Susi und die Neiderin

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Inu

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Susi und die Neiderin.

Lena trifft Susi in der Stadt.
Susi: braungebrannt, Haarmähne polygeblondet, drei-Wetter-Taft-gestärkt, Beine schön lang in hochhackigen Sandaletten. Susi ist schick. Susi ist attraktiv, ein Blickfang, wie sie da zügig und elegant durch die Einkaufspassage eilt. Susi ist fünfundzwanzig Jahre alt.

Doch Susi ist krank. Sie leidet. Hat schwere Depressionen. Und ständig Rückenschmerzen. Susi kann nicht arbeiten. Sie lebt von Vater Staat.

"Wie schön, dich zu sehen, liebe Lena! Wir haben uns total aus den Augen verloren", ruft Susi. "Ich freu mich, ich freu mich! Aber du siehst müde aus!"

Lena weiß, dass sie müde aussieht. Sie ist zwanzig Jahre älter als Susi. Täglich entdeckt sie neue, graue Haare. Und Falten ... Lena eilt weniger beschwingt durchs Leben. Sie hat a u c h immer Rückenschmerzen.

"Ich wusste nicht, dass du noch in der Stadt bist", sagt Lena leise.
In Wirklichkeit hatte sie g e h o f f t , Susi sei endlich von der Bildfläche verschwunden. Susi ist ein Stachel in ihrem Fleisch.
"Ach ja, ich war eine Weile fort ... Urlaub ... weißt du!", sagt Susi lässig.
Lena blickt die andere neugierig an.
"Das dürfte ich eigentlich niemandem erzählen", flüstert Susi, "da will gleich jeder wissen, wo ich das Geld her hab. Also, Ferien wie diese gibt’s nicht noch einmal. Fantastisch! Ich war nämlich auf den Malediven und ... "

Da sieht sie plötzlich etwas Sezierendes in Lenas Augen. Lenas sehr kühler Blick stoppt Susis Begeisterungsausbruch sofort.
"Du ... der Flug - du wirst es nicht glauben - hat kaum was gekostet! Ein Sonderschnäppchen. Hatte ich aus dem Internet! Außerdem war es eigentlich kein wirklicher Urlaub, könnte ich mir ja gar nicht leisten ... nein, ich habe bei einer Familie gewohnt. Hab bei denen ausgeholfen, gearbeitet im Haushalt und so ... weißt du!"

Ärger und Widerwillen kriechen in Lenas Hirn, dass ihr fast schlecht wird und sie nur fort möchte. Doch ihre Neugier ist stark:
"Wohnst du eigentlich noch in der Mozartstraße?" fragt sie wie nebenbei.
"Ja, ja", sagt Susi.

Lena ist tief enttäuscht. Sie hatte heimlich gehofft, man habe diese Frau zu guter Letzt doch noch auf die Straße gesetzt. Denn Susi hat sich die Wohnung auf niederträchtige Weise unter den Nagel gerissen.
- Eine Wohnung, die eigentlich für mich bestimmt war - denkt Lena bitter. Seither ist dieses Weibsstück für sie ... nein, nicht gestorben, dafür ist die viel zu laut, zu auffällig, nein ... aber ihr Anblick reizt Lena, wie das berühmte rote Tuch den Stier. Lena hasst Susi. Nur in raren, von kühler Vernunft dominierten Momenten muss sie sich eingestehen: Susi ist nicht wirklich bösartig, nur eben s c h l a u . Ganz gleich: die Wunde, die Susi ihr geschlagen hat, schmerzt jedesmal aufs Neue, wenn sie sich begegnen. Dabei liegt die Angelegenheit schon über zwei Jahre zurück.

In dem kleinen Zeitungsladen, den sie auch heute noch betreibt, seufzt Lena eines Tages vor den Kunden: stressig sei es, täglich die dreißig Kilometer zur Arbeit und wieder heim zu fahren. Sie wohnt damals nämlich weit draußen auf dem Land. Dass sie eigentlich lieber in die Nähe ihres Geschäftes ziehen wolle, sagt sie.

"Da habe ich ein ideales Angebot", lächelt ein etwa sechzigjähriger Herr, der bei Lena regelmäßig seine Zeitung und Zigaretten kauft. "Die Stadt hat hier im Viertel ein altes Jugendstilhaus übernommen und lässt es gerade renovieren. Für drei Stockwerke stehen die Mieter schon fest. Aber da ist noch das vierte, das Dachgeschoss. Wir tun uns schwer damit, denn es entspricht nicht der Norm, weil die Küche fehlt. Es gibt da nämlich ein Gesetz, das genau bestimmt, wann ein Projekt als Wohnraum vermietet werden darf und wann nicht? Also dieses dürfen wir nicht an eine Familie vermieten, höchstens an jemanden, der es für gewerbliche Zwecke nutzt. Sie könnten dort ihre Zeitschriften und Zigarettenvorräte lagern ... pro forma natürlich, nur um dem Gesetz zu genügen. Sie sehen: eine etwas außergewöhnliche Wohnung. wirklich, diese Dachetage ist im höchsten Grad ... unkonventionell!"

"Trotzdem ... eine Küche würde ich doch ganz gern haben!" meint Lena bescheiden.

"Also ... Starkstromherd, Waschmaschine, Trockner, Geschirrspüler, all das kann nicht angeschlossen werden, die elektrischen Leitungen dort oben sind zu schwach. Für zwei Kochplatten aber reicht die Kapazität. Und es wird im Keller Münz-Automaten für die Wäsche geben. Das alte Gemäuer hat immerhin über hundert Jahre auf dem Buckel, da kann man nicht a l l e s verlangen", sagt der Mann mit seinem seltsamen Lächeln, "aber glauben Sie mir, die Wohnung besitzt auch einige verborgene Vorzüge. Hier ist meine Karte. Ich schreibe Ihnen jetzt noch die Adresse von dem Projekt dazu. Dann können sie hingehen und sich selbst ein Bild machen. Rufen Sie mich an und sagen sie mir dann sofort Bescheid, ob sie interessiert sind."

Lena ist überrascht. Der unauffällige Kunde, mit dem sie nur manchmal ein paar Worte gewechselt hat, entpuppt sich jetzt als Baudezernent der Stadt. So steht es auf der Karte.

"Die Wohnung scheint mir wie für S i e geschaffen!", sagt der Mann, als er seine Zeitungen bezahlt.
Soll das ein Kompliment sein? Doch eher das Gegenteil! Eine Dachgeschoss-Angelegenheit im vierten Stock mit schrägen Wänden und schwachen elektrischen Leitungen, die kein Gerät aushalten, eine fehlende Küche und er meint, dafür sei s i e die ideale Mieterin.
"Danke sehr, ich werde es mir überlegen", sagt Lena freundlich.
"Warten sie nicht zu lange, ich muss nämlich nächste Woche für eine Weile verreisen."

Gerade als er dabei ist, zur offenstehenden Tür hinauszugehen, kommt Susi in den Laden gewirbelt.
"Heh, heh, hab ich da was von Wohnung gehört?", ruft sie. "Das interessiert mich aber! Ich will doch lang schon raus aus dieser komischen WG ... bin die ganze Zeit auf der Suche. Wo ist denn dieses Haus?"

"Ich habe der Frau Lena die Adresse gegeben", sagt der Mann im Davoneilen.

"Ich könnte mir die Sache ja unverbindlich anschauen und dir dann morgen berichten, ruft Susi enthusiastisch. Lena, du hast natürlich den Vortritt und nur, wenn du nicht interessiert bist ..."
"Okay", sagt Lena, "geh ruhig hin." Sie gibt Susi die Visitenkarte des Dezernenten mit der Adresse des Gebäudes.

"Eigentlich hat der Herr die Wohnung ja Ihnen offeriert, Lena", mischt sich eine Kundin ein.

"Na ja, ich schaue sie ja nur f ü r meine Freundin an ... das darf ich doch!", kontert Susi. "wir haben nämlich fast den gleichen Geschmack!"

Am nächsten Tag fragt Lena: "Bist du in der Wohnung gewesen?"
"Nee", antwortet Susi, "noch nicht, aber vielleicht morgen!"
Zwei Tage später zuckt Susi mit den Schultern: "Verdammt, ich hab's noch immer nicht geschafft."
Am nächsten Tag erscheint sie dann mit heruntergezogenen Mundwinkeln im Laden:
"Das ist vielleicht eine Bruchbude ... ein Dachjuchhe im fünften Stock ... wahnsinnige Treppen, natürlich kein Fahrstuhl ... da ist man ja schon fertig, wenn man oben ankommt und alles ... mini ... mini, drei, vier winzige Kabäuschen ... also wirklich ... und die reinste Baustelle! Sieht nicht aus, als ob das jemals was würde."

Lena, die nach Überdenken, Überschlafen und nun auch nach Susis negativer Beschreibung keineswegs wild auf dieses Apartement ist, kümmert sich nicht weiter, vergisst die Sache.

Da bietet ihr jemand schon vier Tage später eine andere Wohnung an. Im ersten Stock eines Mietshauses. Eine Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Angelegenheit, weder groß noch klein, weder schön noch hässlich. Standard eben. Aber sofort bezugsfähig. Außerdem ist sie nur einen Steinwurf vom Laden entfernt. Lena fackelt nicht lange, macht alles mit dem Eigentümer klar und zieht ein.

Von Susi hört und sieht sie eine Weile nichts. Eines Samstag Morgens taucht sie wieder im Laden auf.
"Halt dich fest, meine Liebe", jubelt Susi. "Erinnerst du dich an diese Dachgeschoss-Sache da ...? Also, ich k r i e g die Wohnung. Herr Vanderweide ( das ist der bewusste Baudezernent !) war sehr von mir angetan und hat bei der Stadt ein gutes Wort für mich eingelegt. Hab den Mietvertrag schon in der Tasche. Juhu ... Es ist unglaublich. Lena, geh nachher mal mit! Das musst du sehen. Was die daraus gemacht haben - man sollte es kaum für möglich halten!"

Lena geht nach Ladenschluss mit. Nur drei Minuten Fußmarsch und sie sind da!
Das Haus steht auf einer Anhöhe am Rand des Heine-Parks. Es ist eine schöne, einst hochherrschaftliche Villa, und wie Lena ja schon weiß, ganz im Jugendstil gebaut. Die Dachwohnung, um die es geht, liegt im vierten Stock. Die Treppen sind breit und bequem. Sie würden sogar für siebzigjährige Rentner noch zu bewältigen sein. Und die Zimmer? Es sind tatsächlich niedrige, mit weißer Rauhfaser tapezierte Kämmerchen mit schrägen Wänden, wie Susi erwähnt hatte. Allerdings mit geräumigen Aussparungen, die weit unters Dachgebälk reichen, wo man durch Einbau von Regalen und Kleiderstangen eine Menge Stauraum zum Aufbewahren von Sachen schaffen könnte. Platz für eine Schreib- und Arbeitsecke und ein paar Winkel und Nischen für Futonbetten oder Liegen sind auch vorhanden.
Doch zugegeben, diese Räumlichkeiten sind eher bescheiden.

"Komm", sagt Susi, "jetzt zeig ich dir was ziemlich Tolles!"
Das ‚ziemlich Tolle‘ ist das Badezimmer. Lena kann nur laut schreien. Vor Staunen. Denn es ist mindestens dreimal so groß, wie die Bäder, die man heute in normalen Wohnungen hat. Und sehr hell. In die Decke sind riesige, kuppelförmige Oberlichter eingelassen. Auf dem Boden smaragdgrüne Fliesen. An den Wänden hellbeige Kacheln mit Seerosen- Motiven. Gleich zwei identische, sanft geschwungene Waschbecken mit kostbar verzierten Wasserhähnen. Darüber ovale Spiegel im Jugendstilrahmen. In einer Nische ein Bidet. Wie schick!
Die Badewanne jedoch ist hochmodern. Luxus pur. Eine übergroße Eckwanne, etwas erhöht in den Boden eingelassen, daran anschließend ein Podest, auf dessen smaragdgrün gemasertem Marmor man es sich bequem machen kann wie auf der Bank eines Solariums. Denn wärmend und golden fallen sogar jetzt, an diesem rauen Herbsttag die Sonnenstrahlen von oben auf all diese Pracht.
"Das ist fantastisch!" Lena ringt nach Luft.
"So ... was du bisher gesehen hast, war der normale Wohn-und Nutzbereich", grinst Susi, "aber jetzt gehen wir einmal dort hinüber!"

Das ‚Zimmer‘, das sie jetzt betreten - Susi hatte es Lena damals im Laden komplett unterschlagen - ist eher eine kleine Halle von etwa f ü n f z i g Quadratmetern Größe und hell, hell. Scheint von einem exzentrischen Bauherrn einst aus purer Lust und Tollerei auf den flachen Teil des Daches gesetzt worden zu sein. Der Raum ist von einer luftigen Glaskuppel mit Metallstreben, einer wohlgeformten Kuppel im puren Jugendstil überspannt, durch die alles Tageslicht der Welt hereinströmt.
Lena taumelt fast vor Aufregung, vor aufkeimendem Neid - der Susi hoffentlich verborgen bleibt!

"Hast du ein Glück!" ruft sie ein ums andere Mal und kann ihr Aufgewühltsein kaum mehr verbergen. Ihre Stimme überschlägt sich, während sie in diesem wundervollen kleinen Saal herumblickt, der jetzt Ende Oktober von einer Helligkeit durchflutet ist, als sei draußen satter Hochsommer.

"Da muss das Amt mir aber ab und zu einen Fensterputzer genehmigen", wirft Susi munter ein, "ich müsste ja auf eine hohe Leiter steigen, um d i e s e Flächen zu reinigen, i c h mit m e i n e r Bandscheibe!"

Der kuppelüberdachte Raum besteht auf einer Seite aus gläsernen Schiebetüren, die bis zum Fußboden reichen. Durch eine dieser Türen treten sie nun ins Freie und stehen auf einer D a c h t e r r a s s e , von der man die herrlichste Aussicht nach drei Himmelsrichtungen genießt. Auch davon hatte das schlaue Geschöpf damals im Laden kein Wort erwähnt.
Lena regt sich so auf, dass sie fast umfällt. Fast umfällt vor Wut. Vor Neid. "Warum habe ich Idiotin mir die Wohnung nicht angesehen, damals!", denkt sie in ohnmächtigem Zorn.

"Hundertzwanzig Quadratmeter ist die Terrasse groß", jubelt Susi, "und nur von meinen Räumen her erreichbar, wird also mir ganz allein gehören. Das habe ich schriftlich. Die anderen Mieter kommen hier nicht herauf, es sei denn, ich würde sie einladen!" aber die haben ja selbst ihre Balkone.

Vor dem brusthohen Sicherheitsgeländer schreitet Lena die drei Seiten der Terrasse ab. Sie zittert. Löst sich nur langsam aus dem Dunst von Wut und feuerrotem Grimm: "All das könnte ich jetzt täglich haben, wenn ...

Es ist einmalig. Der Panorama-Blick. Traurig sieht Lena von oben auf die bizarren, malerischen Hausdächer und die Dutzende von Winkeln, Erkern, romantischen, efeuumrankten Ecken zwischen den Dächern. Kleine, begrünte Oasen voller Blumenstöcke leuchten im roten und schwarzen Ziegelmeer. Und hier ist man hoch über allem. Die steil ragenden, vereinzelten Kirchtürme im Weichbild der Stadt umfasst Lenas Blick, wandert dann weiter über die Wiesen, den Fluss bis weit hin zu den Wäldern. Eine Aussicht ... so unsagbar frei und schön!

"Das ist einmalig. Dagegen ist meine Wohnung ein Scheißdreck", denkt Lena. "I c h könnte jetzt hier leben. M i r ist das alles angeboten worden ... m i r !" Ihr ist nur noch nach Heulen zumute.
"Das ist das Domizil, von dem ich immer geträumt habe", schluchzt etwas tief in ihrer Seele. Sie fühlt sich elend. Betrogen. Verraten.

"Die Räumlichkeiten, so von Grund auf renoviert, sind noch jungfräulich und leer. Man kann sie herrlich gestalten. Das wird natürlich nicht der Fall sein, wenn Susi nächste Woche mit all ihrem Krempel einziehen und sie verseuchen wird", denkt Lena bitterböse.

"Natürlich haben sie das alles hier nicht meinetwegen so schön auf die Reihe gebracht", flötet Susi, "sondern das Haus steht unter Denkmalschutz und sie mussten es nach alten Plänen stilgetreu wiederherstellen. Unsummen haben sie da hinein gepumpt. Auch die übrigen Wohnungen sind prachtvoll. Aber diese hier toppt alles!"

"Ja, es ist wirklich wunderbar", sagt Lena, die vor Übelkeit jetzt wirklich fast umfällt.

"Das darf man keinem erzählen", wispert Susi, "dass eine Harzvier-Empfängerin eine solche Bleibe bekommen hat. Und mit 350 Euro ist sie billig. Obwohl ... meine Miete zahlt eh das Amt. Nur, zu einem hab ich mich jetzt verpflichtet: sie wollen nämlich, dass ich Tina zu mir nehme."
Tina ist Susis dreijährige Tochter, die bei der Oma lebt.
"Meine Mutter soll nämlich ins Krankenhaus ... die Herzklappe ... und da müssten sie das Kind in ein Heim stecken. Das würde den Staat eine Menge Geld kosten. Aber das mit Tina ist kein Problem, ich nehm sie ja gern", sagt Susi. "Platz ist genug und im Sommer haben wir auch die Dachterrasse ... Ach, liebe Lena, du musst mir ein bisschen beim Einrichten helfen, du hast einen so exquisiten Geschmack!", schleimt die kleine Schlange ... "Irgendwie brauch ich da noch eine Kochzeile ..."

Lena fühlt sich gleich wieder gefordert: "Die Kochzeile könnte man in der Nische dort hinter einer Schiebetür verstecken. Gleich daneben kannst du eine Essecke einrichten. Zum Schlafen und für die Sachen ist in den Kammern genug Platz. So brauchst du den Raum mit der Glaskuppel nicht fürs ‚normale‘ Wohnen zu benutzen und kannst etwas Herrliches daraus machen. Zum Beispiel einen Wintergarten, eine weitläufige Sitzhalle, ein exotisches, grünes Paradies!"

Beim Gedanken an all diese Möglichkeiten vergisst Lena für einen Augenblick ihre Trauer, ihre Wut. "Du solltest dir richtig große, hohe Pflanzen heranzüchten. Ich kann dir jede Menge Ableger geben. Bei dem Oberlicht hier wächst wahrscheinlich alles wie im Dschungel."

Warum biedert sie sich Susi an? Glaubt sie durch die Wiederbelebung dieser Freundschaft - die eigentlich nie wirklich eine war - zumindest als Besucherin ab und zu die Schönheit und den Komfort der Wohnung genießen zu dürfen!

"Viele Pflanzen ... meinst Du wirklich, Lena? Ach, das darf ich gar nicht publik machen, was für eine Wohnung ich hier habe. Bitte sag du es auch niemandem! Sonst werden die Spießer nur neidisch! Ach Lena, nach dem Umzug mach ich eine Party für meine liebsten Leute. Du kommst doch auch, oder? Du musst mich eh bei der Einrichtung beraten und so... juhu und dann geh ich Möbel kaufen!"
"An den Seiten des Kuppelraumes würde ich nur ein paar edle, w e i ß e Sitzelemente aufstellen", sprudelt Lena heraus, "und in die Ecke Fernseher und Musikanlage. Sonst nichts. Damit die Fläche weit und großzügig bleibt."
"Ja aber da wäre so schön viel Platz für viel Zeug!"

"Stopf diesen e i n e n Raum bitte nicht mit irgendwelchem Kleinkram und Nippes voll!".
- Lena kennt Susis Vorliebe für Plastikpuppen, Dekoschrott und übergroße, gammelige Stofftiere, mit denen sie jeden freien Platz ihres Zimmers in der WG verziert hatte -

"Wo soll ich aber all die Blumentöpfe draufstellen", hakt Susi nach, "wenn ich doch in dem Raum keine Möbel... ?"
"Du stellst die Pflanzen direkt auf den Boden in großen, einfachen, schönen Gefäßen. Am besten auf Hydrokultur. Dann wachsen sie schnell hoch bis zur Kuppel."
"Jawohl, Mama!" ruft Susi und grinst übers ganze Gesicht.

"Schau mal", sagt Lena eifrig, "es sind Mulden in den Boden der Terrasse eingelassen, da kann man Erde einfüllen und sogar kleine Bäume pflanzen. Die haben wirklich an alles gedacht, damals vor hundert Jahren. Da draußen kann man schlafen, wohnen, Partys feiern ... und so hoch liegt die Terrasse, dass es keine Einsicht durch irgendwelche Nachbarn gibt. "
Ach, Lenas Gedanken machen wilde Sprünge:
"Du und die Tina, ihr könnt praktisch den gesamten Sommer über hier draußen leben ... ein zusätzliches Wohnzimmer ... "

Mit der hellen Begeisterung bricht aber schon wieder Neid wie eine gelbe Woge über sie herein.
Das Schlafen im Sommer unter freiem Himmel ist ein ständiger, unerfüllbarer Traum von Lena, die in ihrer neuen Behausung nicht einmal einen Balkon hat.
‚Vielleicht könnte ja auch ich, von Susi eingeladen, ab und zu die Nacht hier draußen verbringen, direkt unter den Sternen!‘ Hoffnung will in ihr aufkeimen.
"Da hast du eine fantastische Wohnung", sagt sie und kann die Trauer in ihrer Stimme, ja die Tränen kaum mehr verbergen.

"Ich find sie ja auch lustig", plappert Susi, "obwohl ... immer die schmutzige Wäsche in den Keller schleppen und dann wieder die ganzen Treppen hoch, das ist nicht gerade das Gelbe vom Ei ..."

"Ist doch keineswegs der Rede wert, verglichen mit all dem Schönen."
"Okay", grinst Susi, "du hast Recht. Also, du kannst kommen und hier auf der Terrasse übernachten, so oft du willst. Wir können uns auch zusammen auf meinem Dachgarten sonnen, wenn du magst! Warte mal, bis ich erst eingerichtet bin. Wenn erst die große Party steigt." Susi lächelt zufrieden.

