereoanlage, eine Kühlbox für anzuschließen am Zigarettenanzünder, das ist alles. Keine Extras oder so. Ist ja kein teures Hobby. Staufan kann eigentlich jeder sein. Kann ich nur empfehlen, weil, das ist einfach beruhigend, nervenschonend und so. Ich mein, das ist ja ein Riesenunterschied, ob man irgendwohin will, also ein Ziel hat und dann und dann da sein muß, oder ob man einfach so im Stau stehen will, sich ausruhen, Leute kennenlernen, klönen, also sinnvoll sein Wochenende verbringen.
Aber was red ich, gucken Sie mal nach vorne. Da rührt sich was. Ich glaube, Sie müssen einsteigen, gleich gehts weiter, ich kenn mich da aus.
Alsdann, gute Fahrt noch, und wir sehen uns bestimmt mal wieder.
Tschau!
 



 
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