Aber Lena kriegt die Wohnung nicht mehr zu sehen. Schlimmer ... Susi kreuzt nie mehr bei ihr im Laden auf. Wo sie vorher doch fast jeden Tag da war! Die Pflanzenableger hat sie sich noch geholt und blieb von da an verschollen. Lena ist traurig, gekränkt, ist wütend darüber, dass die andere sie ignoriert.
"Vielleicht hat Susi ja meinen Neid, meine Missgunst gespürt", überlegt sie. Und Lenas Neid und Missgunst werden immer stärker, wenn sie denkt, wie herrlich glücklich sie selbst mit dieser Wohnung geworden wäre.

Inzwischen vergehen sechs Wochen. Susi hat Lena noch immer zu k e i n e r Einweihungsparty geladen. Was ist nur los mit ihr?

Da muss Lena sich einfach Gewissheit verschaffen. Sie schleicht sich eines Abends zur Jugendstil-Villa. Außen, neben dem Eingang zeigt das Namensschildchen der Dachetage keine Aufschrift. Vielleicht wohnt Susi gar nicht hier, hat die Wohnung am Ende doch nicht bekommen ...Wishful thinking! Lenas Wangen röten sich. Schadenfreude!
Die Haustür ist nur angelehnt. Lena tritt in den Flur. Nun hat sie aber traurige Gewissheit: Susi ist mitnichten hinausgeworfen worden. Ihr Name prangt stolz an einem der Briefkästen. Das heißt: es gibt sie nach wie vor, sie ist nicht von der Bildfläche verschwunden, will nur von Lena nichts mehr wissen.

Lena hatte sich auf die Nächte unter dem Sternenhimmel wirklich gefreut, ja aus irgend einem rätselhaften Grund hätte ihr sogar der Aufenthalt in Susis Wohnung unsagbar viel bedeutet. Jetzt ist sie elend. Bitterböse Gefühle brodeln wieder in ihr. Jedoch hinaufzugehen und mit Susi zu sprechen, das wäre der Gipfel der Peinlichkeit. Lena fühlt sich krank. Sie wankt nach Hause.

Nun ist es klar: Susi geht ihr absichtlich aus dem Weg. Einmal kommen sie sich ungewollt auf zwei verschiedenen Straßenseiten entgegen. Susi wendet den Kopf schnell geradeaus, vermeidet den Blick hinüber zu Lena, der schon das verkrampfte Begrüßungslächeln automatisch aufs Gesicht gesprungen ist.

Monate später treffen sie sich zufällig im Wartezimmer beim Zahnarzt. Da können sie nicht umhin, ein paar Worte miteinander zu wechseln. Gleich fragt Lena nach der Wohnung. Sie kann nicht an sich halten. Die Neugier ist zu stark. Aber Susi verliert kein einziges gutes Wort über ihre herrliche Bleibe. Rühmt weder die Lichtverhältnisse, noch die Dachterrasse, noch hat sie sonst irgend etwas Positives zu melden.

"Stell dir vor, im Erdgeschoss, in dem Haus nebenan ist ... eine Kleiderreinigung", jammert sie stattdessen. "Da steigen Dünste hoch ... ich kann dir sagen. Furchtbar. An manchen Tagen dringt ein solch widerlicher Gestank herauf ... also, das hält überhaupt niemand aus!"

Lena meint, - nein, sie ist sicher - dass das mit den Gerüchen eher unwahrscheinlich ist, denn Susis Wohnung liegt in luftiger Höhe, die chemische Reinigung aber im Erdgeschoss des etwas entfernt stehenden N a c h b a r hauses.

"Ich habe gegen die Besitzer Klage erhoben", sagt Susi, "und werde nicht eher Ruhe geben, bis sie hundertprozentige Filter eingebaut oder ihre Giftküche für immer geschlossen haben. Ich hab schließlich einen guten Anwalt."

Von Tina redet Susi dann etwas später und ganz nebenbei. Ihre Tochter wohne nicht mehr bei ihr, sie sei krank geworden, kein Wunder, wo die Räume so belastet seien durch die Abgase von diesem impertinenten, italienischen Reinigungsfritzen.. Jetzt sei Tina wieder bei der Oma, die sich ja Gott sei Dank nach der Herzoperation gut berappelt hätte ... Bei der Oma sei die Kleine doch am besten aufgehoben.
"Das bedeutet aber nicht, dass ich nun keine ‚alleinerziehende Mutter‘ mehr bin, wie diese missgünstige Zicke, die Frau Müller – du kennst sie auch, sie kommt in deinen Laden - dem Amt gemeldet hat. Die ist ja nur auf die Kohle neidisch, die ich kriege", sagt Susi zornig, "und das Kind ist ja nun einmal meines, für das allein ich einzustehen habe. Und wer weiß denn, wie lang die Tina noch bei meiner Mutter bleibt ... ich kann sie doch nicht ständig hin- und her ummelden! "
Lena schüttelt irritiert den Kopf. Sie schweigt.

Susi, die heute wieder einmal ihr Herz auf der Zunge trägt, fängt jetzt prompt von dem Mann zu reden an, von dem die bösen Nachbarn behaupten, dass er bei ihr wohne, weil sein BMW Tag und Nacht vor ihrem Haus stehe. Und jetzt jammert Susi über die Ungerechtigkeit des Lebens und über die Gemeinheit der Leute, denn sie hatten offensichtlich versucht, zu erreichen, dass ihr die Stütze gekürzt würde.
"Also, egal, was die Neidsäcke labern, Frank ist zwar oft bei mir, aber er ist nur ein guter Bekannter", sagt Susi, "abends fährt er immer heim und schläft bei seiner Mutter. Er hat nach seiner Scheidung nur seine Klamotten, ein paar Bücher und den Computer bei mir untergebracht und ist noch nicht dazu gekommen, das Zeug wieder zurückzuholen. Aber gerade in der Zwischenzeit ist eine Tussi vom Amt dagewesen. Sie hat blöderweise auch seinen bescheuerten Rasierapparat und benutzte Wäsche von ihm in meinem Bad gefunden. Da hat sie gemeckert, dass wir wahrscheinlich in einem eheähnlichen Verhältnis oder so ... Dabei ist das eine rein platonische Sache mit dem Frank. Ein Paar sind wir schon gar nicht. Der Alten habe ich aber mal richtig die Meinung gegeigt. Ich bin schließlich krank und behindert und brauch das Geld. Die hat sich auch nie wieder gemeldet." Susi schiebt energisch das Kinn vor.

Ihr Monolog bricht prompt ab, als die Zahnarzthelferin sie in den Behandlungsraum ruft.

Danach vergehen Monate. Lena hört und sieht von Susi nichts mehr.

Dann, in jenem langen, höllisch heißen Sommer, geschieht es, dass die beiden sich wieder an einem späten Samstag Nachmittag in der Fußgängerzone zufällig über den Weg laufen. Susi, wie immer schön gestylt und sportlich elegant, Sonnenbrille hoch in den Haaransatz geschoben, schicke, neonbunte Beuteltasche am Arm. Sie erklärt lässig, dass sie den ganzen Tag am Schwimmbad gewesen sei ..."Schade Lena, ich hab wenig Zeit, bin drüben im Ratskeller mit Freunden zum Essen verabredet. Aber laufen wir doch ein Stück miteinander!"

"Was macht deine Wohnung?" fragt Lena müde.
"Ach die Wohnung! Na ja, so toll wie du denkst, ist das alles auch nicht!"
"Auf alle Fälle bist du ziemlich gut dran! Eine Terrasse ist nicht das Schlechteste bei dieser Schwüle. Ich kann nachts vor Hitze kaum schlafen und wäre schon zufrieden, wenn ich nur einen kleinen Balkon hätte!", seufzt Lena bitter.
Susi schüttelt sich: "Wenn du nur wüsstest, wie unangenehm das dort manchmal wird ... All das Nachtgetier, die urggh ... Insekten ... Das macht echt keinen Spaß. Und mit diesen Schrott-Waschmaschinen im Keller kriegt man seine Sachen überhaupt nicht sauber, außerdem schlucken sie viel zu viele Münzen. Meinst du, die Stadt würde das endlich mal in Ordnung bringen? Da muss ich wieder Druck machen. Ich lass mir doch nicht alles gefallen!"

"Man soll eben um sein Recht kämpfen", sagt Lena sarkastisch.

Und sie denkt - doch das behält sie für sich – ‚Fünf Tage die Woche sitze i c h von morgens sieben bis abends sechs im brütend heißen Laden. Samstags von sieben bis zwei. Ich verkaufe Zeitungen, zu deren Lektüre ich kaum komme, weil bei mir immer Betrieb ist. Aber Zeitungen bringen nicht wirklich Geld. Ich gehe geduldig auf jeden Rentner und Müllarbeiter ein, der hier seinen Lottoschein ausfüllt und gern ein kleines Schwätzchen hält. Ich höre mir das Getratsche der Hausfrauen aus der Nachbarschaft an, die bei mir jeden Morgen die ‚Bild‘ kaufen und einmal in der Woche eine Fernsehillustrierte, arme Einsame, die danach stundenlang herumhocken und mir ihre häuslichen Probleme drastisch schildern. Und das Tag für Tag. Zum Ausgehen habe ich nach einer solchen Woche weder Lust noch Kraft. Um eine Reise zu machen, müsste ich den Laden schließen. Doch das geht aus finanziellen Gründen nicht. Wieder hat in der Nähe ein neuer Kiosk aufgemacht. Immer mehr Konkurrenz. Und wozu die ganze Schufterei? Ein Monat ist schnell um und jeden neuen Ersten kommen Wohnungs- und Ladenmiete, Steuer, Renten-, Krankenversicherung, Telefon- und Stromrechnung auf mich zu. Da bleibt für Luxus nichts übrig. So vergeht Jahr für Jahr ..."

Susi, die Sonnenbraune, blickt aus dunkel-umschminkten Augen fröhlich in den Tag. "Schau mal, Lena", sagt sie und lässt die Ältere einen kurzen Blick in eine Tragetüte werfen, die sie aus ihrer schicken Tasche zieht.
"Guck mal, hab ich mir eben gekauft. Escada!"
Etwas Pinkfarbenes, Wolkig-Duftiges, Seidenglänzendes sticht ins Auge. Abendkleid? Hausanzug? Lena will es gar nicht so genau wissen.
"Steht mir gut, das Teil", sagt Susi, "ach, weißt du was ... setzen wir uns noch schnell hierher zum Italiener und trinken einen Espresso! Der Typ, mit dem ich mein Date hab, kann ruhig ein paar Minuten warten! Ich muss dir noch etwas Wichtiges erzählen. Ich hab da ein riesengroßes Problem am Hals. Die Leute vom Amt wollen nämlich wissen, woher das Geld stammt, mit dem ich meinen letzten Urlaub finanziert habe! Die sind derart penetrant!"
"Urlaub?"
Ja, ich bin doch vorigen Monat in Californien gewesen. Und jetzt hat mich irgend jemand verpfiffen. Die alte Hexe vom Amt hat mich eh schon die ganze Zeit auf dem Kieker, die hat also das bescheuerte Reisebüro ausfindig gemacht. Nun heißt es, ich hätt noch eine andere Geldquelle oder so was ... weißt du. Also, ich hab den Tussis gesagt, eine Freundin hätte mir die Kohle geborgt und ich müsste sie natürlich wieder ratenweise zurückzahlen.
"Und diese Freundin gibt’s nicht!"
Susi grinst schalkhaft. "Ich kenn keine, die behaupten könnte, sie hätte mir 2000 Euro ... Die müsste dann wieder beweisen, woher sie ... und so weiter. Derart beschissen sind die inzwischen drauf bei den Ämtern. Total uncool. Immer nur am Überlegen, wie sie Leuten wie mir das Geld kürzen können ... wo sie sonst die Milliarden raushauen wie nix! Da hab ich gedacht, wo ich dich gerade treffe ... vielleicht würdest du für mich ...? Aussagen, meine ich ... Es kostet dich ja keinen Pfennig. Sag einfach du hättest mir das Geld g e l i e h e n. Lena. Ich wär dir ewig dank ..."

Da verspürt Lena einen Augenblick lang den wilden Drang, dem Weibsstück so richtig mitten ins Gesicht ... oder an die Gurgel ...
Aber Lena ist noch nie im Leben wirklich aus sich herausgegangen ... sie tut es auch jetzt nicht. Und auf einmal ist in ihr nur Leere. Sie schüttelt den Kopf, sagt kein Wort, trinkt ihren Kaffee mit einem bitteren Schluck zu Ende und hastet wortlos davon. Eine graue Maus, eine hinkende graue Maus!


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Copyright Irmgard Schöndorf Welch März 2003
 
Ach, der Schreibstil stört mich: Er hat mich so gepackt, daß ich einfach voller Spannung bis zum Ende weiterlesen mußte, denn er ist gepflegt und fehlerlos (evtl. Flüchtigkeitsfehler hab' ich gar nicht mitbekommen)
Ich finde den Text super geschrieben, kurzweilig, interessant, in den Formulierungen nicht übertrieben.
Steckt sehr viel Arbeit drin! Es war mir ein Genuß, Danke!

Zum Inhalt: Da beiß' ich mir eher die Zunge ab, als offiziell meine Ansichten darzulegen.
 

Inu

Mitglied
Hallo lieber Waldemar

Ach, der Schreibstil stört mich: Er hat mich so gepackt, daß ich einfach voller Spannung bis zum Ende weiterlesen mußte, denn er ist gepflegt und fehlerlos (evtl. Flüchtigkeitsfehler hab' ich gar nicht mitbekommen)
Ich finde den Text super geschrieben, kurzweilig, interessant, in den Formulierungen nicht übertrieben.
Steckt sehr viel Arbeit drin! Es war mir ein Genuß, Danke!

Zum Inhalt: Da beiß' ich mir eher die Zunge ab, als offiziell meine Ansichten darzulegen.
[/QOTE]

Irgendwei werde ich aus Deiner Kritik nicht klug. Der Schreibstil missfällt Dir, andererseits hat er Dich gepackt und es gefällt Dir??? :)

Zum Inhalt: Das ist deutsche Wirklichkeit ( war sie zumindest vor wenigen Jahren noch ). Allerdings habe ich beide Frauenfiguren l e i c h t :) überzogen.
Viel Arbeit????

Ganz liebe Grüße
Inu
 
Huch, ich hab' vergessen das Wort stört in "..." zu setzen. Entschuldige bitte! Der Schreibstil gefällt mir natürlich, eben auch deshalb las ich den Text mit großem Genuß bis zum Ende.

PS. zu Soz.Hilfe Empf.: Die darben doch ganz gräßlich in unserem Land, oder, falls Du meinst, denen ginge es besser als den Arbeitenden, sind sie vielleicht tatsächlich schlauer? Das Spiel heißt doch: "the winner takes it all!"

LG's, waldemar
 

Inu

Mitglied
Hallo Waldemar

Sozialhilfeeempfängerinnen. Sicher sind sie alle irgendwie bedürftig und gebeutelt. Sicher erleben sie schlechte Behandlung durch die Ämter. Wenn sie was im Kopf haben, meistern sie das durch Schlauheit und Einfallsreichtum oder sie werden ganz egoistisch und kämpfen mit harten Bandagen.

Wie Du siehtst, habe ich beide Frauen, die Arbeitende und die 'Schmarotzerin' gleichermaßen unsympathisch ( oder symppathisch?) geschildert, die eine bauernschlau, vital, ein bisschen verlogen, die andere langweilig, enttäuscht und mit einem unerfüllbaren Traum Solche Leute gibt es wirklich in unserer Gesellschaft. Denk ich zumindest.

Gruß
Inu
 
Natürlich gibt es solche Leute, ich sag' ja auch nichts dagegen. Und die Darstellung beider ist Dir durchaus gelungen...

grüßli, w.
 
P

Parsifal

Gast
Liebe Inu,

"schön" ist Deine Geschichte nicht, aber gekonnt geschrieben und sehr realistisch. Ich fühlte mich ein bißchen an Dorothy Parkers "New Yorker Geschichten" erinnert. Kein Wunder, daß "die beste Freundin" eine stehende Figur in Witzen ist. Nur Weiber können so gemein sein - oder ganz alte Knacker.

LG
Parsifal
 

Zefira

Mitglied
Hallo Inu,
ich mag die Geschichte sehr. Toll die lakonische Charakterisierung der beiden am Anfang, wo Susi zunächst noch relativ harmlos wirkt, und diese langsame Steigerung bis hin zur wirklichen ... na ja.. Dreckigkeit. Der Dialog in der Wohnung könnte etwas gestrafft werden, aber insgesamt ist das Ganze gut ausgewogen.
Generell solltest du vielleicht ein bißchen sparsamer mit Hervorhebungen sein und diese vor allem nicht durch Sperrsatz kenntlich machen – dann wird u.U. mitten im Wort umgebrochen -, sondern durch Kursivsatz mit vb-Code.
Den Titel würde ich noch mal überdenken. Die Hauptperson ist ja Lena und nicht Susi, und das Wort „Neiderin“ beinhaltet schon eine Wertung, die der Leser selbst ziehen sollte. Lieber einfach „Susi und Lena“ oder „Freundinnen“ o.ä....


Susi und die Neiderin
(ich habe den Anfang gelöscht, bis zu der Stelle, wo meine erste Anmerkung kommt.)

...
Lena ist überrascht. Der unauffällige Kunde, mit dem sie nur manchmal ein paar freundliche Worte gewechselt hat, entpuppt sich jetzt als Baudezernent der Stadt. (Hier sollte kommen „So steht es auf der Karte.“)
„Die Wohnung scheint mir für s i e wie geschaffen!“, sagt der Mann. (Das sollte er in Anbetracht der Treppen aber zu einer Gehbehinderten nicht sagen. Oder weiß er das nicht? Klingt wie ein schlechtr Scherz.)
Soll das ein Kompliment sein? Doch eher das Gegenteil! Eine Dachgeschoss-Angelegenheit im vierten Stock mit schrägen Wänden und schwachen elektrischen Leitungen, die kein Gerät aushalten... und er meint, dafür sei s i e die ideale Mieterin.
"Danke sehr, ich werde es mir überlegen“, sagt Lena etwas kühl.
„Warten sie nicht zu lange, ich muss nämlich nächste Woche für eine Weile verreisen.“

Gerade, als er zur offenstehenden Tür hinaus geht, kommt Susi in den Laden gewirbelt.
"Heh, hab ich da was von einer Wohnung gehört?“ ruft sie. „Das interessiert mich aber! Ich will doch lang schon raus aus dieser komischen WG ... bin die ganze Zeit auf der Suche. Wo ist denn dieses Haus? Ich könnte mir die Sache ja unverbindlich anschauen und dir dann morgen berichten, Lena. Du hast natürlich den Vortritt und nur, wenn Du nicht interessiert ...“
"Okay", sagt Lena, „geh ruhig hin.“ Sie gibt Susi die Visitenkarte des Dezernenten.

Am nächsten Tag fragt Lena: "Bist du in der Wohnung gewesen?"
"Nee", antwortet Susi, "aber vielleicht morgen!"
Zwei Tage später, zuckt Susi mit den Schultern: "Nein, verdammt, ich hab's noch immer nicht geschafft."
Am nächsten Tag kommt sie dann mit heruntergezogenen Mundwinkeln in den Laden:
"Das ist vielleicht eine Bruchbude... ein Dachjuchhe im fünften Stock (eben war es aber der vierte Stock!) wahnsinnige Treppen hoch, natürlich kein Fahrstuhl... und alles...mini... mini, drei, vier winzige Kabäuschen... also wirklich... und noch die reinste Baustelle! Sieht nicht aus, als ob das jemals was würde..."

Lena, die nach Überdenken und Überschlafen und nun auch nach Susis Worten nicht gerade wild auf dieses Apartment ist, kümmert sich nicht weiter, vergisst die Sache. Was besonders leicht ist, da der Kunde auch nicht mehr in den Laden kommt.

Da bietet ihr jemand [strike]noch[/strike] eine andere Wohnung an. Im ersten Stock eines Mietshauses. Eine Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Angelegenheit, weder groß noch klein, weder schön noch hässlich, Standard eben. Aber sofort bezugsfähig. Außerdem ist sie nur einen Steinwurf vom Laden entfernt. Lena fackelt nicht lange und zieht ein.

Von Susi hört und sieht sie eine Weile nichts. Eines Samstag Morgens taucht sie wieder im Laden auf.
"Halt dich fest, meine Liebe", jubelt Susi. "Erinnerst du dich an diese Dachgeschoss-Sache da....? Also, ich k r i e g sie. Hab den Mietvertrag schon in der Tasche. Juhu....Es ist unglaublich. Geh nachher mal mit! Das m u s s t du sehen. Was die daraus gemacht haben [blue]- man[/blue] sollte es kaum für möglich halten!"

Lena geht nach Ladenschluss mit. Nur drei Minuten Fußmarsch... und sie sind da!
Das Haus steht auf einer Anhöhe am Rand des Heine-Parks. Es ist eine schöne, einst hochherrschaftliche Villa [blue]im Jugendstil[/blue]. Die Dachwohnung, um die es geht, liegt im vierten Stock. Aber die Treppen sind breit und bequem. Sie würden sogar für siebzigjährige Rentner noch leicht zu bewältigen sein.
(Hierzu mal eine Anmerkung: So schön der lakonische Satz „Lena hinkt“ in der Einleitung auch ist.. vielleicht solltest Du Dir eine andere Behinderung ausdenken... Vier Treppen bleiben vier Treppen, egal wie breit und bequem sie sind. Ich kann mir nicht denken, daß die einer gehbehinerten Person nichts ausmachen.)
Und die Zimmer? Es sind niedrige, mit weißer Rauhfaser tapezierte Kämmerchen. Mit schrägen Wänden, wie Susi erwähnt hatte. Allerdings mit geräumigen Aussparungen, die weit unters Dachgebälk reichen, wo man durch Einbau von Regalen und Kleiderstangen [blue]eine Menge Stauraum[/blue] schaffen könnte. Eine Schreib- und Arbeitsecke und ein paar Schlafstellen würden da auch noch hineinpassen. Aber zugegeben, diese Räumlichkeiten sind eher armselig.

"Komm", sagt Susi, "jetzt zeig ich dir was wirklich Tolles!"
Das Tolle ist das Badezimmer. Lena kann nur laut schreien. (ist mir ein bißchen zu viel... ich habe noch nie jemanden vor Staunen „laut schreien“ gehört; das verbinde ich mit Schmerz. Vielleicht wenigstens nur „aufschreien“?) Vor Staunen. Vor wild aufkeimendem Neid, (der Susi hoffentlich verborgen bleibt, [strike] hofft sie[/strike]). (doppeltgemoppelt)
Das Bad ist mindestens dreimal so groß wie ihr eigenes. Weit und sehr hell. In die Decke sind riesige Oberlichter eingelassen. Auf dem Boden smaragdgrüne Fliesen. An den Wänden grünblaue Kacheln mit Seerosen- und Lilien-Motiven. Zwei goldene, ornamentengeschmückte Spiegel, zwei sanft geschwungene Waschbecken mit aufwändigen, kostbar verzierten Wasserhähnen. In einer Nische sogar ein Bidet. Wie schick!. Alles in beschwingtem Jugendstil-Dekor.
Nur die Badewanne ist modern. Luxus pur. Eine übergroße Eckwanne, etwas erhöht in den Boden eingelassen (Wortwiederholung, besser „eingebaut“), daran anschließend ein Podest, auf dessen smaragdgrün gemasertem Marmor man es sich bequem machen kann wie auf einer kleinen Liegewiese. Und strahlend fällt das Tageslicht von oben auf all diese Pracht.

„Das ist ja fantastisch!“ Lena ringt nach Luft.
„So... was du bisher gesehen hast, war der normale Wohn-und Nutzteil“, grinst Susi, „aber jetzt gehen wir einmal dort hinüber!“

Das ‚Zimmer‘, das sie jetzt betreten, (Susi hatte es Lena damals im Laden komplett unterschlagen).ist eher eine kleine Halle, etwa f ü n f z i g Quadratmeter groß und hell, hell. Scheint von einem exzentrischen Bauherrn einst aus purer Lust und Tollerei auf das Dach gesetzt worden zu sein. Der Raum ist von einer wuchtigen Glaskuppel in purem Jugendstil überspannt, durch die alles Tageslicht der Welt [blue]hereinströmt[/blue] . (unten hast Du noch mal „sonnendurchflutet)
Lena regt sich so auf, dass sie fast umfällt. Fast umfällt vor Wut. Vor Neid. 'Warum habe ich Idiotin mir die Wohnung nicht angesehen, damals!', denkt sie in ohnmächtigem Zorn.

„Hast du ein Glück!“ ruft sie [strike]aber[/strike] ein ums andere Mal und kann ihr Aufgewühltsein kaum mehr verbergen. Ihre Stimme überschlägt sich, während sie in diesem wundervollen kleinen Saal herumblickt, der jetzt im März so sonnendurchflutet ist, als sei draußen satter Hochsommer. ..

"Da muss das Sozialamt mir aber ab und zu einen Fensterputzer genehmigen“, wirft Susi munter ein, „ich kann ja nicht hochsteigen und d i e s e Flächen reinigen, nicht ich mit meiner B a n d s c h e i b e !"

Der kuppelüberdachte Raum besteht auf einer Seite aus lauter gläsernen Schiebetüren, die bis zum Fußboden reichen. Durch eine dieser Türen treten sie nun ins Freie und stehen auf einer D a c h t e r r a s s e, [strike] einer nach drei Seiten offenen [red]Terrasse[/red][/strike], von der man die herrlichste Aussicht nach drei Himmelsrichtungen genießt. (das einer ergibt sich aus dem anderen) Auch davon hatte das schlaue Geschöpf damals im Laden kein Wort erwähnt.

„Hundertzwanzig Quadratmeter ist sie groß“, jubelt Susi, „und nur von m e i n e n Räumen her erreichbar, wird also mir ganz allein gehören. Das habe ich schriftlich. Die anderen Mieter kommen hier nicht herauf, es sei denn, ich würde sie einladen!“

Vor dem brusthohen Sicherheitsgeländer schreitet Lena die drei Seiten der Terrasse ab. Sie zittert. Löst sich nur langsam aus dem Dunst von Wut und feuerrotem Grimm. ‚All das könnte ich jetzt täglich haben, wenn...‘

Diese Terrasse ist einmalig. Der Panorama-Blick. Traurig sieht Lena von oben auf all die bizarren, malerischen Hausdächer mit ihren tausend Winkeln, Erkern, romantischen, efeuumrankten Ecken. Und kleine, begrünte Oasen voller Blumenstöcke leuchten im roten und schwarzen Ziegelmeer. Die steil ragenden, vereinzelten Kirchtürme umfasst Lenas Blick, wandert dann weiter über die Wiesen, den Fluss bis weit hin zu den Wäldern. Eine Aussicht... so unsagbar frei und schön!

Ja, diese Etage ist das reinste Kleinod.
‚Dagegen ist mein Domizil ein Scheißdreck‘, denkt Lena. ‚I c h könnte jetzt hier wohnen. M i r ist das alles angeboten worden... m i r !‘. Ihr ist nur noch nach Heulen zumute.
‚Das ist d i e Wohnung von der ich ein Leben lang geträumt hab‘, schluchzt etwas tief in ihrer Seele. Sie fühlt sich elend. Betrogen. Verraten.

‚Die Räumlichkeiten sind noch jungfräulich und leer. Man könnte sie alle herrlich gestalten. Das wird anders, wenn Susi nächste Woche mit all ihrem Krempel einziehen und sie verseuchen wird‘, denkt Lena bitterbös. (Diesen Gedanken würde ich streichen. Lenas Problem ist nicht, daß Susi die Wohnung verhunzen wird, sondern daß sie selbst die Räume nicht bekommt.)

„Natürlich haben sie das alles hier nicht meinetwegen so herrlich auf die Reihe gebracht“, flötet Susi, „sondern das ganze Haus steht unter Denkmalschutz und sie m u s s t e n es nach alten Plänen stilgetreu renovieren. Unsummen haben sie da hinein gepulvert. Auch die übrigen Wohnungen im Haus sind prachtvoll. Aber die hier toppt alles!“

„Ja, es ist wirklich wunderbar“, sagt Lena und fällt fast um vor Übelkeit

"Das darf man keinem erzählen", wispert Susi, "dass eine Sozialhilfeempfängerin eine solche Bleibe bekommen hat. Und mit 500 DM ist sie billig. Obwohl... meine Miete zahlt eh das Amt. Nur, zu einem hab ich mich jetzt verpflichtet: Weil ich ja den ganzen Tag Zeit habe, sozusagen als Gegenleistung für die herrliche Wohnung, wollen sie, dass ich Tina zu mir nehme.“
(Tina ist Susis vierjährige Tochter, die bei der Oma lebt.)
„Meine Mutter soll nämlich ins Krankenhaus, und da müssten sie das Kind in ein Heim stecken. Das würde den Staat eine Menge Geld kosten. Aber das mit Tina ist kein Problem“, sagt Susi, „Platz ist ja genug und im Sommer haben wir noch die riesige Dachterrasse... Ach, liebe Lena, du musst mir ein bisschen beim Einrichten helfen, du hast einen so exquisiten Geschmack!“ schleimt die kleine Schlange... „Irgendwie muss ich da noch eine Kochzeile...“

Lena fühlt sich gleich wieder gefordert: „Die Kochzeile könnte man in der Nische da hinter einer Faltjalousie verstecken. Dann sieht es immer aufgeräumt aus. Zum Schlafen, Essen und für die Sachen ist in den kleinen Kammern genug Platz. So brauchst du den Raum mit der Glaskuppel nicht fürs ‚normale‘ Wohnen zu benutzen und kannst etwas ganz Herrliches daraus machen. Zum Beispiel einen Wintergarten, eine weitläufige Sitzhalle, ein grünes Paradies!“ (Etwas gekünstelter Absatz, besonders das „normale Wohnen“ gefällt mir nicht. Versetz Dich mal in Lena, wie würdest Du sprechen? „Den Raum daneben kannst Du als Eßzimmer benutzen, die anderen drei Kämmerchen als Schlaf- und Arbeitsräume... und aus dem Raum mit der Glaskuppel kannst Du was ganz Herrliches machen...“)

Beim Gedanken an all diese Möglichkeiten [red]Komma weg[/red] vergisst Lena für einen Augenblick [strike]ihren Frust und[/strike] ihre Wut. „Du solltest dir richtig große, hohe Pflanzen heranzüchten. Ich kann dir jede Menge Ableger geben. Bei dem Licht hier wächst wahrscheinlich alles wie im Dschungel..

„Meinst Du wirklich, Lena?... Ach, das darf ich gar nicht publik machen, was für eine Wohnung ich hier habe. Bitte sag du es auch niemandem!. Sonst werden die Leute doch nur neidisch! Ach Lena, nach dem Umzug mach ich eine Party für meine besten Freunde. Du kommst doch auch, oder? Du musst mich eh bei der Möblierung beraten und so.“
„An den Seiten des Kuppelraumes entlang würde ich nur ein paar edle, w e i ß e Sitzmöbel stellen“, sprudelt Lena heraus, „und in die Ecke Fernseher und Musikanlage. Sonst nichts. Damit diese Fläche weitläufig und großzügig bleibt.
„Ja aber da ist so schön viel Platz für soviel Zeug!“

„Stopf diesen e i n e n Raum bitte nicht mit irgend welchen Kleinmöbeln und Nippes voll!“.
(Lena kennt Susis Vorliebe für Plastikpuppen, Dekoschrott und übergroße, gammelige Stofftiere, mit denen sie jeden freien Platz ihres Zimmers in der WG verziert hatte) .

"Wo soll ich aber all die Blumentöpfe draufstellen", hakt Susi nach, „wenn ich doch in dem Raum keine Möbel haben soll. ?“
„Du stellst die Pflanzen direkt auf den Fußboden in großen, einfachen, schönen Gefäßen, am besten auf Hydrokultur. Die wachsen schnell hoch bis zur Kuppel. Alles, was du sonst noch hast an kleinen Blumentöpfen und mickrigen Stöckchen kannst du in den Kammern unterbringen...“
„Ja, Mama!“ ruft Susi und grinst übers ganze Gesicht.

„Schau mal...“, sagt Lena eifrig, „es sind Mulden in den Boden der Terrasse eingelassen, da kannst du Erde einfüllen und sogar Bäume pflanzen. Die haben ja wirklich an alles gedacht. Und du könntest zum Beispiel auf dem Dach ein Zelt aufstellen, eines von den schönen, weißen, wie man sie bei Sommerfesten hat. In so einem Zelt kann man auch wohnen und Partys feiern... “
Ach, Lenas Gedanken machen wilde Sprünge.
„Du und Tina, ihr könnt praktisch den ganzen Sommer über hier draußen sein, und nachts unter den Sternen schlafen!“

Mit der hellen Begeisterung bricht jedoch schon wieder Neid wie eine gelbe Woge über Lena herein.
Das Schlafen unter freiem Himmel ist ein ständiger, unerfüllbarer Traum von Lena, die in ihrer neuen Behausung nicht einmal einen Balkon hat.

"Ich find die Wohnung ja auch lustig", plappert Susi, „obwohl... immer die schmutzige Wäsche in den Keller schleppen und dann wieder die ganzen Treppen hoch, das ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei...“

„Ist doch nicht der Rede wert, verglichen mit all dem Schönen...“
„Okay“, grinst Susi, „du hast ja recht. Also, du kannst kommen und hier auf der Terrasse übernachten, so oft Du willst. Wir können uns auch zusammen auf meinem Dachgarten sonnen, wenn du magst! Warte mal, wenn ich erst eingerichtet bin. Wenn die große Party steigt.“ Susi lächelt zufrieden.


Doch Lena kriegt die Wohnung nie mehr zu sehen. Schlimmer noch... Susi lässt sich nicht mehr bei ihr im Laden blicken. Wo sie vorher doch jeden Tag da war! Die Pflanzen-Ableger hat sie sich noch geholt und ist dann nie mehr aufgekreuzt. Lena ist traurig, gekränkt, ist wütend darüber, dass die andere sie so ignoriert.
‚Vielleicht hat Susi ja meinen Neid und meine Missgunst gespürt‘, denkt sie. Und Lenas Neid und Missgunst s i n d stark, werden immer stärker, wenn sie denkt, wie herrlich glücklich sie selbst mit dieser Wohnung geworden wäre.

Inzwischen vergehen sechs Wochen. Susi lädt Lena zu k e i n e r Einweihungsparty. Was ist nur los mit ihr?

Da m u s s Lena sich einfach Gewissheit verschaffen. Sie schleicht sich eines Abends zur Jugendstil-Villa. Außen, neben dem Eingang zeigt das Namensschildchen der Dachetage keine Aufschrift. Vielleicht wohnt Susi gar nicht hier, hat die Wohnung am Ende doch nicht bekommen...Wishful thinking. Lenas Wangen röten sich. Schadenfreude keimt in ihr auf.
Die Haustür ist nur angelehnt. Lena tritt in den Flur. Nun hat sie aber traurige Gewissheit: Susi ist mitnichten hinausgeworfen worden. Ihr Name prangt stolz an einem der Briefkästen. Das heißt: es gibt sie nach wie vor, sie ist nicht von der Bildfläche verschwunden, will nur von Lena nichts mehr wissen.
Lena hatte sich auf die Nächte unter dem Sternenhimmel wirklich gefreut, ja aus irgend einem rätselhaften Grund hätte ihr sogar der Aufenthalt in Susis Wohnung unsagbar viel bedeutet. Jetzt ist sie elend. Bitterböse Gefühle brodeln wieder in ihr auf. Aber hinaufzugehen und mit Susi zu sprechen, das wäre der Gipfel der Peinlichkeit. Lena fühlt sich krank und wankt nach Hause. (Finde ich allerdings auch etwas rätselhaft... wenn ich mich mal in Lena hineinversetze, könnte ich mir vorstellen, daß sie keine große Lust hat, Susi in der Wohnung zu sehen und dadurch ihrem Neid immer neue Nahrung zu geben... es sei denn, sie überwindet ihren Neid, wie es bei ihren Ratschlägen einen Augenblick den Anschein hatte.)

Nun ist es klar: Susi geht ihr absichtlich aus dem Weg. Einmal [blue]kommen[/blue] sie sich zufällig auf zwei verschiedenen Straßenseiten entgegen. Susi wendet den Kopf schnell geradeaus, blickt nicht hinüber zu Lena, der schon das verkrampfte Begrüßungslächeln automatisch aufs Gesicht gesprungen ist.

Monate später treffen sie sich zufällig im Wartezimmer beim Zahnarzt. Da kommen sie nicht umhin, ein paar Worte miteinander zu wechseln. Gleich fragt Lena nach der Wohnung. Nein, sie kann nicht an sich halten. Die Neugier ist zu stark. Aber Susi verliert nicht e i n gutes Wort über ihre herrliche Bleibe. Rühmt weder Pflanzenpracht, noch Dachterrasse, noch hat sie sonst irgend etwas Positives zu melden.

Statt dessen jammert sie: „Stell dir vor, im Erdgeschoss, im Haus nebenan ist ... eine Kleiderreinigung. Da steigen Dünste hoch... ich kann dir sagen. Furchtbar. An manchen Tagen kommt ein solcher Chemiegestank ...also, das kann man kaum aushalten!"

Lena meint (nein sie ist sicher) [red]Komma hierhin[/red] dass das mit den Gerüchen nicht sein kann, denn Susis Wohnung ist in luftiger Höhe, die Reinigung aber im Erdgeschoss eines [strike]sogar[/strike] etwas entfernt stehenden Hauses.

„Ich habe gegen die Besitzer Klage eingereicht“, sagt Susi, „und werde nicht eher Ruhe geben, bis sie hundertprozentige Filter eingebaut oder ihre Giftküche für immer geschlossen haben. Ich hab schließlich einen guten Anwalt.“

Von Tina redet Susi dann etwas später, so ganz nebenbei. Also, ihre Tochter wohne nicht mehr bei ihr, sie sei krank geworden, kein Wunder, wo die Räume doch so belastet seien durch die Abgase von dieser bescheuerten italienischen Reini... Jetzt sei Tina wieder bei der Oma, die sich ja Gott sei Dank nach der Operation gut berappelt hätte... Bei der Oma sei die Kleine ja doch am besten aufgehoben.
„Das bedeutet aber mitnichten, dass ich nun keine ‚alleinerziehende Mutter‘ mehr bin, wie übelwollende Menschen es schon dem Sozialamt gemeldet haben“, sagt Susi zornig, „das Kind ist ja nun einmal meines, für das ganz allein ich einzustehen habe.“
Lena schüttelt unbewusst den Kopf. Sie schweigt.

Und Susi, die heute wieder einmal ihr Herz auf der Zunge trägt, fängt jetzt prompt von dem Mann zu reden an, von dem man behaupte, dass sein BMW angeblich Tag und Nacht vor ihrem Haus stünde und mit dem böse Nachbarn sie in Verbindung bringen wollten.
„Also, egal, was die Leute reden, Kurt ist zwar oft bei mir, aber er ist nur ein guter Bekannter“, sagt Susi, „ abends fährt er immer heim und schläft bei seiner Mutter. Er hat nur seine Klamotten, ein paar Bücher und den Computer nach seiner Scheidung bei mir abgeladen und ist noch nicht dazugekommen, das Zeug wieder zurückzuholen. Aber gerade in der Zwischenzeit ist eine Tussi vom Sozialamt dagewesen. Sie hat blöderweise auch seinen bescheuerten Rasierapparat und benutzte Wäsche von ihm in meinem Bad gefunden. Da hat sie gemeckert, dass wir wahrscheinlich in einem eheähnlichen Verhältnis... und so...Und, stell dir vor, sie hat mir sogar eine Einbuße meiner Sozialhilfe angedro... Dabei ist das eine rein platonische Sache mit dem Kurt. Ein Paar sind wir schon garnicht. Der Alten habe ich aber mal richtig die Meinung gegeigt. Die hat sich auch nicht wieder gemeldet“, grinst Susi.

Das peinliche Gespräch bricht ab, als die Sprechstundenhilfe Lena in einen Behandlungsraum ruft.

Danach vergehen Monate, in denen Lena von Susi nichts hört und nichts sieht.

Es ist in jenem langen, höllisch heißen Sommer, als die beiden sich an einem späten Samstag Nachmittag in der Fußgängerzone zufällig über den Weg laufen. Susi, wie immer schön gestylt, Sonnenbrille lässig über die Stirn geschoben, schicke, neonbunte Beuteltasche am Arm, sagt: „ Ich komme gerade vom Freibad, hab wenig Zeit.. schade... ich bin drüben im Ratskeller mit Freunden zum Essen verabredet. Aber laufen wir doch ein Stück miteinander!“.

„[blue]Was macht Deine Wohnung? Die Pflanzen, die Dachterrasse?“[/blue], wie ein Wasserfall sprudelt es aus Lena.
„Na ja, so toll wie du denkst, ist das alles nicht!“
"O, wenn du wüsstest, wie ich dich um die Wohnung beneide.“ Schon wieder rutschen Lena Sentimentalitäten heraus: „Ich kann nachts vor Hitze kaum schlafen und wär schon zufrieden, wenn ich nur einen kleinen Balkon hätte!“, seufzt sie. (Also... ich versteh unter sentimental was anderes!)
"Sei froh, dass du keinen hast." Susi schüttelt sich, "wenn du nur wüsstest wie unangenehm das auf unserer Terrasse manchmal wird... All das Nachtgetier, die urggh....Insekten... Das macht echt keinen Spaß. (Bißchen unlogisch, dann würde sie sagen „ich hab nichts von dem Balkon, weil ch nicht rausgehen kann“, aber nicht so tun, als ob der Balkon sie stört!)--- Und mit diesen Waschmaschinen im Keller kriegt man die Sachen überhaupt nicht sauber, außerdem schlucken sie viel zu viele Münzen. Meinst du, die von der Stadt würden das endlich mal in Ordnung bringen?.. Da muss ich wieder einmal Druck machen. Ich lass mir doch nicht alles gefallen!“

„Man soll eben um sein Recht kämpfen“, sagt Lena matt.

Und sie denkt (aber das behält sie für sich): Fünf Tage die Woche sitze ich von morgens sieben bis abends sechs im brütend heißen Laden. Und samstags von sieben bis zwei. Ich stempele Lottoscheine, verkaufe Zeitungen, zu deren Lektüre ich kaum komme, weil bei mir immer Betrieb ist. Aber Zeitungen bringen nicht wirklich Geld. Ich höre mir geduldig das Getratsche der Hausfrauen aus der Nachbarschaft an, die bei mir jeden Tag die ‚Bild‘ kaufen und einmal in der Woche eine Fernsehillustrierte, die danach eine Stunde lang herumhocken und an mich hinquasseln, quasseln, bis ich schwarz werde. Zum Ausgehen habe ich nach einer solchen Woche weder Lust noch Kraft. Um eine Reise zu machen, müsste ich den Laden schließen. Doch das geht aus finanziellen Gründen nicht. Und schon wieder hat in unmittelbarer Nähe ein neuer Kiosk aufgemacht. Immer mehr Konkurrenz. Und wozu die ganze Schufterei? Ein Monat ist schnell um und jeden neuen Ersten kommen Wohnungs- und Ladenmiete, Steuer, Renten-, Krankenversicherung, Telefon- und Stromrechnung auf mich zu. Da bleibt für Luxus nichts mehr übrig. Und so vergeht Jahr für Jahr...

Susi blickt aus dunkel-umrahmten, hellblauen Augen blinzelnd in die Sonne. „Schau mal, Lena“, sagt sie und lässt die Ältere einen kurzen Blick in eine Tragetüte werfen, die sie aus ihrer schicken Tasche zieht.
„Guck mal, hab ich mir eben gekauft. Calvin Klein ist das!“
Etwas Schwarz-Rotes, Wolkig-Seidenartiges, Mattglänzendes sticht Lena ins Auge. Kleid? Longshirt?
„Steht mir gut, das Teil“, sagt Susi, „ach, komm, Lena, gehen wir noch schnell rein zu Tschibo und trinken einen Kaffee! Der Typ, mit dem ich mein Date hab, kann ruhig ein paar Minuten warten. Ich muss dir nämlich etwas ganz Wichtiges erzählen. Ich hab da ein riesengroßes Problem am Hals. Die Leute vom Amt wollen nämlich wissen, woher das Geld stammt, mit dem ich meinen letzten Urlaub finanziert habe!“
„Urlaub?“
Ja, ich bin doch vorigen Monat auf den Seychellen gewesen. Und jetzt hat mich irgend jemand verpfiffen. Und die alte Hexe vom Sozialamt, sie hat mich sowieso auf dem [red]Kieker[/red], die hat also das bescheuerte Reisebüro ausfindig gemacht. Nun heißt es, ich hätt noch eine andere Geldquelle oder so was, weißt du. Also, ich hab den Tussis gesagt, eine Freundin hätte mir die Kohle geborgt und ich würde sie natürlich wieder ratenweise zurückzahlen.
„Und diese Freundin gibt’s nicht!“
Susi grinst schalkhaft. „Ich kenn keine, die behaupten könnte, sie hätte mir 4000 Mark... Die müsste dann wieder beweisen, woher sie... und so weiter. So beschissen sind die inzwischen drauf bei den Ämtern. Total uncool, die Spießer. Da hab ich gedacht, wo ich dich gerade treffe... vielleicht würdest du für mich...? Aussagen, meine ich... Es kostet dich ja nichts. Sag einfach du hättest mir das Geld g e l i e h e n. Lena. Ich wär dir ewig dank...“(Macht das denn für das Sozialamt einen Unterschied, ob Lena eine geheime Geldquelle hat oder das Geld geliehen hat und zurückzahlen muß? Es wäre doch auch in diesem Fall ein Urlaub auf kosten der Sozialhilfe...)

Da verspürt Lena einen Augenblick lang den wilden Drang, dem Weibsstück die Faust ins glatte Lärvchen zu rammen.

Aber Lena ist noch nie im Leben wirklich aus sich herausgegangen und sie tut es auch jetzt nicht. Und auf einmal ist in ihr nur noch Leere. Sie schüttelt den Kopf, sagt kein Wort, trinkt ihren Kaffee mit einem Schluck zu Ende und hinkt davon. Eine graue Maus.





Copyright Irmgard Schöndorf Welch März 2003
 

Inu

Mitglied
Hallo, liebe Zefira :)

Ganz großen Dank, dass Du Dir soviel Mühe mit meiner Geschichte gemacht hast. Die meisten Deiner Anregungen und Korrekturen habe ich auch akzeptiert und habe den Text schon berichtigt.


Generell solltest du vielleicht ein bißchen sparsamer mit Hervorhebungen sein und diese vor allem nicht durch Sperrsatz kenntlich machen – dann wird u.U. mitten im Wort umgebrochen -, sondern durch Kursivsatz mit vb-Code.
Ach, Zefira, das ist so schwer, immer diesen Code einzugeben und dann ist der Erfolg so minimal. Ich weiß nicht, ob das bei Euch anderen auch so ist, oder ob es an meinem Bild auf dem Monitor liegt, bei mir ist das ‚kursiv‘ Geschriebene nachher kaum als solches wahrnehmbar. Aber Recht hast Du...ich werde mich mit meinen Hervorhebungen einschränken.


Den Titel würde ich noch mal überdenken. Die Hauptperson ist ja Lena und nicht Susi, und das Wort „Neiderin“ beinhaltet schon eine Wertung, die der Leser selbst ziehen sollte. Lieber einfach „Susi und Lena“ oder „Freundinnen“ o.ä....
Hier habe ich bewusst einen etwas unüblichen Titel gewählt, denn Lena ist tatsächlich die Hauptperson. Oder vielleicht doch Susi? Grins. Und ‚Neiderin‘ ist ein so irrsinnig verkorkstes Wort... ich habe auf die Neugier der Leser gezählt. So bin ich halt... immer am Rand der literarischen Trickserei operierend, nur, damit ein paar mehr Leute meine Geschichte lesen sollen



Das ist vielleicht eine Bruchbude... ein Dachjuchhe im fünften Stock (eben war es aber der vierte Stock!) wahnsinnige Treppen ...
Ja, uns Susi nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau!




(Hierzu mal eine Anmerkung: So schön der lakonische Satz „Lena hinkt“ in der Einleitung auch ist.. vielleicht solltest Du Dir eine andere Behinderung ausdenken... Vier Treppen bleiben vier Treppen, egal wie breit und bequem sie sind. Ich kann mir nicht denken, daß die einer gehbehinerten Person nichts ausmachen.)[/Quote)]
Zefira, ich kannte einmal eine Frau mit schlimmer Skoliose, deren ganze Wirbelsäule schief und krumm war, ( Ich habe sie in ‚Hermine‘ als Tante Anna beschrieben), die auch hinkte, dazu noch O-Beine hatte und doch bis ins hohe Alter aüßerst agil und flink herumwieselte, und anscheinend auch mit dem Treppensteigen keine Probleme hatte. Bei Lena habe ich das ‚Hinken‘ gewählt, weil ich sie linkisch, auch etwas plump und unelegant zeichnen wollte



..“(Macht das denn für das Sozialamt einen Unterschied, ob Lena eine geheime Geldquelle hat oder das Geld geliehen hat und zurückzahlen muß? Es wäre doch auch in diesem Fall ein Urlaub auf kosten der Sozialhilfe...)

Wenn Susi eine geheime Geldquelle, also erhöhte Einnahmen hat, steht ihr weniger Sozialhilfe zu, sie muss eventuell sogar einen Teil der schon erhaltenen zurückzahlen. Wenn sie aber ‚ n u r ‘ Mist gebaut, sich Geld geliehen, evtl. sich auch Kredit aufgenommen hat, dann ist das ja kein konkretes Mehr-Einkommen und das Sozialamt hat nicht das Recht, dann seine Leistungen zu kürzen. Natürlich wird das Amt Susi nicht finanziell unter die Arme greifen, um das Geborgte zurück zu zahlen. Aber immerhin wird ihr in dem Fall auch keine Kürzung der Sozialhilfe drohen.

....

So, all Deine anderen Verbesserungensvorschläge habe ich schon ausgeführt.:) :)

Noch einmal großen Dank, dass Du meine Geschichte lektoriert hast. Nun ist sie ein Stück besser geworden.

Ganz liebe Grüße
Inu
 

Inu

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Susi und die Neiderin.

Lena trifft Susi in der Stadt.
Susi: braungebrannt, Haarmähne weißblond, die modelverdächtigen Beine in hochhackigen Sandaletten. Susi ist schick. Susi ist attraktiv, ein Blickfang, wie sie da zügig und elegant durch die Einkaufspassage eilt. Susi ist fünfundzwanzig Jahre alt.

Doch Susi ist krank. Sie leidet. Hat schwere Depressionen. Und ständig Rückenschmerzen. Susi kann nicht arbeiten. Sie lebt von Mutter Staat.

"Wie schön, dich zu sehen, Lena! Wir haben uns total aus den Augen verloren", ruft Susi. "Ich freu mich, ich freu mich! Aber du siehst müde aus!"

Lena weiß, dass sie müde aussieht. Sie ist zwanzig Jahre älter als Susi. Täglich entdeckt sie neue, graue Haare. Und Falten ... Lena eilt weniger beschwingt durchs Leben. Sie hat AUCH immer Rückenschmerzen.

"Ich wusste nicht, dass du noch in der Stadt bist", sagt Lena leise.
In Wirklichkeit hatte sie GEHOFFT , Susi sei endlich von der Bildfläche verschwunden. Susi ist ein Stachel in ihrem Fleisch.
"Ach ja, ich war eine Weile fort ... Urlaub ... weißt du!", sagt Susi lässig.
Lena blickt die andere neugierig an.
"Das dürfte ich eigentlich niemandem erzählen", flüstert Susi, "da will gleich jeder wissen, wo ich das Geld her hab. Also, Ferien wie diese gibt’s nicht noch einmal. Fantastisch! Ich war nämlich auf den Malediven und ... "

Da sieht sie plötzlich etwas Sezierendes in Lenas Augen. Lenas sehr kühler Blick stoppt Susis Begeisterungsausbruch sofort.
"Du ... der Flug - du wirst es nicht glauben - hat kaum was gekostet! Ein Sonderschnäppchen. Hatte ich aus dem Internet! Außerdem war es eigentlich kein wirklicher Urlaub, könnte ich mir ja gar nicht leisten ... nein, ich habe bei einer Familie gewohnt. Hab bei denen ausgeholfen, gearbeitet im Haushalt und so ... weißt du!"

Ärger und Widerwillen kriechen in Lenas Hirn, dass ihr fast schlecht wird und sie nur fort möchte. Doch ihre Neugier ist stark:
"Wohnst du eigentlich noch in der Mozartstraße?" fragt sie wie nebenbei.
"Ja, ja", sagt Susi.

Lena ist tief enttäuscht. Sie hatte heimlich gehofft, man habe diese Frau zu guter Letzt doch noch auf die Straße gesetzt. Denn Susi hat sich die Wohnung auf niederträchtige Weise unter den Nagel gerissen.
- Eine Wohnung, die eigentlich für mich bestimmt war - denkt Lena bitter. Seither ist dieses Weibsstück für sie ... nein, nicht gestorben, dafür ist die viel zu laut, zu auffällig, nein ... aber ihr Anblick reizt Lena, wie das berühmte rote Tuch den Stier. Lena hasst Susi. Nur in raren, von kühler Vernunft dominierten Momenten muss sie sich eingestehen: Susi ist nicht wirklich bösartig, nur eben SCHLAU. Ganz gleich: die Wunde, die Susi ihr geschlagen hat, schmerzt jedesmal aufs Neue, wenn sie sich begegnen. Dabei liegt die Angelegenheit über zwei Jahre zurück.

In dem kleinen Zeitungsladen, den sie auch heute noch betreibt, seufzt Lena eines Tages vor den Kunden: stressig sei es, täglich die dreißig Kilometer zur Arbeit und wieder heim zu fahren. Sie wohnte damals weit draußen auf dem Land. Dass sie eigentlich lieber in die Nähe ihres Geschäftes ziehen wolle, sagt sie.

"Da habe ich ein ideales Angebot", lächelt ein etwa sechzigjähriger Herr, der bei Lena regelmäßig seine Zeitung und Zigaretten kauft. "Die Stadt hat hier im Viertel ein altes Jugendstilhaus übernommen und lässt es gerade renovieren. Für drei Stockwerke stehen die Mieter schon fest. Aber da ist noch das vierte, das Dachgeschoss. Wir tun uns schwer damit, denn es entspricht nicht der Norm, weil die Küche fehlt. Es gibt da nämlich ein Gesetz, das genau bestimmt, wann ein Projekt als Wohnraum vermietet werden darf und wann nicht. Also dieses dürfen wir nicht an eine Familie vermieten, höchstens an jemanden, der es für gewerbliche Zwecke nutzt. Sie könnten dort ihre Zeitschriften und Zigarettenvorräte lagern ... pro forma natürlich, nur um dem Gesetz zu genügen. Sie sehen: eine etwas außergewöhnliche Wohnung. Wirklich, diese Dachetage ist im höchsten Grad ... unkonventionell!"

"Trotzdem ... eine Küche würde ich doch ganz gern haben!" meint Lena .

"Also Wasseranschluss ist natürlich da ... nur Starkstromherd, Waschmaschine, Trockner, Geschirrspüler, all das kann nicht angeschlossen werden, die elektrischen Leitungen dort oben sind zu schwach. Für zwei Kochplatten aber reicht die Kapazität. Und es wird im Keller Münz-Automaten für die Wäsche geben. Das alte Gemäuer hat immerhin über hundert Jahre auf dem Buckel, da kann man nicht ALLES verlangen", sagt der Mann mit seinem seltsamen Lächeln, "aber glauben Sie mir, die Wohnung besitzt auch einige verborgene Vorzüge. Hier ist meine Karte. Ich schreibe Ihnen jetzt noch die Adresse von dem Projekt dazu. Dann können sie hingehen und sich selbst ein Bild machen. Die Handwerker arbeiten jeden Tag dort. Die Räumlichkeiten sind also zugänglich. Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt und rufen Sie mich gleich an und geben mir Bescheid, ob sie interessiert sind."

Lena ist überrascht. Der unauffällige Kunde, mit dem sie nur manchmal ein paar Worte gewechselt hat, entpuppt sich jetzt als Baudezernent der Stadt. So steht es auf der Karte.

"Die Wohnung scheint mir wie für SIE geschaffen!", sagt der Mann, als er seine Zeitungen bezahlt.
Soll das ein Kompliment sein? Doch eher das Gegenteil! Eine Dachgeschoss-Angelegenheit im vierten Stock mit schrägen Wänden und schwachen elektrischen Leitungen, die kein Gerät aushalten, eine fehlende Küche und er meint, dafür sei sie die ideale Mieterin.
"Danke sehr, ich werde es mir überlegen", sagt Lena freundlich.
"Warten sie nicht zu lange, ich muss nämlich nächste Woche für eine Weile verreisen."

Gerade als er dabei ist, zur offenstehenden Tür hinauszugehen, kommt Susi in den Laden gewirbelt.
"Heh, heh, hab ich da was von Wohnung gehört?", ruft sie. "Das interessiert mich aber! Ich will doch lang schon raus aus dieser komischen WG ... bin die ganze Zeit auf der Suche. Wo ist denn dieses Haus?"

Niemand antwortet.

"Ich könnte mir die Sache ja unverbindlich anschauen und dir dann morgen berichten, ruft Susi enthusiastisch. Lena, du hast natürlich den Vortritt und nur, wenn du nicht interessiert bist ..."
"Okay", sagt Lena, "geh ruhig hin." Sie gibt Susi die Visitenkarte des Dezernenten mit der Adresse des Gebäudes.

"Eigentlich hat der Herr die Wohnung ja Ihnen offeriert, Lena", mischt sich eine Kundin ein.

"Na ja, ich schaue sie ja nur FÜR meine Freundin an ... das darf ich doch!", kontert Susi launisch, "wir haben schließlich fast den gleichen Geschmack!"

Am nächsten Tag fragt Lena: "Bist du in der Wohnung gewesen?"
"Nee", antwortet Susi, "noch nicht, aber vielleicht morgen!"
Zwei Tage später zuckt Susi mit den Schultern: "Verdammt, ich hab's noch immer nicht geschafft."
Am nächsten Tag erscheint sie dann mit heruntergezogenen Mundwinkeln im Laden:
"Das ist vielleicht eine Bruchbude ... ein Dachjuchhe im fünften Stock ... wahnsinnige Treppen, natürlich kein Fahrstuhl ... da ist man ja schon fertig, wenn man oben ankommt und alles ... mini ... mini, drei, vier winzige Kabäuschen ... also wirklich ... und die reinste Baustelle! Sieht nicht aus, als ob das jemals was würde."

Lena, die nach Überdenken, Überschlafen und nun auch nach Susis negativer Beschreibung keineswegs wild auf dieses Appartement ist, kümmert sich nicht weiter, vergisst die Sache.

Da bietet ihr jemand schon vier Tage später eine andere Wohnung an. Im ersten Stock eines Mietshauses. Eine Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Angelegenheit, weder groß noch klein, weder schön noch hässlich. Standard eben. Aber sofort bezugsfähig. Außerdem ist sie nur einen Steinwurf vom Laden entfernt. Lena fackelt nicht lange, macht alles mit dem Eigentümer klar und zieht ein.

Von Susi hört und sieht sie eine Weile nichts. Eines Samstag Morgens taucht sie wieder im Laden auf.
"Halt dich fest, meine Liebe", jubelt Susi. "Erinnerst du dich an diese Dachgeschoss-Sache da ...? Also, ich KRIEGE die Wohnung. Herr Vanderweide ( das ist der bewusste Baudezernent ) war sehr von mir angetan und hat bei der Stadt ein gutes Wort für mich eingelegt. Hab den Mietvertrag schon in der Tasche. Juhu ... Es ist unglaublich. Lena, geh nachher mal mit! Das musst du sehen. Was die daraus gemacht haben - man sollte es nicht für möglich halten!"

Lena geht nach Ladenschluss mit. Nur drei Minuten Fußmarsch und sie sind da!
Das Haus steht auf einer Anhöhe am Rand des Heine-Parks. Es ist eine schöne, einst hochherrschaftliche Villa, und wie Lena ja schon weiß, ganz im Jugendstil gebaut. Die Dachwohnung, um die es geht, liegt im vierten Stock. Die Treppen sind breit und bequem. Sie würden sogar für siebzigjährige Rentner noch zu bewältigen sein. Und die Zimmer? Es sind tatsächlich niedrige, mit weißer Rauhfaser tapezierte Kämmerchen mit schrägen Wänden, wie Susi erwähnt hatte. Allerdings mit geräumigen Aussparungen, die weit unters verkleidete Dachgebälk reichen, wo man durch Einbau von Regalen eine Menge Stauraum zum Aufbewahren von Sachen schaffen könnte. Platz für eine Schreib- und Arbeitsecke und genug Nischen für Futonbetten oder Liegen sind auch vorhanden.
Doch zugegeben, diese Räumlichkeiten sind eher bescheiden.

"Komm", sagt Susi, "jetzt zeig ich dir was ziemlich Tolles!"
Das ‚ziemlich Tolle‘ ist das Badezimmer. Lena kann nur laut schreien. Vor Staunen. Denn es ist mindestens dreimal so groß, wie die Bäder, die man heute in normalen Wohnungen hat. Und sehr hell. Die Decke füllt ein riesiges, kuppelförmiges Oberlicht aus. Auf dem Boden weiße Marmorfliesen. An den Wänden hellbeige Kacheln mit Seerosen- Motiven. Gleich zwei identische, sanft geschwungene Waschbecken mit kostbar verzierten Wasserhähnen. Darüber ovale Spiegel. Alles Jugendstil. In einer Nische ein Bidet. Wie schick!
Die Badewanne jedoch ist hochmodern. Luxus pur. Eine übergroße Eckwanne, etwas erhöht in den Boden eingelassen, daran anschließend ein Podest, auf dessen Marmor man es sich bequem machen kann wie auf der Bank eines Solariums. Denn wärmend und golden fallen sogar jetzt, an diesem rauen Herbsttag die Sonnenstrahlen von oben auf all diese Pracht.
"Das ist fantastisch!" Lena ringt nach Luft.
"So ... was du bisher gesehen hast, war der normale Wohn-und Nutzbereich", grinst Susi, "aber jetzt gehen wir einmal dort hinüber!"

Das ‚Zimmer‘, das sie jetzt betreten - Susi hatte es Lena damals im Laden komplett unterschlagen - ist eher eine kleine Halle von etwa FÜNFZIG Quadratmetern und hell, hell. Scheint von einem exzentrischen Bauherrn einst aus purer Lust und Tollerei auf das flache Dach gesetzt worden zu sein. Auch dieser Raum ist von einer luftigen Glaskuppel mit Metallstreben, einer wohlgeformten Kuppel im puren Jugendstil überspannt, durch die alles Tageslicht der Welt hereinströmt.
Lena taumelt fast vor Aufregung, vor aufkeimendem Neid - der Susi hoffentlich verborgen bleibt!

"Hast du ein Glück!" ruft sie ein ums andere Mal und kann ihr Aufgewühltsein kaum mehr verbergen. Ihre Stimme überschlägt sich, während sie in diesem wundervollen kleinen Saal herumblickt, der jetzt Ende Oktober von einer Helligkeit durchflutet ist, als sei draußen satter Hochsommer.

"Da muss das Amt mir aber ab und zu einen Fensterputzer genehmigen", wirft Susi munter ein, "ich müsste ja auf eine hohe Leiter steigen, um DIESE Flächen zu reinigen, ICH mit MEINER Bandscheibe!"

Der kuppelüberdachte Raum besteht auf einer Seite aus zwei deckenhohen, gläsernen Schiebetüren, die bis zum Fußboden reichen. Durch eine dieser Türen treten sie nun ins Freie und stehen auf einer DACHTERRASSE , von der man die herrlichste Aussicht nach drei Himmelsrichtungen genießt. Auch davon hatte das schlaue Geschöpf damals im Laden kein Wort erwähnt.
Lena regt sich so auf, dass sie fast umfällt. Fast umfällt vor Wut. Vor Neid. "Warum habe ich Idiotin mir die Wohnung nicht angesehen, damals!", denkt sie in ohnmächtigem Zorn.

"Hundertzwanzig Quadratmeter ist die Terrasse groß", jubelt Susi, "und nur von meiner Wohnung her erreichbar, wird also mir ganz allein gehören. Das habe ich schriftlich. Die anderen Mieter kommen hier nicht herauf, es sei denn, ich würde sie einladen!" aber die haben ja selbst ihre Balkone.

Vor dem brusthohen Sicherheitsgeländer schreitet Lena die drei offenen Seiten der Terrasse ab. Sie zittert. Löst sich nur langsam aus dem Dunst von Grimm und feuerroter Wut: „All das könnte ich jetzt täglich haben, wenn ...“

Der Panorama-Blick ist wunderbar. Traurig sieht Lena von oben auf die bizarren, malerischen Hausdächer mit Dutzenden von Winkeln, Erkern, romantischen, efeuumrankten Ecken dazwischen Kleine, von Menschen begrünte Oasen voller Blumenstöcke leuchten im roten und schwarzen Ziegelmeer. Hier ist man hoch über allem. Lenas Blick geht weit über die Straßenzüge der Stadt, umfasst die steil ragenden, vereinzelten Kirchtürme hie und da, wandert dann in die Ferne bis zu Wiesen, zum Fluss und weit hin zu den Wäldern. Eine Aussicht ... unsagbar frei und schön!

"Das ist einmalig. Dagegen ist meine Wohnung ein Scheißdreck", denkt Lena. "ICH könnte jetzt hier leben. Mir ist das alles angeboten worden ... MIR !" Ihr ist nach Heulen zumute.
"Das ist das Domizil, von dem ich immer geträumt habe", schluchzt etwas tief in ihrer Seele. Sie fühlt sich elend. Betrogen. Verraten.

Sie denkt:"Die Räumlichkeiten, von Grund auf renoviert, sind noch jungfräulich und rein. Man kann sie herrlich gestalten. Das wird natürlich nicht der Fall sein, wenn Susi nächste Woche mit all ihrem Krempel einzieht und sie verseucht", denkt Lena bitterböse.

"Natürlich haben sie das alles hier nicht meinetwegen so schön auf die Reihe gebracht", flötet Susi, "sondern das Haus gehört der Stadt und steht unter Denkmalschutz. Sie mussten es nach alten Plänen stilgetreu wiederherstellen. Unsummen haben sie da hinein gepumpt. Auch die übrigen Wohnungen sind prachtvoll. Aber diese hier toppt alles!"

"Ja, es ist wirklich wunderbar", sagt Lena, die vor Übelkeit jetzt wirklich fast umfällt.

"Das darf man keinem erzählen", wispert Susi, "dass eine Sozialhilfe-Empfängerin eine solche Bleibe bekommen hat. Und mit 350 DM ist sie billig. Obwohl ... meine Miete zahlt eh das Amt. Nur, zu einem hab ich mich verpflichten müssen: sie wollen nämlich, dass ich Tina zu mir nehme."
Tina ist Susis dreijährige Tochter, die bei der Oma lebt.
"Meine Mutter soll nämlich ins Krankenhaus ... die Herzklappe ... und da müssten sie das Kind in ein Heim stecken. Das würde den Staat eine Menge Geld kosten. Aber das mit Tina ist kein Problem, ich nehm sie ja gern", sagt Susi. "Platz ist genug und im Sommer haben wir auch die Dachterrasse ... Ach, liebe Lena, du musst mir ein bisschen beim Einrichten helfen, du hast einen so exquisiten Geschmack!", schleimt die Schlange ... "Irgendwie brauch ich da noch eine Kochstelle ..."

Lena fühlt sich gleich wieder gefordert: "Du brauchst eine Kochzeile mit einer Doppelspüle. Das Ganze kannst Du in der Nische dort hinter einer Schiebetür verstecken. Gleich daneben würde ich eine schicke Essecke einrichten. Zum Schlafen, zum Arbeiten und für die Sachen ist in den schrägen Kammern mehr als genug Platz. So brauchst du den Raum mit der Glaskuppel und dem Parkettfußboden nicht fürs ‚normale‘ Wohnen zu benutzen, sondern kannst etwas Herrliches daraus machen. Eine weitläufige Sitzhalle, ein exotisches, grünes Paradies!"

Beim Gedanken an all diese Möglichkeiten vergisst Lena für einen Augenblick ihre Trauer, ihre Wut. "Du solltest dir richtig große, hohe Pflanzen heranzüchten. Ich kann dir jede Menge Ableger geben. Bei dem Oberlicht hier wächst wahrscheinlich alles schnell bis zur Decke."

Warum biedert sie sich Susi an? Glaubt sie durch die Wiederbelebung dieser Freundschaft - die eigentlich nie wirklich eine war - zumindest als Besucherin ab und zu die Schönheit und den Komfort der Wohnung genießen zu dürfen!

"Viele Pflanzen ... meinst Du wirklich, Lena? Ach, das darf ich gar nicht publik machen, was für eine Wohnung ich hier habe. Bitte sag du es auch niemandem! Sonst werden die Spießer nur neidisch! Ach Lena, nach dem Umzug mach ich eine Party für meine liebsten Leute. Du kommst doch auch, oder? Du musst mich eh bei der Einrichtung beraten und so... juhu und dann geh ich Möbel kaufen!"
"An den Seiten des Kuppelraumes entlang würde ich nur ein paar edle, WEIßE Sitzelemente aufstellen", sprudelt Lena heraus, "und in die Ecke den Fernseher und die Musikanlage. Sonst nichts. Damit die Fläche weit und großzügig bleibt."
"Ja aber da wäre so schön viel Platz für viel Zeug!"

"Stopf diesen EINEN Raum bitte nicht mit irgendwelchem Kleinkram und Nippes voll!".
- Lena kennt Susis Vorliebe für Plastikpuppen, Dekoschrott und übergroße, gammelige Stofftiere, mit denen sie jeden freien Platz ihres Zimmers in der WG verziert hatte -

"Wo soll ich aber all die Blumentöpfe draufstellen", hakt Susi nach, "wenn ich doch in dem Raum keine Möbel... ?"
"Du stellst die Pflanzen direkt auf den Boden in großen, einfachen, schönen Gefäßen. Am besten auf Hydrokultur. Dann wachsen sie wie im Dschungel."
"Jawohl, Mama!" ruft Susi und grinst übers ganze Gesicht.

"Schau mal", sagt Lena später, "es sind Mulden in den Boden der Terrasse eingelassen, da kann man Erde einfüllen und sogar kleine Bäume pflanzen. Die haben wirklich an alles gedacht, damals vor hundert Jahren. Da draußen kann man schlafen, wohnen, Partys feiern .... so hoch liegt die Terrasse, dass es keine Einsicht durch irgendwelche Nachbarn gibt. "
Ach, Lenas Gedanken machen wilde Sprünge:
"Du und die Tina, ihr könnt praktisch den gesamten Sommer über hier draußen leben ... ein zusätzliches Wohnzimmer ... "

Mit der hellen Begeisterung bricht aber schon wieder Neid wie eine gelbe Woge über sie herein.
Das Schlafen im Sommer unter freiem Himmel ist ein ständiger, unerfüllbarer Traum von Lena, die in ihrer neuen Behausung nur einen 80 auf 80 cm großen Küchenbalkon hat.
‚Vielleicht könnte ja auch ich, von Susi eingeladen, ab und zu die Nacht hier draußen verbringen, direkt unter den Sternen!‘ Hoffnung keimt in ihr auf.
"Da hast du eine fantastische Wohnung", sagt sie und kann die Trauer in ihrer Stimme, ja die Tränen kaum mehr verbergen.

"Ich find sie auch lustig", plappert Susi, "obwohl ... immer die schmutzige Wäsche in den Keller schleppen und dann wieder die ganzen Treppen hoch, das ist nicht gerade das Gelbe vom Ei ..."

"Ist doch keineswegs der Rede wert, verglichen mit all dem Schönen."
"Okay", grinst Susi, "du hast Recht. Also, du kannst kommen und hier auf der Terrasse übernachten, so oft du willst. Wir können uns auch zusammen auf meinem Dachgarten sonnen, wenn du magst! Warte mal, bis ich erst eingerichtet bin. Wenn erst die große Party steigt." Susi lächelt zufrieden.

Aber Lena kriegt die Wohnung nicht mehr zu sehen. Schlimmer ... Susi kreuzt nie mehr bei ihr im Laden auf. Wo sie vorher doch fast jeden Tag da war! Die Pflanzenableger hat sie sich auch nicht abgeholt und bleibt verschollen. Lena ist traurig, gekränkt, ist wütend darüber, dass die andere sie ignoriert.
"Vielleicht hat Susi ja meinen Neid, meine Missgunst gespürt", überlegt sie. Und Lenas Neid und Missgunst werden immer stärker, wenn sie denkt, wie glücklich sie selbst mit dieser Wohnung geworden wäre.

Inzwischen vergehen sechs Wochen. Susi hat Lena noch immer zu KEINER Einweihungsparty geladen. Was ist nur los mit ihr?

Da muss Lena sich einfach Gewissheit verschaffen. Sie schleicht sich eines Abends nach Geschäftsschluss zur Jugendstil-Villa. Außen, neben dem Eingang zeigt das Klingelschildchen der Dachetage als einziges keine Aufschrift. Vielleicht wohnt Susi gar nicht hier, hat die Wohnung am Ende doch nicht bekommen ...Wishful thinking! Lenas Wangen röten sich. Schadenfreude!
Die Haustür ist nur angelehnt. Lena tritt in den Flur. Nun hat sie aber traurige Gewissheit: Susi ist mitnichten hinausgeworfen worden. Ihr Name prangt stolz an einem der Briefkästen. Das heißt: es gibt sie nach wie vor, sie ist nicht von der Bildfläche verschwunden, will nur von Lena nichts mehr wissen.

Lena hatte sich auf die Nächte unter dem Sternenhimmel wirklich gefreut, ja, aus irgend einem rätselhaften Grund hätte ihr sogar der Aufenthalt in Susis Wohnung unsagbar viel bedeutet. Jetzt ist sie elend. Bitterböse Gefühle brodeln wieder in ihr. Jedoch hinaufzugehen und mit Susi zu sprechen, das wäre der Gipfel der Peinlichkeit. Lena fühlt sich krank. Sie wankt nach Hause.

Nun ist es klar: Susi geht ihr absichtlich aus dem Weg. Einmal kommen sie sich ungewollt auf zwei verschiedenen Straßenseiten entgegen. Susi wendet den Kopf schnell geradeaus, vermeidet den Blick hinüber zu Lena, der schon das verkrampfte Begrüßungslächeln automatisch aufs Gesicht gesprungen ist.

Monate später treffen sie sich zufällig im Wartezimmer beim Zahnarzt. Da können sie nicht umhin, ein paar Worte miteinander zu wechseln. Gleich fragt Lena nach der Wohnung. Sie kann nicht an sich halten. Die Neugier ist zu stark. Aber Susi verliert kein einziges gutes Wort über ihre herrliche Bleibe. Rühmt weder die fantastischen Lichtverhältnisse, noch die Dachterrasse, noch hat sie sonst irgend etwas Positives zu melden.

"Stell dir vor, im Erdgeschoss, in dem Haus nebenan ist ... eine CHENMISCHE REINIGUNG“, jammert sie stattdessen. "Da steigen Dünste hoch ... ich kann dir sagen. Furchtbar. An manchen Tagen dringt ein solch widerlicher Gestank herauf ... also, das hält überhaupt niemand aus!"

Lena meint, - nein, sie ist sicher - dass das mit den Gerüchen eher unwahrscheinlich ist, denn Susis Wohnung liegt in luftiger Höhe, die chemische Reinigung aber im Erdgeschoss eines reichlich entfernt stehenden NACHBARHAUSES.

"Ich habe gegen die Besitzer Klage erhoben", sagt Susi, "und werde nicht eher Ruhe geben, bis sie hundertprozentige Filter eingebaut oder ihre Giftküche für immer geschlossen haben. Ich bin schließlich juristisch sehr gut gepolstert."

Von Tina redet Susi dann etwas später und ganz nebenbei. Ihre Tochter wohne nicht mehr bei ihr, sie sei krank geworden, kein Wunder, wo die Räume so belastet seien durch die Abgase von diesem impertinenten, italienischen Reinigungsfritzen.. Jetzt sei Tina wieder bei der Oma, die sich ja , Dank der neuen Herzklappe, gut berappelt hätte ... Bei der Oma sei die Kleine doch am besten aufgehoben.
"Das bedeutet aber nicht, dass ich nun keine ‚alleinerziehende Mutter‘ mehr bin, wie diese missgünstige Zicke, die Frau Müller – du kennst sie, sie kommt in deinen Laden - dem Amt gemeldet hat. Die ist ja nur auf die Kohle neidisch, die ich kriege", sagt Susi zornig, "und das Kind ist ja nun einmal meines, für das allein ich einzustehen habe. Und wer weiß denn, wie lang die Tina noch bei meiner Mutter bleibt ... ich kann sie doch nicht ständig hin- und her ummelden! "
Lena schüttelt irritiert den Kopf. Sie schweigt.

Susi, die heute wieder einmal ihr Herz auf der Zunge trägt, fängt jetzt auch noch prompt von dem Mann zu reden an, von dem die bösen Nachbarn behaupten, dass er bei ihr wohne, weil sein BMW Tag und Nacht vor ihrem Haus stehe.
„Da sieht man mal wieder die Gemeinheit der Leute“, sagt sie, „ die haben es doch fast geschafft, dass mir die Stütze gekürzt wird.
Also, egal, was die Neidsäcke labern ... Frank ist zwar oft bei mir, aber er ist nur ein guter Bekannter. Abends fährt er immer heim und schläft bei seiner Mutter. Er hat nach seiner Scheidung nur seine Klamotten, ein paar Bücher und den Computer bei mir untergebracht und ist noch nicht dazu gekommen, das Zeug wieder zurückzuholen. Aber gerade in der Zwischenzeit ist eine Tussi vom Amt dagewesen. Sie hat blöderweise auch seinen bescheuerten Rasierapparat und benutzte Wäsche von ihm in meinem Bad gefunden. Da hat sie gemeckert, dass wir wahrscheinlich in einem eheähnlichen Verhältnis oder so ... Dabei ist das eine rein platonische Sache mit dem Frank. Ein Paar sind wir schon gar nicht. Der Alten habe ich aber mal richtig die Meinung gegeigt. Ich bin schließlich krank und behindert und brauch das Geld. Die hat sich auch nie wieder gemeldet." Susi schiebt energisch das Kinn vor.

Ihr Monolog bricht prompt ab und rettet Lena vor einem Wutanfall, als die Zahnarzthelferin Susi in den Behandlungsraum ruft.

Danach vergehen Monate. Lena hört und sieht von Susi nichts mehr.

Dann, in jenem langen, höllisch heißen Sommer, geschieht es, dass die beiden sich wieder an einem späten Samstag Nachmittag in der Fußgängerzone zufällig über den Weg laufen. Susi, wie immer schön gestylt, leichtfüßig, Sonnenbrille hoch in den Haaransatz geschoben, schicke, neonpinke Beuteltasche am Arm, erklärt lässig, dass sie den ganzen Tag im Schwimmbad gewesen sei ..."Schade Lena, ich hab wenig Zeit, bin drüben im Ratskeller mit Freunden zum Abendessen verabredet. Aber laufen wir doch ein Stück miteinander!"

"Was macht deine Wohnung?" fragt Lena müde.
"Ach die Wohnung! Na ja, so toll wie du denkst, ist das alles auch nicht!"
"Auf alle Fälle bist du ziemlich gut dran. Ich kann nachts vor lauter Schwüle nicht schlafen! Eine Terrasse ist nicht das Schlechteste bei dieser Hundehitze“, seufzt Lena.
Susi schüttelt sich: "Wenn du nur wüsstest, wie unangenehm das dort manchmal wird ... All das Nachtgetier, die urggh ... Insekten ... Das macht echt keinen Spaß. Und mit diesen Schrott-Waschmaschinen im Keller kriegt man seine Sachen überhaupt nicht sauber, außerdem schlucken sie viel zu viele Münzen. Meinst du, die Stadt würde das endlich mal in Ordnung bringen? Da muss ich wieder Druck machen. Ich lass mir doch nicht alles gefallen!"

"Man soll eben um sein Recht kämpfen", sagt Lena sarkastisch.

Und sie denkt bitter daran, wie sie doch sechs Tage die Woche von morgens sieben bis abends halb sieben im brütend heißen Laden sitzt und Zeitungen verkauft, zu deren Lektüre sie selbst kaum kommt, weil bei ihr immer Betrieb ist. Wie sie geduldig auf jeden Rentner eingeht, der hier seinen Lottoschein ausfüllt und gern mit ihr ein kleines Schwätzchen hält. Wie sie sich das Getratsche der Hausfrauen aus der Nachbarschaft anhören muss, die bei ihr jeden Morgen die ‚Bild‘ kaufen und einmal in der Woche eine Fernsehillustrierte, arme Einsame, die danach stundenlang herumhocken und ihre häuslichen Probleme drastisch schildern. Und das Tag für Tag. Zum Ausgehen hat sie nach einer solchen Woche weder Lust noch Kraft. Um eine Reise zu machen, müsste sie den Laden schließen oder eine Vertretung engagieren. Doch das geht aus finanziellen Gründen nicht. Wieder hat in der Nähe ein neuer Kiosk aufgemacht. Immer mehr Konkurrenz. Und wozu die ganze Schufterei? Ein Monat ist schnell um und jeden neuen Ersten kommen Ladenmiete, Krankenversicherung, Telefon- und Stromrechnung auf sie zu. Dazu die Miete für ihre mickrige Wohnung. Da bleibt für Luxus nichts übrig. So vergeht Jahr um Jahr.

Susi, die Sonnenbraune, blickt aus dunkel-umschminkten Augen fröhlich in den Tag.
"Schau mal, Lena", sagt sie und lässt die Ältere einen kurzen Blick in eine Tragetüte werfen, die sie aus ihrer schicken Tasche zieht.
"Guck mal, hab ich mir eben gekauft. Escada!"
Etwas Pinkfarbenes, Wolkig-Duftiges, Seidenglänzendes sticht ins Auge. Abendkleid? Hausanzug? Lena will es gar nicht wissen.
"Steht mir gut, das Teil", sagt Susi, "ach, weißt du was ... setzen wir uns noch schnell hierher zum Italiener und trinken einen Espresso! Der Typ, mit dem ich mein Date hab, kann ruhig ein paar Minuten warten! Ich muss dir noch etwas Wichtiges erzählen. Ich hab da ein riesengroßes Problem am Hals. Die Leute vom Amt wollen nämlich wissen, woher das Geld stammt, mit dem ich meinen letzten Urlaub finanziert habe! Die sind derart penetrant!"
"Urlaub?"
Ja, ich bin doch vorigen Monat in Florida gewesen. Und jetzt hat mich irgend jemand verpfiffen. Die alte Hexe vom Amt hat mich eh schon die ganze Zeit auf dem Kieker, die hat also das bescheuerte Reisebüro ausfindig gemacht. Nun heißt es, ich hätt noch eine andere Geldquelle oder so was ... weißt du. Also, ich hab den Tussis gesagt, eine Freundin hätte mir die Kohle geborgt und ich müsste sie natürlich wieder ratenweise zurückzahlen.
"Könnte ja sein“, sagt Lena angewidert
Susi grinst schalkhaft. "Ich kenn keine, die behaupten könnte, sie hätte mir 2000 DM ... Die müsste dann wieder beweisen, woher sie ... und so weiter. Derart beschissen sind die inzwischen drauf bei den Ämtern. Total uncool. Immer nur am Überlegen, wie sie Leuten wie mir das Geld kürzen können ... wo sie sonst die Milliarden raushauen wie nix! Da hab ich gedacht, wo ich dich gerade treffe ... vielleicht würdest du für mich ...? aussagen, meine ich ... Es kostet dich ja keinen Pfennig. Sag einfach DU hättest mir das Geld geliehen. Lena. Ich wär dir ewig dank ..."

Da verspürt Lena einen Augenblick lang den wilden Drang, dem Weibsstück so richtig mitten ins Gesicht ...

Aber sie ist noch nie im Leben wirklich aus sich herausgegangen ... sie tut es auch jetzt nicht. Und auf einmal ist in ihr nur Leere. Sie schüttelt den Kopf, sagt kein Wort, trinkt ihren Kaffee mit einem bitteren Schluck zu Ende, legt zwei DM auf den Tisch und hastet wortlos davon.

„Wie bist du denn drauf?“, ruft ihr Susi verwundert nach ...


*







Copyright Irmgard Schöndorf Welch März 2003
 

Inu

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Susi und die Neiderin.

Lena trifft Susi in der Stadt.
Susi: braungebrannt, Haarmähne weißblond, die Beine in hochhackigen Sandaletten. Susi ist schick. Susi ist attraktiv, ein Blickfang, wie sie da zügig und elegant durch die Einkaufspassage eilt. Susi ist fünfundzwanzig Jahre alt.

Doch Susi ist krank. Sie leidet. Hat schwere Depressionen. Und ständig Rückenschmerzen. Susi kann nicht arbeiten. Sie lebt von Mutter Staat.

"Wie schön, dich zu sehen, Lena! Wir haben uns total aus den Augen verloren", ruft Susi. "Ich freu mich, ich freu mich! Aber du siehst müde aus!"

Lena weiß, dass sie müde aussieht. Sie ist zwanzig Jahre älter als Susi. Täglich entdeckt sie neue, graue Haare. Und Falten ... Lena eilt weniger beschwingt durchs Leben. Sie hat AUCH immer Rückenschmerzen.

"Ich wusste nicht, dass du noch in der Stadt bist", sagt Lena leise.
In Wirklichkeit hatte sie GEHOFFT , Susi sei endlich von der Bildfläche verschwunden. Susi ist ein Stachel in ihrem Fleisch.
"Ach ja, ich war eine Weile fort ... Urlaub ... weißt du!", sagt Susi lässig.
Lena blickt die andere neugierig an.
"Das dürfte ich eigentlich niemandem erzählen", flüstert Susi, "da will gleich jeder wissen, wo ich das Geld her hab. Also, Ferien wie diese gibt’s nicht noch einmal. Fantastisch! Ich war nämlich auf den Malediven und ... "

Da sieht sie plötzlich etwas Sezierendes in Lenas Augen. Lenas sehr kühler Blick stoppt Susis Begeisterungsausbruch sofort.
"Du ... der Flug - du wirst es nicht glauben - hat kaum was gekostet! Ein Sonderschnäppchen. Hatte ich aus dem Internet! Außerdem war es eigentlich kein wirklicher Urlaub, könnte ich mir ja gar nicht leisten ... nein, ich habe bei einer Familie gewohnt. Hab bei denen ausgeholfen, gearbeitet im Haushalt und so ... weißt du!"

Ärger und Widerwillen kriechen in Lenas Hirn, dass ihr fast schlecht wird und sie nur fort möchte. Doch ihre Neugier ist stark:
"Wohnst du eigentlich noch in der Mozartstraße?" fragt sie wie nebenbei.
"Ja, ja", sagt Susi.

Lena ist tief enttäuscht. Sie hatte heimlich gehofft, man habe diese Frau zu guter Letzt doch noch auf die Straße gesetzt. Denn Susi hat sich die Wohnung auf niederträchtige Weise unter den Nagel gerissen.
- Eine Wohnung, die eigentlich für mich bestimmt war - denkt Lena bitter. Seither ist dieses Weibsstück für sie ... nein, nicht gestorben, dafür ist die viel zu laut, zu auffällig, nein ... aber ihr Anblick reizt Lena, wie das berühmte rote Tuch den Stier. Lena hasst Susi. Nur in raren, von kühler Vernunft dominierten Momenten muss sie sich eingestehen: Susi ist nicht wirklich bösartig, nur eben SCHLAU. Ganz gleich: die Wunde, die Susi ihr geschlagen hat, schmerzt jedesmal aufs Neue, wenn sie sich begegnen. Dabei liegt die Angelegenheit über zwei Jahre zurück.

In dem kleinen Zeitungsladen, den sie auch heute noch betreibt, seufzt Lena eines Tages vor den Kunden: stressig sei es, täglich die dreißig Kilometer zur Arbeit und wieder heim zu fahren. Sie wohnte damals weit draußen auf dem Land. Dass sie eigentlich lieber in die Nähe ihres Geschäftes ziehen wolle, sagt sie.

"Da habe ich ein ideales Angebot", lächelt ein etwa sechzigjähriger Herr, der bei Lena regelmäßig seine Zeitung und Zigaretten kauft. "Die Stadt hat hier im Viertel ein altes Jugendstilhaus übernommen und lässt es gerade renovieren. Für drei Stockwerke stehen die Mieter schon fest. Aber da ist noch das vierte, das Dachgeschoss. Wir tun uns schwer damit, denn es entspricht nicht der Norm, weil die Küche fehlt. Es gibt da nämlich ein Gesetz, das genau bestimmt, wann ein Projekt als Wohnraum vermietet werden darf und wann nicht. Also dieses dürfen wir nicht an eine Familie vermieten, höchstens an jemanden, der es für gewerbliche Zwecke nutzt. Sie könnten dort ihre Zeitschriften und Zigarettenvorräte lagern ... pro forma natürlich, nur um dem Gesetz zu genügen. Sie sehen: eine etwas außergewöhnliche Wohnung. Wirklich, diese Dachetage ist im höchsten Grad ... unkonventionell!"

"Trotzdem ... eine Küche würde ich doch ganz gern haben!" meint Lena .

"Also Wasseranschluss ist natürlich da ... nur Starkstromherd, Waschmaschine, Trockner, Geschirrspüler, all das kann nicht angeschlossen werden, die elektrischen Leitungen dort oben sind zu schwach. Für zwei Kochplatten aber reicht die Kapazität. Und es wird im Keller Münz-Automaten für die Wäsche geben. Das alte Gemäuer hat immerhin über hundert Jahre auf dem Buckel, da kann man nicht ALLES verlangen", sagt der Mann mit seinem seltsamen Lächeln, "aber glauben Sie mir, die Wohnung besitzt auch einige verborgene Vorzüge. Hier ist meine Karte. Ich schreibe Ihnen jetzt noch die Adresse von dem Projekt dazu. Dann können sie hingehen und sich selbst ein Bild machen. Die Handwerker arbeiten jeden Tag dort. Die Räumlichkeiten sind also zugänglich. Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt und rufen Sie mich gleich an und geben mir Bescheid, ob sie interessiert sind."

Lena ist überrascht. Der unauffällige Kunde, mit dem sie nur manchmal ein paar Worte gewechselt hat, entpuppt sich jetzt als Baudezernent der Stadt. So steht es auf der Karte.

"Die Wohnung scheint mir wie für SIE geschaffen!", sagt der Mann, als er seine Zeitungen bezahlt.
Soll das ein Kompliment sein? Doch eher das Gegenteil! Eine Dachgeschoss-Angelegenheit im vierten Stock mit schrägen Wänden und schwachen elektrischen Leitungen, die kein Gerät aushalten, eine fehlende Küche und er meint, dafür sei sie die ideale Mieterin.
"Danke sehr, ich werde es mir überlegen", sagt Lena freundlich.
"Warten sie nicht zu lange, ich muss nämlich nächste Woche für eine Weile verreisen."

Gerade als er dabei ist, zur offenstehenden Tür hinauszugehen, kommt Susi in den Laden gewirbelt.
"Heh, heh, hab ich da was von Wohnung gehört?", ruft sie. "Das interessiert mich aber! Ich will doch lang schon raus aus dieser komischen WG ... bin die ganze Zeit auf der Suche. Wo ist denn dieses Haus?"

Niemand antwortet.

"Ich könnte mir die Sache ja unverbindlich anschauen und dir dann morgen berichten, ruft Susi enthusiastisch. Lena, du hast natürlich den Vortritt und nur, wenn du nicht interessiert bist ..."
"Okay", sagt Lena, "geh ruhig hin." Sie gibt Susi die Visitenkarte des Dezernenten mit der Adresse des Gebäudes.

"Eigentlich hat der Herr die Wohnung ja Ihnen offeriert, Lena", mischt sich eine Kundin ein.

"Na ja, ich schaue sie ja nur FÜR meine Freundin an ... das darf ich doch!", kontert Susi launisch, "wir haben schließlich fast den gleichen Geschmack!"

Am nächsten Tag fragt Lena: "Bist du in der Wohnung gewesen?"
"Nee", antwortet Susi, "noch nicht, aber vielleicht morgen!"
Zwei Tage später zuckt Susi mit den Schultern: "Verdammt, ich hab's noch immer nicht geschafft."
Am nächsten Tag erscheint sie dann mit heruntergezogenen Mundwinkeln im Laden:
"Das ist vielleicht eine Bruchbude ... ein Dachjuchhe im fünften Stock ... wahnsinnige Treppen, natürlich kein Fahrstuhl ... da ist man ja schon fertig, wenn man oben ankommt und alles ... mini ... mini, drei, vier winzige Kabäuschen ... also wirklich ... und die reinste Baustelle! Sieht nicht aus, als ob das jemals was würde."

Lena, die nach Überdenken, Überschlafen und nun auch nach Susis negativer Beschreibung keineswegs wild auf dieses Appartement ist, kümmert sich nicht weiter, vergisst die Sache.

Da bietet ihr jemand schon vier Tage später eine andere Wohnung an. Im ersten Stock eines Mietshauses. Eine Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Angelegenheit, weder groß noch klein, weder schön noch hässlich. Standard eben. Aber sofort bezugsfähig. Außerdem ist sie nur einen Steinwurf vom Laden entfernt. Lena fackelt nicht lange, macht alles mit dem Eigentümer klar und zieht ein.

Von Susi hört und sieht sie eine Weile nichts. Eines Samstag Morgens taucht sie wieder im Laden auf.
"Halt dich fest, meine Liebe", jubelt Susi. "Erinnerst du dich an diese Dachgeschoss-Sache da ...? Also, ich KRIEGE die Wohnung. Herr Vanderweide ( das ist der bewusste Baudezernent ) war sehr von mir angetan und hat bei der Stadt ein gutes Wort für mich eingelegt. Hab den Mietvertrag schon in der Tasche. Juhu ... Es ist unglaublich. Lena, geh nachher mal mit! Das musst du sehen. Was die daraus gemacht haben - man sollte es nicht für möglich halten!"

Lena geht nach Ladenschluss mit. Nur drei Minuten Fußmarsch und sie sind da!
Das Haus steht auf einer Anhöhe am Rand des Heine-Parks. Es ist eine schöne, einst hochherrschaftliche Villa, und wie Lena ja schon weiß, ganz im Jugendstil gebaut. Die Dachwohnung, um die es geht, liegt im vierten Stock. Die Treppen sind breit und bequem. Sie würden sogar für siebzigjährige Rentner noch zu bewältigen sein. Und die Zimmer? Es sind tatsächlich niedrige, mit weißer Rauhfaser tapezierte Kämmerchen mit schrägen Wänden, wie Susi erwähnt hatte. Allerdings mit geräumigen Aussparungen, die weit unters verkleidete Dachgebälk reichen, wo man durch Einbau von Regalen eine Menge Stauraum zum Aufbewahren von Sachen schaffen könnte. Platz für eine Schreib- und Arbeitsecke und genug Nischen für Futonbetten oder Liegen sind auch vorhanden.
Doch zugegeben, diese Räumlichkeiten sind eher bescheiden.

"Komm", sagt Susi, "jetzt zeig ich dir was ziemlich Tolles!"
Das ‚ziemlich Tolle‘ ist das Badezimmer. Lena kann nur laut schreien. Vor Staunen. Denn es ist mindestens dreimal so groß, wie die Bäder, die man heute in normalen Wohnungen hat. Und sehr hell. Die Decke füllt ein riesiges, kuppelförmiges Oberlicht aus. Auf dem Boden weiße Marmorfliesen. An den Wänden hellbeige Kacheln mit Seerosen- Motiven. Gleich zwei identische, sanft geschwungene Waschbecken mit kostbar verzierten Wasserhähnen. Darüber ovale Spiegel. Alles Jugendstil. In einer Nische ein Bidet. Wie schick!
Die Badewanne jedoch ist hochmodern. Luxus pur. Eine übergroße Eckwanne, etwas erhöht in den Boden eingelassen, daran anschließend ein Podest, auf dessen Marmor man es sich bequem machen kann wie auf der Bank eines Solariums. Denn wärmend und golden fallen sogar jetzt, an diesem rauen Herbsttag die Sonnenstrahlen von oben auf all diese Pracht.
"Das ist fantastisch!" Lena ringt nach Luft.
"So ... was du bisher gesehen hast, war der normale Wohn-und Nutzbereich", grinst Susi, "aber jetzt gehen wir einmal dort hinüber!"

Das ‚Zimmer‘, das sie jetzt betreten - Susi hatte es Lena damals im Laden komplett unterschlagen - ist eher eine kleine Halle von etwa FÜNFZIG Quadratmetern und hell, hell. Scheint von einem exzentrischen Bauherrn einst aus purer Lust und Tollerei auf das flache Dach gesetzt worden zu sein. Auch dieser Raum ist von einer luftigen Glaskuppel mit Metallstreben, einer wohlgeformten Kuppel im puren Jugendstil überspannt, durch die alles Tageslicht der Welt hereinströmt.
Lena taumelt fast vor Aufregung, vor aufkeimendem Neid - der Susi hoffentlich verborgen bleibt!

"Hast du ein Glück!" ruft sie ein ums andere Mal und kann ihr Aufgewühltsein kaum mehr verbergen. Ihre Stimme überschlägt sich, während sie in diesem wundervollen kleinen Saal herumblickt, der jetzt Ende Oktober von einer Helligkeit durchflutet ist, als sei draußen satter Hochsommer.

"Da muss das Amt mir aber ab und zu einen Fensterputzer genehmigen", wirft Susi munter ein, "ich müsste ja auf eine hohe Leiter steigen, um DIESE Flächen zu reinigen, ICH mit MEINER Bandscheibe!"

Der kuppelüberdachte Raum besteht auf einer Seite aus zwei deckenhohen, gläsernen Schiebetüren, die bis zum Fußboden reichen. Durch eine dieser Türen treten sie nun ins Freie und stehen auf einer DACHTERRASSE , von der man die herrlichste Aussicht nach drei Himmelsrichtungen genießt. Auch davon hatte das schlaue Geschöpf damals im Laden kein Wort erwähnt.
Lena regt sich so auf, dass sie fast umfällt. Fast umfällt vor Wut. Vor Neid. "Warum habe ich Idiotin mir die Wohnung nicht angesehen, damals!", denkt sie in ohnmächtigem Zorn.

"Hundertzwanzig Quadratmeter ist die Terrasse groß", jubelt Susi, "und nur von meiner Wohnung her erreichbar, wird also mir ganz allein gehören. Das habe ich schriftlich. Die anderen Mieter kommen hier nicht herauf, es sei denn, ich würde sie einladen!" aber die haben ja selbst ihre Balkone.

Vor dem brusthohen Sicherheitsgeländer schreitet Lena die drei offenen Seiten der Terrasse ab. Sie zittert. Löst sich nur langsam aus dem Dunst von Grimm und feuerroter Wut: „All das könnte ich jetzt täglich haben, wenn ...“

Der Panorama-Blick ist wunderbar. Traurig sieht Lena von oben auf die bizarren, malerischen Hausdächer mit Dutzenden von Winkeln, Erkern, romantischen, efeuumrankten Ecken dazwischen Kleine, von Menschen begrünte Oasen voller Blumenstöcke leuchten im roten und schwarzen Ziegelmeer. Hier ist man hoch über allem. Lenas Blick geht weit über die Straßenzüge der Stadt, umfasst die steil ragenden, vereinzelten Kirchtürme hie und da, wandert dann in die Ferne bis zu Wiesen, zum Fluss und weit hin zu den Wäldern. Eine Aussicht ... unsagbar frei und schön!

"Das ist einmalig. Dagegen ist meine Wohnung ein Scheißdreck", denkt Lena. "ICH könnte jetzt hier leben. Mir ist das alles angeboten worden ... MIR !" Ihr ist nach Heulen zumute.
"Das ist das Domizil, von dem ich immer geträumt habe", schluchzt etwas tief in ihrer Seele. Sie fühlt sich elend. Betrogen. Verraten.

Sie denkt:"Die Räumlichkeiten, von Grund auf renoviert, sind noch jungfräulich und rein. Man kann sie herrlich gestalten. Das wird natürlich nicht der Fall sein, wenn Susi nächste Woche mit all ihrem Krempel einzieht und sie verseucht", denkt Lena bitterböse.

"Natürlich haben sie das alles hier nicht meinetwegen so schön auf die Reihe gebracht", flötet Susi, "sondern das Haus gehört der Stadt und steht unter Denkmalschutz. Sie mussten es nach alten Plänen stilgetreu wiederherstellen. Unsummen haben sie da hinein gepumpt. Auch die übrigen Wohnungen sind prachtvoll. Aber diese hier toppt alles!"

"Ja, es ist wirklich wunderbar", sagt Lena, die vor Übelkeit jetzt wirklich fast umfällt.

"Das darf man keinem erzählen", wispert Susi, "dass eine Sozialhilfe-Empfängerin eine solche Bleibe bekommen hat. Und mit 350 DM ist sie billig. Obwohl ... meine Miete zahlt eh das Amt. Nur, zu einem hab ich mich verpflichten müssen: sie wollen nämlich, dass ich Tina zu mir nehme."
Tina ist Susis dreijährige Tochter, die bei der Oma lebt.
"Meine Mutter soll nämlich ins Krankenhaus ... die Herzklappe ... und da müssten sie das Kind in ein Heim stecken. Das würde den Staat eine Menge Geld kosten. Aber das mit Tina ist kein Problem, ich nehm sie ja gern", sagt Susi. "Platz ist genug und im Sommer haben wir auch die Dachterrasse ... Ach, liebe Lena, du musst mir ein bisschen beim Einrichten helfen, du hast einen so exquisiten Geschmack!", schleimt die Schlange ... "Irgendwie brauch ich da noch eine Kochstelle ..."

Lena fühlt sich gleich wieder gefordert: "Du brauchst eine Kochzeile mit einer Doppelspüle. Das Ganze kannst Du in der Nische dort hinter einer Schiebetür verstecken. Gleich daneben würde ich eine schicke Essecke einrichten. Zum Schlafen, zum Arbeiten und für die Sachen ist in den schrägen Kammern mehr als genug Platz. So brauchst du den Raum mit der Glaskuppel und dem Parkettfußboden nicht fürs ‚normale‘ Wohnen zu benutzen, sondern kannst etwas Herrliches daraus machen. Eine weitläufige Sitzhalle, ein exotisches, grünes Paradies!"

Beim Gedanken an all diese Möglichkeiten vergisst Lena für einen Augenblick ihre Trauer, ihre Wut. "Du solltest dir richtig große, hohe Pflanzen heranzüchten. Ich kann dir jede Menge Ableger geben. Bei dem Oberlicht hier wächst wahrscheinlich alles schnell bis zur Decke."

Warum biedert sie sich Susi an? Glaubt sie durch die Wiederbelebung dieser Freundschaft - die eigentlich nie wirklich eine war - zumindest als Besucherin ab und zu die Schönheit und den Komfort der Wohnung genießen zu dürfen!

"Viele Pflanzen ... meinst Du wirklich, Lena? Ach, das darf ich gar nicht publik machen, was für eine Wohnung ich hier habe. Bitte sag du es auch niemandem! Sonst werden die Spießer nur neidisch! Ach Lena, nach dem Umzug mach ich eine Party für meine liebsten Leute. Du kommst doch auch, oder? Du musst mich eh bei der Einrichtung beraten und so... juhu und dann geh ich Möbel kaufen!"
"An den Seiten des Kuppelraumes entlang würde ich nur ein paar edle, WEIßE Sitzelemente aufstellen", sprudelt Lena heraus, "und in die Ecke den Fernseher und die Musikanlage. Sonst nichts. Damit die Fläche weit und großzügig bleibt."
"Ja aber da wäre so schön viel Platz für viel Zeug!"

"Stopf diesen EINEN Raum bitte nicht mit irgendwelchem Kleinkram und Nippes voll!".
- Lena kennt Susis Vorliebe für Plastikpuppen, Dekoschrott und übergroße, gammelige Stofftiere, mit denen sie jeden freien Platz ihres Zimmers in der WG verziert hatte -

"Wo soll ich aber all die Blumentöpfe draufstellen", hakt Susi nach, "wenn ich doch in dem Raum keine Möbel... ?"
"Du stellst die Pflanzen direkt auf den Boden in großen, einfachen, schönen Gefäßen. Am besten auf Hydrokultur. Dann wachsen sie wie im Dschungel."
"Jawohl, Mama!" ruft Susi und grinst übers ganze Gesicht.

"Schau mal", sagt Lena später, "es sind Mulden in den Boden der Terrasse eingelassen, da kann man Erde einfüllen und sogar kleine Bäume pflanzen. Die haben wirklich an alles gedacht, damals vor hundert Jahren. Da draußen kann man schlafen, wohnen, Partys feiern .... so hoch liegt die Terrasse, dass es keine Einsicht durch irgendwelche Nachbarn gibt. "
Ach, Lenas Gedanken machen wilde Sprünge:
"Du und die Tina, ihr könnt praktisch den gesamten Sommer über hier draußen leben ... ein zusätzliches Wohnzimmer ... "

Mit der hellen Begeisterung bricht aber schon wieder Neid wie eine gelbe Woge über sie herein.
Das Schlafen im Sommer unter freiem Himmel ist ein ständiger, unerfüllbarer Traum von Lena, die in ihrer neuen Behausung nur einen 80 auf 80 cm großen Küchenbalkon hat.
‚Vielleicht könnte ja auch ich, von Susi eingeladen, ab und zu die Nacht hier draußen verbringen, direkt unter den Sternen!‘ Hoffnung keimt in ihr auf.
"Da hast du eine fantastische Wohnung", sagt sie und kann die Trauer in ihrer Stimme, ja die Tränen kaum mehr verbergen.

"Ich find sie auch lustig", plappert Susi, "obwohl ... immer die schmutzige Wäsche in den Keller schleppen und dann wieder die ganzen Treppen hoch, das ist nicht gerade das Gelbe vom Ei ..."

"Ist doch keineswegs der Rede wert, verglichen mit all dem Schönen."
"Okay", grinst Susi, "du hast Recht. Also, du kannst kommen und hier auf der Terrasse übernachten, so oft du willst. Wir können uns auch zusammen auf meinem Dachgarten sonnen, wenn du magst! Warte mal, bis ich erst eingerichtet bin. Wenn erst die große Party steigt." Susi lächelt zufrieden.

Aber Lena kriegt die Wohnung nicht mehr zu sehen. Schlimmer ... Susi kreuzt nie mehr bei ihr im Laden auf. Wo sie vorher doch fast jeden Tag da war! Die Pflanzenableger hat sie sich auch nicht abgeholt und bleibt verschollen. Lena ist traurig, gekränkt, ist wütend darüber, dass die andere sie ignoriert.
"Vielleicht hat Susi ja meinen Neid, meine Missgunst gespürt", überlegt sie. Und Lenas Neid und Missgunst werden immer stärker, wenn sie denkt, wie glücklich sie selbst mit dieser Wohnung geworden wäre.

Inzwischen vergehen sechs Wochen. Susi hat Lena noch immer zu KEINER Einweihungsparty geladen. Was ist nur los mit ihr?

Da muss Lena sich einfach Gewissheit verschaffen. Sie schleicht sich eines Abends nach Geschäftsschluss zur Jugendstil-Villa. Außen, neben dem Eingang zeigt das Klingelschildchen der Dachetage als einziges keine Aufschrift. Vielleicht wohnt Susi gar nicht hier, hat die Wohnung am Ende doch nicht bekommen ...Wishful thinking! Lenas Wangen röten sich. Schadenfreude!
Die Haustür ist nur angelehnt. Lena tritt in den Flur. Nun hat sie aber traurige Gewissheit: Susi ist mitnichten hinausgeworfen worden. Ihr Name prangt stolz an einem der Briefkästen. Das heißt: es gibt sie nach wie vor, sie ist nicht von der Bildfläche verschwunden, will nur von Lena nichts mehr wissen.

Lena hatte sich auf die Nächte unter dem Sternenhimmel wirklich gefreut, ja, aus irgend einem rätselhaften Grund hätte ihr sogar der Aufenthalt in Susis Wohnung unsagbar viel bedeutet. Jetzt ist sie elend. Bitterböse Gefühle brodeln wieder in ihr. Jedoch hinaufzugehen und mit Susi zu sprechen, das wäre der Gipfel der Peinlichkeit. Lena fühlt sich krank. Sie wankt nach Hause.

Nun ist es klar: Susi geht ihr absichtlich aus dem Weg. Einmal kommen sie sich ungewollt auf zwei verschiedenen Straßenseiten entgegen. Susi wendet den Kopf schnell geradeaus, vermeidet den Blick hinüber zu Lena, der schon das verkrampfte Begrüßungslächeln automatisch aufs Gesicht gesprungen ist.

Monate später treffen sie sich zufällig im Wartezimmer beim Zahnarzt. Da können sie nicht umhin, ein paar Worte miteinander zu wechseln. Gleich fragt Lena nach der Wohnung. Sie kann nicht an sich halten. Die Neugier ist zu stark. Aber Susi verliert kein einziges gutes Wort über ihre herrliche Bleibe. Rühmt weder die fantastischen Lichtverhältnisse, noch die Dachterrasse, noch hat sie sonst irgend etwas Positives zu melden.

"Stell dir vor, im Erdgeschoss, in dem Haus nebenan ist ... eine CHENMISCHE REINIGUNG“, jammert sie stattdessen. "Da steigen Dünste hoch ... ich kann dir sagen. Furchtbar. An manchen Tagen dringt ein solch widerlicher Gestank herauf ... also, das hält überhaupt niemand aus!"

Lena meint, - nein, sie ist sicher - dass das mit den Gerüchen eher unwahrscheinlich ist, denn Susis Wohnung liegt in luftiger Höhe, die chemische Reinigung aber im Erdgeschoss eines reichlich entfernt stehenden NACHBARHAUSES.

"Ich habe gegen die Besitzer Klage erhoben", sagt Susi, "und werde nicht eher Ruhe geben, bis sie hundertprozentige Filter eingebaut oder ihre Giftküche für immer geschlossen haben. Ich bin schließlich juristisch sehr gut gepolstert."

Von Tina redet Susi dann etwas später und ganz nebenbei. Ihre Tochter wohne nicht mehr bei ihr, sie sei krank geworden, kein Wunder, wo die Räume so belastet seien durch die Abgase von diesem impertinenten, italienischen Reinigungsfritzen.. Jetzt sei Tina wieder bei der Oma, die sich ja , Dank der neuen Herzklappe, gut berappelt hätte ... Bei der Oma sei die Kleine doch am besten aufgehoben.
"Das bedeutet aber nicht, dass ich nun keine ‚alleinerziehende Mutter‘ mehr bin, wie diese missgünstige Zicke, die Frau Müller – du kennst sie, sie kommt in deinen Laden - dem Amt gemeldet hat. Die ist ja nur auf die Kohle neidisch, die ich kriege", sagt Susi zornig, "und das Kind ist ja nun einmal meines, für das allein ich einzustehen habe. Und wer weiß denn, wie lang die Tina noch bei meiner Mutter bleibt ... ich kann sie doch nicht ständig hin- und her ummelden! "
Lena schüttelt irritiert den Kopf. Sie schweigt.

Susi, die heute wieder einmal ihr Herz auf der Zunge trägt, fängt jetzt auch noch prompt von dem Mann zu reden an, von dem die bösen Nachbarn behaupten, dass er bei ihr wohne, weil sein BMW Tag und Nacht vor ihrem Haus stehe.
„Da sieht man mal wieder die Gemeinheit der Leute“, sagt sie, „ die haben es doch fast geschafft, dass mir die Stütze gekürzt wird.
Also, egal, was die Neidsäcke labern ... Frank ist zwar oft bei mir, aber er ist nur ein guter Bekannter. Abends fährt er immer heim und schläft bei seiner Mutter. Er hat nach seiner Scheidung nur seine Klamotten, ein paar Bücher und den Computer bei mir untergebracht und ist noch nicht dazu gekommen, das Zeug wieder zurückzuholen. Aber gerade in der Zwischenzeit ist eine Tussi vom Amt dagewesen. Sie hat blöderweise auch seinen bescheuerten Rasierapparat und benutzte Wäsche von ihm in meinem Bad gefunden. Da hat sie gemeckert, dass wir wahrscheinlich in einem eheähnlichen Verhältnis oder so ... Dabei ist das eine rein platonische Sache mit dem Frank. Ein Paar sind wir schon gar nicht. Der Alten habe ich aber mal richtig die Meinung gegeigt. Ich bin schließlich krank und behindert und brauch das Geld. Die hat sich auch nie wieder gemeldet." Susi schiebt energisch das Kinn vor.

Ihr Monolog bricht prompt ab und rettet Lena vor einem Wutanfall, als die Zahnarzthelferin Susi in den Behandlungsraum ruft.

Danach vergehen Monate. Lena hört und sieht von Susi nichts mehr.

Dann, in jenem langen, höllisch heißen Sommer, geschieht es, dass die beiden sich wieder an einem späten Samstag Nachmittag in der Fußgängerzone zufällig über den Weg laufen. Susi, wie immer schön gestylt, leichtfüßig, Sonnenbrille hoch in den Haaransatz geschoben, schicke, neonpinke Beuteltasche am Arm, erklärt lässig, dass sie den ganzen Tag im Schwimmbad gewesen sei ..."Schade Lena, ich hab wenig Zeit, bin drüben im Ratskeller mit Freunden zum Abendessen verabredet. Aber laufen wir doch ein Stück miteinander!"

"Was macht deine Wohnung?" fragt Lena müde.
"Ach die Wohnung! Na ja, so toll wie du denkst, ist das alles auch nicht!"
"Auf alle Fälle bist du ziemlich gut dran. Ich kann nachts vor lauter Schwüle nicht schlafen! Eine Terrasse ist nicht das Schlechteste bei dieser Hundehitze“, seufzt Lena.
Susi schüttelt sich: "Wenn du nur wüsstest, wie unangenehm das dort manchmal wird ... All das Nachtgetier, die urggh ... Insekten ... Das macht echt keinen Spaß. Und mit diesen Schrott-Waschmaschinen im Keller kriegt man seine Sachen überhaupt nicht sauber, außerdem schlucken sie viel zu viele Münzen. Meinst du, die Stadt würde das endlich mal in Ordnung bringen? Da muss ich wieder Druck machen. Ich lass mir doch nicht alles gefallen!"

"Man soll eben um sein Recht kämpfen", sagt Lena sarkastisch.

Und sie denkt bitter daran, wie sie doch sechs Tage die Woche von morgens sieben bis abends halb sieben im brütend heißen Laden sitzt und Zeitungen verkauft, zu deren Lektüre sie selbst kaum kommt, weil bei ihr immer Betrieb ist. Wie sie geduldig auf jeden Rentner eingeht, der hier seinen Lottoschein ausfüllt und gern mit ihr ein kleines Schwätzchen hält. Wie sie sich das Getratsche der Hausfrauen aus der Nachbarschaft anhören muss, die bei ihr jeden Morgen die ‚Bild‘ kaufen und einmal in der Woche eine Fernsehillustrierte, arme Einsame, die danach stundenlang herumhocken und ihre häuslichen Probleme drastisch schildern. Und das Tag für Tag. Zum Ausgehen hat sie nach einer solchen Woche weder Lust noch Kraft. Um eine Reise zu machen, müsste sie den Laden schließen oder eine Vertretung engagieren. Doch das geht aus finanziellen Gründen nicht. Wieder hat in der Nähe ein neuer Kiosk aufgemacht. Immer mehr Konkurrenz. Und wozu die ganze Schufterei? Ein Monat ist schnell um und jeden neuen Ersten kommen Ladenmiete, Krankenversicherung, Telefon- und Stromrechnung auf sie zu. Dazu die Miete für ihre mickrige Wohnung. Da bleibt für Luxus nichts übrig. So vergeht Jahr um Jahr.

Susi, die Sonnenbraune, blickt aus dunkel-umschminkten Augen fröhlich in den Tag.
"Schau mal, Lena", sagt sie und lässt die Ältere einen kurzen Blick in eine Tragetüte werfen, die sie aus ihrer schicken Tasche zieht.
"Guck mal, hab ich mir eben gekauft. Escada!"
Etwas Pinkfarbenes, Wolkig-Duftiges, Seidenglänzendes sticht ins Auge. Abendkleid? Hausanzug? Lena will es gar nicht wissen.
"Steht mir gut, das Teil", sagt Susi, "ach, weißt du was ... setzen wir uns noch schnell hierher zum Italiener und trinken einen Espresso! Der Typ, mit dem ich mein Date hab, kann ruhig ein paar Minuten warten! Ich muss dir noch etwas Wichtiges erzählen. Ich hab da ein riesengroßes Problem am Hals. Die Leute vom Amt wollen nämlich wissen, woher das Geld stammt, mit dem ich meinen letzten Urlaub finanziert habe! Die sind derart penetrant!"
"Urlaub?"
Ja, ich bin doch vorigen Monat in Florida gewesen. Und jetzt hat mich irgend jemand verpfiffen. Die alte Hexe vom Amt hat mich eh schon die ganze Zeit auf dem Kieker, die hat also das bescheuerte Reisebüro ausfindig gemacht. Nun heißt es, ich hätt noch eine andere Geldquelle oder so was ... weißt du. Also, ich hab den Tussis gesagt, eine Freundin hätte mir die Kohle geborgt und ich müsste sie natürlich wieder ratenweise zurückzahlen.
"Könnte ja sein“, sagt Lena angewidert
Susi grinst schalkhaft. "Ich kenn keine, die behaupten könnte, sie hätte mir 2000 DM ... Die müsste dann wieder beweisen, woher sie ... und so weiter. Derart beschissen sind die inzwischen drauf bei den Ämtern. Total uncool. Immer nur am Überlegen, wie sie Leuten wie mir das Geld kürzen können ... wo sie sonst die Milliarden raushauen wie nix! Da hab ich gedacht, wo ich dich gerade treffe ... vielleicht würdest du für mich ...? aussagen, meine ich ... Es kostet dich ja keinen Pfennig. Sag einfach DU hättest mir das Geld geliehen. Lena. Ich wär dir ewig dank ..."

Da verspürt Lena einen Augenblick lang den wilden Drang, dem Weibsstück so richtig mitten ins Gesicht ...

Aber sie ist noch nie im Leben wirklich aus sich herausgegangen ... sie tut es auch jetzt nicht. Und auf einmal ist in ihr nur Leere. Sie schüttelt den Kopf, sagt kein Wort, trinkt ihren Kaffee mit einem bitteren Schluck zu Ende, legt zwei DM auf den Tisch und hastet wortlos davon.

„Wie bist du denn drauf?“, ruft ihr Susi verwundert nach ...


*







Copyright Irmgard Schöndorf Welch März 2003
 

Inu

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Susi und die Neiderin.

Lena trifft Susi in der Stadt.
Susi: braungebrannt, Haarmähne weißblond, die Beine in hochhackigen Sandaletten. Susi ist schick. Susi ist attraktiv, ein Blickfang, wie sie da zügig und elegant durch die Einkaufspassage eilt. Susi ist fünfundzwanzig Jahre alt.

Doch Susi ist krank. Sie leidet. Hat schwere Depressionen. Und ständig Rückenschmerzen. Susi kann nicht arbeiten. Sie lebt von Mutter Staat.

"Wie schön, dich zu sehen, Lena! Wir haben uns total aus den Augen verloren", ruft Susi. "Ich freu mich, ich freu mich! Aber du siehst müde aus!"

Lena weiß, dass sie müde aussieht. Sie ist zwanzig Jahre älter als Susi. Täglich entdeckt sie neue, graue Haare. Und Falten ... Lena eilt weniger beschwingt durchs Leben. Sie hat AUCH immer Rückenschmerzen.

"Ich wusste nicht, dass du noch in der Stadt bist", sagt Lena leise.
In Wirklichkeit hatte sie GEHOFFT , Susi sei endlich von der Bildfläche verschwunden. Susi ist ein Stachel in ihrem Fleisch.
"Ach ja, ich war eine Weile fort ... Urlaub ... weißt du!", sagt Susi lässig.
Lena blickt die andere neugierig an.
"Das dürfte ich eigentlich niemandem erzählen", flüstert Susi, "da will gleich jeder wissen, wo ich das Geld her hab. Also, Ferien wie diese gibt’s nicht noch einmal. Fantastisch! Ich war nämlich auf den Malediven und ... "

Da sieht sie plötzlich etwas Sezierendes in Lenas Augen. Lenas sehr kühler Blick stoppt Susis Begeisterungsausbruch sofort.
"Du ... der Flug - du wirst es nicht glauben - hat kaum was gekostet! Ein Sonderschnäppchen. Hatte ich aus dem Internet! Außerdem war es eigentlich kein wirklicher Urlaub, könnte ich mir ja gar nicht leisten ... nein, ich habe bei einer Familie gewohnt. Hab bei denen ausgeholfen, gearbeitet im Haushalt und so ... weißt du!"

Ärger und Widerwillen kriechen in Lenas Hirn, dass ihr fast schlecht wird und sie nur fort möchte. Doch ihre Neugier ist stark:
"Wohnst du eigentlich noch in der Mozartstraße?" fragt sie wie nebenbei.
"Ja, ja", sagt Susi.

Lena ist tief enttäuscht. Sie hatte heimlich gehofft, man habe diese Frau zu guter Letzt doch noch auf die Straße gesetzt. Denn Susi hat sich die Wohnung auf niederträchtige Weise unter den Nagel gerissen.
- Eine Wohnung, die eigentlich für mich bestimmt war - denkt Lena bitter. Seither ist dieses Weibsstück für sie ... nein, nicht gestorben, dafür ist die viel zu laut, zu auffällig, nein ... aber ihr Anblick reizt Lena, wie das berühmte rote Tuch den Stier. Lena hasst Susi. Nur in raren, von kühler Vernunft dominierten Momenten muss sie sich eingestehen: Susi ist nicht wirklich bösartig, nur eben SCHLAU. Ganz gleich: die Wunde, die Susi ihr geschlagen hat, schmerzt jedesmal aufs Neue, wenn sie sich begegnen. Dabei liegt die Angelegenheit über zwei Jahre zurück.

In dem kleinen Zeitungsladen, den sie auch heute noch betreibt, seufzt Lena eines Tages vor den Kunden: stressig sei es, täglich die dreißig Kilometer zur Arbeit und wieder heim zu fahren. Sie wohnte damals weit draußen auf dem Land. Dass sie eigentlich lieber in die Nähe ihres Geschäftes ziehen wolle, sagt sie.

"Da habe ich ein ideales Angebot", lächelt ein etwa sechzigjähriger Herr, der bei Lena regelmäßig seine Zeitung und Zigaretten kauft. "Die Stadt hat hier im Viertel ein altes Jugendstilhaus übernommen und lässt es gerade renovieren. Für drei Stockwerke stehen die Mieter schon fest. Aber da ist noch das vierte, das Dachgeschoss. Wir tun uns schwer damit, denn es entspricht nicht der Norm, weil die Küche fehlt. Es gibt da nämlich ein Gesetz, das genau bestimmt, wann ein Projekt als Wohnraum vermietet werden darf und wann nicht. Also dieses dürfen wir nicht an eine Familie vermieten, höchstens an jemanden, der es für gewerbliche Zwecke nutzt. Sie könnten dort ihre Zeitschriften und Zigarettenvorräte lagern ... pro forma natürlich, nur um dem Gesetz zu genügen. Sie sehen: eine etwas außergewöhnliche Wohnung. Wirklich, diese Dachetage ist im höchsten Grad ... unkonventionell!"

"Trotzdem ... eine Küche würde ich doch ganz gern haben!" meint Lena .

"Also Wasseranschluss ist natürlich da ... nur Starkstromherd, Waschmaschine, Trockner, Geschirrspüler, all das kann nicht angeschlossen werden, die elektrischen Leitungen dort oben sind zu schwach. Für zwei Kochplatten aber reicht die Kapazität. Und es wird im Keller Münz-Automaten für die Wäsche geben. Das alte Gemäuer hat immerhin über hundert Jahre auf dem Buckel, da kann man nicht ALLES verlangen", sagt der Mann mit seinem seltsamen Lächeln, "aber glauben Sie mir, die Wohnung besitzt auch einige verborgene Vorzüge. Hier ist meine Karte. Ich schreibe Ihnen jetzt noch die Adresse von dem Projekt dazu. Dann können sie hingehen und sich selbst ein Bild machen. Die Handwerker arbeiten jeden Tag dort. Die Räumlichkeiten sind also zugänglich. Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt und rufen Sie mich gleich an und geben mir Bescheid, ob sie interessiert sind."

Lena ist überrascht. Der unauffällige Kunde, mit dem sie nur manchmal ein paar Worte gewechselt hat, entpuppt sich jetzt als Baudezernent der Stadt. So steht es auf der Karte.

"Die Wohnung scheint mir wie für SIE geschaffen!", sagt der Mann, als er seine Zeitungen bezahlt.
Soll das ein Kompliment sein? Doch eher das Gegenteil! Eine Dachgeschoss-Angelegenheit im vierten Stock mit schrägen Wänden und schwachen elektrischen Leitungen, die kein Gerät aushalten, eine fehlende Küche und er meint, dafür sei sie die ideale Mieterin.
"Danke sehr, ich werde es mir überlegen", sagt Lena freundlich.
"Warten sie nicht zu lange, ich muss nämlich nächste Woche für eine Weile verreisen."

Gerade als er dabei ist, zur offenstehenden Tür hinauszugehen, kommt Susi in den Laden gewirbelt.
"Heh, heh, hab ich da was von Wohnung gehört?", ruft sie. "Das interessiert mich aber! Ich will doch lang schon raus aus dieser komischen WG ... bin die ganze Zeit auf der Suche. Wo ist denn dieses Haus?"

Niemand antwortet.

"Ich könnte mir die Sache ja unverbindlich anschauen und dir dann morgen berichten, ruft Susi enthusiastisch. Lena, du hast natürlich den Vortritt und nur, wenn du nicht interessiert bist ..."
"Okay", sagt Lena, "geh ruhig hin." Sie gibt Susi die Visitenkarte des Dezernenten mit der Adresse des Gebäudes.

"Eigentlich hat der Herr die Wohnung ja Ihnen offeriert, Lena", mischt sich eine Kundin ein.

"Na ja, ich schaue sie ja nur FÜR meine Freundin an ... das darf ich doch!", kontert Susi launisch, "wir haben schließlich fast den gleichen Geschmack!"

Am nächsten Tag fragt Lena: "Bist du in der Wohnung gewesen?"
"Nee", antwortet Susi, "noch nicht, aber vielleicht morgen!"
Zwei Tage später zuckt Susi mit den Schultern: "Verdammt, ich hab's noch immer nicht geschafft."
Am nächsten Tag erscheint sie dann mit heruntergezogenen Mundwinkeln im Laden:
"Das ist vielleicht eine Bruchbude ... ein Dachjuchhe im fünften Stock ... wahnsinnige Treppen, natürlich kein Fahrstuhl ... da ist man ja schon fertig, wenn man oben ankommt und alles ... mini ... mini, drei, vier winzige Kabäuschen ... also wirklich ... und die reinste Baustelle! Sieht nicht aus, als ob das jemals was würde."

Lena, die nach Überdenken, Überschlafen und nun auch nach Susis negativer Beschreibung keineswegs wild auf dieses Appartement ist, kümmert sich nicht weiter, vergisst die Sache.

Da bietet ihr jemand schon vier Tage später eine andere Wohnung an. Im ersten Stock eines Mietshauses. Eine Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Angelegenheit, weder groß noch klein, weder schön noch hässlich. Standard eben. Aber sofort bezugsfähig. Außerdem ist sie nur einen Steinwurf vom Laden entfernt. Lena fackelt nicht lange, macht alles mit dem Eigentümer klar und zieht ein.

Von Susi hört und sieht sie eine Weile nichts. Eines Samstag Morgens taucht sie wieder im Laden auf.
"Halt dich fest, meine Liebe", jubelt Susi. "Erinnerst du dich an diese Dachgeschoss-Sache da ...? Also, ich KRIEGE die Wohnung. Herr Vanderweide ( das ist der bewusste Baudezernent ) war sehr von mir angetan und hat bei der Stadt ein gutes Wort für mich eingelegt. Hab den Mietvertrag schon in der Tasche. Juhu ... Es ist unglaublich. Lena, geh nachher mal mit! Das musst du sehen. Was die daraus gemacht haben - man sollte es nicht für möglich halten!"

Lena geht nach Ladenschluss mit. Nur drei Minuten Fußmarsch und sie sind da!
Das Haus steht auf einer Anhöhe am Rand des Heine-Parks. Es ist eine schöne, einst hochherrschaftliche Villa, und wie Lena ja schon weiß, ganz im Jugendstil gebaut. Die Dachwohnung, um die es geht, liegt im vierten Stock. Die Treppen sind breit und bequem. Sie würden sogar für siebzigjährige Rentner noch zu bewältigen sein. Und die Zimmer? Es sind tatsächlich niedrige, mit weißer Rauhfaser tapezierte Kämmerchen mit schrägen Wänden, wie Susi erwähnt hatte. Allerdings mit geräumigen Aussparungen, die weit unters verkleidete Dachgebälk reichen, wo man durch Einbau von Regalen eine Menge Stauraum zum Aufbewahren von Sachen schaffen könnte. Platz für eine Schreib- und Arbeitsecke und genug Nischen für Futonbetten oder Liegen sind auch vorhanden.
Doch zugegeben, diese Räumlichkeiten sind eher bescheiden.

"Komm", sagt Susi, "jetzt zeig ich dir was ziemlich Tolles!"
Das ‚ziemlich Tolle‘ ist das Badezimmer. Lena kann nur laut schreien. Vor Staunen. Denn es ist mindestens dreimal so groß, wie die Bäder, die man heute in normalen Wohnungen hat. Und sehr hell. Die Decke füllt ein riesiges, kuppelförmiges Oberlicht aus. Auf dem Boden weiße Marmorfliesen. An den Wänden hellbeige Kacheln mit Seerosen- Motiven. Gleich zwei identische, sanft geschwungene Waschbecken mit kostbar verzierten Wasserhähnen. Darüber ovale Spiegel. Alles Jugendstil. In einer Nische ein Bidet. Wie schick!
Die Badewanne jedoch ist hochmodern. Luxus pur. Eine übergroße Eckwanne, etwas erhöht in den Boden eingelassen, daran anschließend ein Podest, auf dessen Marmor man es sich bequem machen kann wie auf der Bank eines Solariums. Denn wärmend und golden fallen sogar jetzt, an diesem rauen Herbsttag die Sonnenstrahlen von oben auf all diese Pracht.
"Das ist fantastisch!" Lena ringt nach Luft.
"So ... was du bisher gesehen hast, war der normale Wohn-und Nutzbereich", grinst Susi, "aber jetzt gehen wir einmal dort hinüber!"

Das ‚Zimmer‘, das sie jetzt betreten - Susi hatte es Lena damals im Laden komplett unterschlagen - ist eher eine kleine Halle von etwa FÜNFZIG Quadratmetern und hell, hell. Scheint von einem exzentrischen Bauherrn einst aus purer Lust und Tollerei auf das flache Dach gesetzt worden zu sein. Auch dieser Raum ist von einer luftigen Glaskuppel mit Metallstreben, einer wohlgeformten Kuppel im puren Jugendstil überspannt, durch die alles Tageslicht der Welt hereinströmt.
Lena taumelt fast vor Aufregung, vor aufkeimendem Neid - der Susi hoffentlich verborgen bleibt!

"Hast du ein Glück!" ruft sie ein ums andere Mal und kann ihr Aufgewühltsein kaum mehr verbergen. Ihre Stimme überschlägt sich, während sie in diesem wundervollen kleinen Saal herumblickt, der jetzt Ende Oktober von einer Helligkeit durchflutet ist, als sei draußen satter Hochsommer.

"Da muss das Amt mir aber ab und zu einen Fensterputzer genehmigen", wirft Susi munter ein, "ich müsste ja auf eine hohe Leiter steigen, um DIESE Flächen zu reinigen, ICH mit MEINER Bandscheibe!"

Der kuppelüberdachte Raum besteht auf einer Seite aus zwei deckenhohen, gläsernen Schiebetüren, die bis zum Fußboden reichen. Durch eine dieser Türen treten sie nun ins Freie und stehen auf einer DACHTERRASSE , von der man die herrlichste Aussicht nach drei Himmelsrichtungen genießt. Auch davon hatte das schlaue Geschöpf damals im Laden kein Wort erwähnt.
Lena regt sich so auf, dass sie fast umfällt. Fast umfällt vor Wut. Vor Neid. "Warum habe ich Idiotin mir die Wohnung nicht angesehen, damals!", denkt sie in ohnmächtigem Zorn.

"Hundertzwanzig Quadratmeter ist die Terrasse groß", jubelt Susi, "und nur von meiner Wohnung her erreichbar, wird also mir ganz allein gehören. Das habe ich schriftlich. Die anderen Mieter kommen hier nicht herauf, es sei denn, ich würde sie einladen!" aber die haben ja selbst ihre Balkone.

Vor dem brusthohen Sicherheitsgeländer schreitet Lena die drei offenen Seiten der Terrasse ab. Sie zittert. Löst sich nur langsam aus dem Dunst von Grimm und feuerroter Wut: „All das könnte ich jetzt täglich haben, wenn ...“

Der Panorama-Blick ist wunderbar. Traurig sieht Lena von oben auf die bizarren, malerischen Hausdächer mit Dutzenden von Winkeln, Erkern, romantischen, efeuumrankten Ecken dazwischen Kleine, von Menschen begrünte Oasen voller Blumenstöcke leuchten im roten und schwarzen Ziegelmeer. Hier ist man hoch über allem. Lenas Blick geht weit über die Straßenzüge der Stadt, umfasst die steil ragenden, vereinzelten Kirchtürme hie und da, wandert dann in die Ferne bis zu Wiesen, zum Fluss und weit hin zu den Wäldern. Eine Aussicht ... unsagbar frei und schön!

"Das ist einmalig. Dagegen ist meine Wohnung ein Scheißdreck", denkt Lena. "ICH könnte jetzt hier leben. Mir ist das alles angeboten worden ... MIR !" Ihr ist nach Heulen zumute.
"Das ist das Domizil, von dem ich immer geträumt habe", schluchzt etwas tief in ihrer Seele. Sie fühlt sich elend. Betrogen. Verraten.

Sie denkt:"Die Räumlichkeiten, von Grund auf renoviert, sind noch jungfräulich und rein. Man kann sie herrlich gestalten. Das wird natürlich nicht der Fall sein, wenn Susi nächste Woche mit all ihrem Krempel einzieht und sie verseucht", denkt Lena bitterböse.

"Natürlich haben sie das alles hier nicht meinetwegen so schön auf die Reihe gebracht", flötet Susi, "sondern das Haus gehört der Stadt und steht unter Denkmalschutz. Sie mussten es nach alten Plänen stilgetreu wiederherstellen. Unsummen haben sie da hinein gepumpt. Auch die übrigen Wohnungen sind prachtvoll. Aber diese hier toppt alles!"

"Ja, es ist wirklich wunderbar", sagt Lena, die vor Übelkeit jetzt wirklich fast umfällt.

"Das darf man keinem erzählen", wispert Susi, "dass eine Sozialhilfe-Empfängerin eine solche Bleibe bekommen hat. Und mit 350 DM ist sie billig. Obwohl ... meine Miete zahlt eh das Amt. Nur, zu einem hab ich mich verpflichten müssen: sie wollen nämlich, dass ich Tina zu mir nehme."
Tina ist Susis dreijährige Tochter, die bei der Oma lebt.
"Meine Mutter soll nämlich ins Krankenhaus ... die Herzklappe ... und da müssten sie das Kind in ein Heim stecken. Das würde den Staat eine Menge Geld kosten. Aber das mit Tina ist kein Problem, ich nehm sie ja gern", sagt Susi. "Platz ist genug und im Sommer haben wir auch die Dachterrasse ... Ach, liebe Lena, du musst mir ein bisschen beim Einrichten helfen, du hast einen so exquisiten Geschmack!", schleimt die Schlange ... "Irgendwie brauch ich da noch eine Kochstelle ..."

Lena fühlt sich gleich wieder gefordert: "Du brauchst eine Kochzeile mit einer Doppelspüle. Das Ganze kannst Du in der Nische dort hinter einer Schiebetür verstecken. Gleich daneben würde ich eine schicke Essecke einrichten. Zum Schlafen, zum Arbeiten und für die Sachen ist in den schrägen Kammern mehr als genug Platz. So brauchst du den Raum mit der Glaskuppel und dem Parkettfußboden nicht fürs ‚normale‘ Wohnen zu benutzen, sondern kannst etwas Herrliches daraus machen. Eine weitläufige Sitzhalle, ein exotisches, grünes Paradies!"

Beim Gedanken an all diese Möglichkeiten vergisst Lena für einen Augenblick ihre Trauer, ihre Wut. "Du solltest dir richtig große, hohe Pflanzen heranzüchten. Ich kann dir jede Menge Ableger geben. Bei dem Oberlicht hier wächst wahrscheinlich alles schnell bis zur Decke."

Warum biedert sie sich Susi an? Glaubt sie durch die Wiederbelebung dieser Freundschaft - die eigentlich nie wirklich eine war - zumindest als Besucherin ab und zu die Schönheit und den Komfort der Wohnung genießen zu dürfen!

"Viele Pflanzen ... meinst Du wirklich, Lena? Ach, das darf ich gar nicht publik machen, was für eine Wohnung ich hier habe. Bitte sag du es auch niemandem! Sonst werden die Spießer nur neidisch! Ach Lena, nach dem Umzug mach ich eine Party für meine liebsten Leute. Du kommst doch auch, oder? Du musst mich eh bei der Einrichtung beraten und so... juhu und dann geh ich Möbel kaufen!"
"An den Seiten des Kuppelraumes entlang würde ich nur ein paar edle, WEIßE Sitzelemente aufstellen", sprudelt Lena heraus, "und in die Ecke den Fernseher und die Musikanlage. Sonst nichts. Damit die Fläche weit und großzügig bleibt."
"Ja aber da wäre so schön viel Platz für viel Zeug!"

"Stopf diesen EINEN Raum bitte nicht mit irgendwelchem Kleinkram und Nippes voll!".
- Lena kennt Susis Vorliebe für Plastikpuppen, Dekoschrott und übergroße, gammelige Stofftiere, mit denen sie jeden freien Platz ihres Zimmers in der WG verziert hatte -

"Wo soll ich aber all die Blumentöpfe draufstellen", hakt Susi nach, "wenn ich doch in dem Raum keine Möbel... ?"
"Du stellst die Pflanzen direkt auf den Boden in großen, einfachen, schönen Gefäßen. Am besten auf Hydrokultur. Dann wachsen sie wie im Dschungel."
"Jawohl, Mama!" ruft Susi und grinst übers ganze Gesicht.

"Schau mal", sagt Lena später, "es sind Mulden in den Boden der Terrasse eingelassen, da kann man Erde einfüllen und sogar kleine Bäume pflanzen. Die haben wirklich an alles gedacht, damals vor hundert Jahren. Da draußen kann man schlafen, wohnen, Partys feiern .... so hoch liegt die Terrasse, dass es keine Einsicht durch irgendwelche Nachbarn gibt. "
Ach, Lenas Gedanken machen wilde Sprünge:
"Du und die Tina, ihr könnt praktisch den gesamten Sommer über hier draußen leben ... ein zusätzliches Wohnzimmer ... "

Mit der hellen Begeisterung bricht aber schon wieder Neid wie eine gelbe Woge über sie herein.
Das Schlafen im Sommer unter freiem Himmel ist ein ständiger, unerfüllbarer Traum von Lena, die in ihrer neuen Behausung nur einen 80 auf 80 cm großen Küchenbalkon hat.
‚Vielleicht könnte ja auch ich, von Susi eingeladen, ab und zu die Nacht hier draußen verbringen, direkt unter den Sternen!‘ Hoffnung keimt in ihr auf.
"Da hast du eine fantastische Wohnung", sagt sie und kann die Trauer in ihrer Stimme, ja die Tränen kaum mehr verbergen.

"Ich find sie auch lustig", plappert Susi, "obwohl ... immer die schmutzige Wäsche in den Keller schleppen und dann wieder die ganzen Treppen hoch, das ist nicht gerade das Gelbe vom Ei ..."

"Ist doch keineswegs der Rede wert, verglichen mit all dem Schönen."
"Okay", grinst Susi, "du hast Recht. Also, du kannst kommen und hier auf der Terrasse übernachten, so oft du willst. Wir können uns auch zusammen auf meinem Dachgarten sonnen, wenn du magst! Warte mal, bis ich erst eingerichtet bin. Wenn erst die große Party steigt." Susi lächelt zufrieden.

Aber Lena kriegt die Wohnung nicht mehr zu sehen. Schlimmer ... Susi kreuzt nie mehr bei ihr im Laden auf. Wo sie vorher doch fast jeden Tag da war! Die Pflanzenableger hat sie sich auch nicht abgeholt und bleibt verschollen. Lena ist traurig, gekränkt, ist wütend darüber, dass die andere sie ignoriert.
"Vielleicht hat Susi ja meinen Neid, meine Missgunst gespürt", überlegt sie. Und Lenas Neid und Missgunst werden immer stärker, wenn sie denkt, wie glücklich sie selbst mit dieser Wohnung geworden wäre.

Inzwischen vergehen sechs Wochen. Susi hat Lena noch immer zu KEINER Einweihungsparty geladen. Was ist nur los mit ihr?

Da muss Lena sich einfach Gewissheit verschaffen. Sie schleicht sich eines Abends nach Geschäftsschluss zur Jugendstil-Villa. Außen, neben dem Eingang zeigt das Klingelschildchen der Dachetage als einziges keine Aufschrift. Vielleicht wohnt Susi gar nicht hier, hat die Wohnung am Ende doch nicht bekommen ...Wishful thinking! Lenas Wangen röten sich. Schadenfreude!
Die Haustür ist nur angelehnt. Lena tritt in den Flur. Nun hat sie aber traurige Gewissheit: Susi ist mitnichten hinausgeworfen worden. Ihr Name prangt stolz an einem der Briefkästen. Das heißt: es gibt sie nach wie vor, sie ist nicht von der Bildfläche verschwunden, will nur von Lena nichts mehr wissen.

Lena hatte sich auf die Nächte unter dem Sternenhimmel wirklich gefreut, ja, aus irgend einem rätselhaften Grund hätte ihr sogar der Aufenthalt in Susis Wohnung unsagbar viel bedeutet. Jetzt ist sie elend. Bitterböse Gefühle brodeln wieder in ihr. Jedoch hinaufzugehen und mit Susi zu sprechen, das wäre der Gipfel der Peinlichkeit. Lena fühlt sich krank. Sie wankt nach Hause.

Nun ist es klar: Susi geht ihr absichtlich aus dem Weg. Einmal kommen sie sich ungewollt auf zwei verschiedenen Straßenseiten entgegen. Susi wendet den Kopf schnell geradeaus, vermeidet den Blick hinüber zu Lena, der schon das verkrampfte Begrüßungslächeln automatisch aufs Gesicht gesprungen ist.

Monate später treffen sie sich zufällig im Wartezimmer beim Zahnarzt. Da können sie nicht umhin, ein paar Worte miteinander zu wechseln. Gleich fragt Lena nach der Wohnung. Sie kann nicht an sich halten. Die Neugier ist zu stark. Aber Susi verliert kein einziges gutes Wort über ihre herrliche Bleibe. Rühmt weder die fantastischen Lichtverhältnisse, noch die Dachterrasse, noch hat sie sonst irgend etwas Positives zu melden.

"Stell dir vor, im Erdgeschoss, in dem Haus nebenan ist ... eine CHENMISCHE REINIGUNG“, jammert sie stattdessen. "Da steigen Dünste hoch ... ich kann dir sagen. Furchtbar. An manchen Tagen dringt ein solch widerlicher Gestank herauf ... also, das hält überhaupt niemand aus!"

Lena meint, - nein, sie ist sicher - dass das mit den Gerüchen eher unwahrscheinlich ist, denn Susis Wohnung liegt in luftiger Höhe, die chemische Reinigung aber im Erdgeschoss eines reichlich entfernt stehenden NACHBARHAUSES.

"Ich habe gegen die Besitzer Klage erhoben", sagt Susi, "und werde nicht eher Ruhe geben, bis sie hundertprozentige Filter eingebaut oder ihre Giftküche für immer geschlossen haben. Ich bin schließlich juristisch sehr gut gepolstert."

Von Tina redet Susi dann etwas später und ganz nebenbei. Ihre Tochter wohne nicht mehr bei ihr, sie sei krank geworden, kein Wunder, wo die Räume so belastet seien durch die Abgase von diesem impertinenten, italienischen Reinigungsfritzen.. Jetzt sei Tina wieder bei der Oma, die sich ja , Dank der neuen Herzklappe, gut berappelt hätte ... Bei der Oma sei die Kleine doch am besten aufgehoben.
"Das bedeutet aber nicht, dass ich nun keine ‚alleinerziehende Mutter‘ mehr bin, wie diese missgünstige Zicke, die Frau Müller – du kennst sie, sie kommt in deinen Laden - dem Amt gemeldet hat. Die ist ja nur auf die Kohle neidisch, die ich kriege", sagt Susi zornig, "und das Kind ist ja nun einmal meines, für das allein ich einzustehen habe. Und wer weiß denn, wie lang die Tina noch bei meiner Mutter bleibt ... ich kann sie doch nicht ständig hin- und her ummelden! "
Lena schüttelt irritiert den Kopf. Sie schweigt.

Susi, die heute wieder einmal ihr Herz auf der Zunge trägt, fängt jetzt auch noch prompt von dem Mann zu reden an, von dem die bösen Nachbarn behaupten, dass er bei ihr wohne, weil sein BMW Tag und Nacht vor ihrem Haus stehe.
„Da sieht man mal wieder die Gemeinheit der Leute“, sagt sie, „ die haben es doch fast geschafft, dass mir die Stütze gekürzt wird.
Also, egal, was die Neidsäcke labern ... Frank ist zwar oft bei mir, aber er ist nur ein guter Bekannter. Abends fährt er immer heim und schläft bei seiner Mutter. Er hat nach seiner Scheidung nur seine Klamotten, ein paar Bücher und den Computer bei mir untergebracht und ist noch nicht dazu gekommen, das Zeug wieder zurückzuholen. Aber gerade in der Zwischenzeit ist eine Tussi vom Amt dagewesen. Sie hat blöderweise auch seinen bescheuerten Rasierapparat und benutzte Wäsche von ihm in meinem Bad gefunden. Da hat sie gemeckert, dass wir wahrscheinlich in einem eheähnlichen Verhältnis oder so ... Dabei ist das eine rein platonische Sache mit dem Frank. Ein Paar sind wir schon gar nicht. Der Alten habe ich aber mal richtig die Meinung gegeigt. Ich bin schließlich krank und behindert und brauch das Geld. Die hat sich auch nie wieder gemeldet." Susi schiebt energisch das Kinn vor.

Ihr Monolog bricht prompt ab und rettet Lena vor einem Wutanfall, als die Zahnarzthelferin Susi in den Behandlungsraum ruft.

Danach vergehen Monate. Lena hört und sieht von Susi nichts mehr.

Dann, in jenem langen, höllisch heißen Sommer, geschieht es, dass die beiden sich wieder an einem späten Samstag Nachmittag in der Fußgängerzone zufällig über den Weg laufen. Susi, wie immer schön gestylt, leichtfüßig, Sonnenbrille hoch in den Haaransatz geschoben, schicke, neonpinke Beuteltasche am Arm, erklärt lässig, dass sie den ganzen Tag im Schwimmbad gewesen sei ..."Schade Lena, ich hab wenig Zeit, bin drüben im Ratskeller mit Freunden zum Abendessen verabredet. Aber laufen wir doch ein Stück miteinander!"

"Was macht deine Wohnung?" fragt Lena müde.
"Ach die Wohnung! Na ja, so toll wie du denkst, ist das alles auch nicht!"
"Auf alle Fälle bist du ziemlich gut dran. Ich kann nachts vor lauter Schwüle nicht schlafen! Eine Terrasse ist nicht das Schlechteste bei dieser Hundehitze“, seufzt Lena.
Susi schüttelt sich: "Wenn du nur wüsstest, wie unangenehm das dort manchmal wird ... All das Nachtgetier, die urggh ... Insekten ... Das macht echt keinen Spaß. Und mit diesen Schrott-Waschmaschinen im Keller kriegt man seine Sachen überhaupt nicht sauber, außerdem schlucken sie viel zu viele Münzen. Meinst du, die Stadt würde das endlich mal in Ordnung bringen? Da muss ich wieder Druck machen. Ich lass mir doch nicht alles gefallen!"

"Man soll eben um sein Recht kämpfen", sagt Lena sarkastisch.

Und sie denkt bitter daran, wie sie doch sechs Tage die Woche von morgens sieben bis abends halb sieben im brütend heißen Laden sitzt und Zeitungen verkauft, zu deren Lektüre sie selbst kaum kommt, weil bei ihr immer Betrieb ist. Wie sie geduldig auf jeden Rentner eingeht, der hier seinen Lottoschein ausfüllt und gern mit ihr ein kleines Schwätzchen hält. Wie sie sich das Getratsche der Hausfrauen aus der Nachbarschaft anhören muss, die bei ihr jeden Morgen die ‚Bild‘ kaufen und einmal in der Woche eine Fernsehillustrierte, arme Einsame, die danach stundenlang herumhocken und ihre häuslichen Probleme drastisch schildern. Und das Tag für Tag. Zum Ausgehen hat sie nach einer solchen Woche weder Lust noch Kraft. Um eine Reise zu machen, müsste sie den Laden schließen oder eine Vertretung engagieren. Doch das geht aus finanziellen Gründen nicht. Wieder hat in der Nähe ein neuer Kiosk aufgemacht. Immer mehr Konkurrenz. Und wozu die ganze Schufterei? Ein Monat ist schnell um und jeden neuen Ersten kommen Ladenmiete, Krankenversicherung, Telefon- und Stromrechnung auf sie zu. Dazu die Miete für ihre mickrige Wohnung. Da bleibt für Luxus nichts übrig. So vergeht Jahr um Jahr.

Susi, die Sonnenbraune, blickt aus dunkel-umschminkten Augen fröhlich in den Tag.
"Schau mal, Lena", sagt sie und lässt die Ältere einen kurzen Blick in eine Tragetüte werfen, die sie aus ihrer schicken Tasche zieht.
"Guck mal, hab ich mir eben gekauft. Escada!"
Etwas Pinkfarbenes, Wolkig-Duftiges, Seidenglänzendes sticht ins Auge. Abendkleid? Hausanzug? Lena will es gar nicht wissen.
"Steht mir gut, das Teil", sagt Susi, "ach, weißt du was ... setzen wir uns noch schnell hierher zum Italiener und trinken einen Espresso! Der Typ, mit dem ich mein Date hab, kann ruhig ein paar Minuten warten! Ich muss dir noch etwas Wichtiges erzählen. Ich hab da ein riesengroßes Problem am Hals. Die Leute vom Amt wollen nämlich wissen, woher das Geld stammt, mit dem ich meinen letzten Urlaub finanziert habe! Die sind derart penetrant!"
"Urlaub?"
Ja, ich bin doch vorigen Monat in Florida gewesen. Und jetzt hat mich irgend jemand verpfiffen. Die alte Hexe vom Amt hat mich eh schon die ganze Zeit auf dem Kieker, die hat also das bescheuerte Reisebüro ausfindig gemacht. Nun heißt es, ich hätt noch eine andere Geldquelle oder so was ... weißt du. Also, ich hab den Tussis gesagt, eine Freundin hätte mir die Kohle geborgt und ich müsste sie natürlich wieder ratenweise zurückzahlen.
"Könnte ja sein“, sagt Lena angewidert
Susi grinst schalkhaft. "Ich kenn keine, die behaupten könnte, sie hätte mir 2000 DM ... Die müsste dann wieder beweisen, woher sie ... und so weiter. Derart beschissen sind die inzwischen drauf bei den Ämtern. Total uncool. Immer nur am Überlegen, wie sie Leuten wie mir das Geld kürzen können ... wo sie sonst die Milliarden raushauen wie nix! Da hab ich gedacht, wo ich dich gerade treffe ... vielleicht würdest du für mich ...? aussagen, meine ich ... Es kostet dich ja keinen Pfennig. Sag einfach DU hättest mir das Geld geliehen. Lena. Ich wär dir ewig dank ..."

Da verspürt Lena einen Augenblick lang den wilden Drang, dem Weibsstück so richtig mitten ins Gesicht ...

Aber sie ist noch nie im Leben wirklich aus sich herausgegangen ... sie tut es auch jetzt nicht. Und auf einmal ist in ihr nur Leere. Sie schüttelt den Kopf, sagt kein Wort, trinkt ihren Kaffee mit einem bitteren Schluck zu Ende, legt zwei DM auf den Tisch und hastet wortlos davon.

„Wie bist du denn drauf?“, hört sie Susi noch rufen ...

*







Copyright Irmgard Schöndorf Welch März 2003
 



 
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