Suzannes Diät

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Nina Trebesi

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Warum Suzanne sich ausgerechnet in Thierry verliebt hatte? Er war ganz einfach durch und durch ihr Typ: schlaksig, flapsig, jungenhaft, nonchalant.
Nun war aber Suzanne ganz und gar nicht sein Typ: er stand auf dürre, melancholische, schwarzhaarige Frauen, die an langen Zigaretten saugten, dabei schweigend vor sich hinstarrten und experimentelles Theater spielten, genau wie er.
Nicht auf rundliche Energiebündel mit gesunden roten Wangen und ununterbrochenem Redefluss.
Und doch gefiel ihm diese Wärme, die Suzanne ausstrahlte. Noch nie hatte sich jemand so für Thierry engagiert, ihn auf der Bühne bewundert, ihn gelobt und angehimmelt. Thierry dankte es Suzanne, indem er ihre Annäherungsversuche ignorierte und sich rar machte.
Wenn sie sich irgendwo begegneten, dann war aus Thierry nicht mehr herauszulocken, als ein paar coole Scherze.
Suzanne lachte über Thierrys Späße und versuchte, sich die steigende Verzweiflung über ihre unerwiderte und zugleich stetig wachsende Liebe nicht anmerken zu lassen.

Als die Schauspieler gegen die drohenden Subventionskürzungen demonstrierten, malte sie das größte Plakat und schrie am lautesten. Sie schaffte es, sich immer an Thierrys Seite zu drängen. „Willkommen im Club der bedrohten Schauspieler, armen Schlucker und Hungerkünstler“, sagte dieser lässig mit eindringlichem Blick auf ihre runden Hüften, die sie doch mit dem schilfgrünen Leinenkleid so geschickt verhüllte. Ein Kleid, das viel zu elegant war für diese Versammlung in ihrer Existenz bedrohten Bohemiens.
Auch anschließend in der Kneipe saß Suzanne neben Thierry und bekam nacheinander drei Ex-Freundinnen vorgestellt.
Nun wusste sie, was zu tun war.

Noch am selben Tag begann sie eine Diät, fing wieder mit dem Rauchen an, nachdem sie vor ein paar Monaten unter Qualen damit aufgehört hatte, und schrieb sich in der postmodernsten aller Pariser Theaterschulen ein.

Suzanne musste Thierry haben. So war sie schon immer gewesen. Was sie haben wollte, bekam sie, und je schwieriger der Kampf, desto begeisterter kämpfte sie. Neben dem Studium jobbte sie als Pressefrau für die erfolgloseste Theater-Truppe weit und breit. Was wenige fertig brachten, schaffte sie: den angesagtesten Theaterkritiker Frankreichs in eine Vorstellung zu zwingen. Der Verriss, der kurz darauf in der abgefahrensten Kulturzeitschrift Frankreichs erschien, war vernichtend, aber Suzanne ließ sich nun mal nicht vernichten, und schon saß sie mit der entmutigten Truppe um den runden Tisch und entwarf neue Strategien.
So auch im Fall Thierry. Nachdem alle bisherigen Taktiken, telefonische Belagerung, Charmieren, Bekochen, Bewundern zu nichts geführt hatten entwarf sie folgenden Schlachtplan: absolute Funkstille bis sie auf der Personenwaage die 57 Kilogramm- Schranke unterschritten haben würde. Das bedeutete den Verlust von immerhin acht Kilogramm.

Askese stand nun an, der Rückzug aufs Wesentliche, die Lektüre von Antonin Artaud und Peter Brook - beide Thierrys Idole – und die regelmäßige Teilnahme an experimentellen Theaterworkshops, Thierry zufolge der Königsweg zu den ureigenen, urinneren kreativen Kräften.

Suzanne, die erfolgreich Kommunikationswissenschaften studierte – Kommunikation war nun mal IHR Ding, erprobte am eigenen Leben eine wichtige Regel dieses Bereichs: „Keine Antwort ist auch eine Antwort“ oder in diesem Fall: Schweigen ist auch ein Signal und oft wirksamer als die überzeugendsten Argumente.
Ein Signal, auf das zumindest Thierry extrem empfindsam reagierte. Er hatte sich an Suzannes warmes Umwerben gewöhnt. Nun saß diese schwarz gekleidet und rauchend vor ihrem Anrufbeantworter und lauschte konzentriert Thierrys Nachrichten. Noch sieben Kilogramm, bevor sie zurückrufen würde.

Zwei mal wöchentlich überraschte sie nun im Urschrei-Workshop mit tiefen Bass-Lauten, und im Atelier für Tonexperimente studierte sie ein Trio für Staubsauger, Schneckenhorn und Harfe ein, sie selbst betätigte den Staubsauger. In der Body-Feeling-Gruppe lag sie still da und spürte intensiv ihren linken kleinen Zeh. In der Eutonie-Stunde ruderte sie zu gedehnten Vokalen mit den Armen.
Sie stieg von der Metro aufs Fahrrad um: alle Schauspielschüler fuhren Fahrrad.
Noch sechs Kilogramm.

Thierry habe sich nach ihr erkundigt, sagten ihre Freundinnen, die sich darüber beklagten, dass Suzanne für keine Späße mehr zu haben war: keine Zeit für Feten, lustige Filme, für Kneipenabende oder Eisdielenbesuche.
Noch fünf Kilogramm.

In der Body-Feeling-Gruppe spürte sie oft Thierrys Hand auf ihrem Schenkel, tief in sich sah sie seine leidenschaftlich glühenden Augen. Im wirklichen Leben versteckte Thierry sie hinter einer schwarzen Sonnenbrille, doch nun konnte Suzanne sie sehen und durch diese magisch glänzenden Spiegel hindurch direkt in Thierrys Seele blicken.
Noch vier Kilogramm.

Thierrys Nachrichten auf dem Anrufbeantworter wurden rarer. Suzanne spielte hin und wieder das ganze Band ab und verwandelte in ihrem Innern die coolen Sprüche in tief schürfende und unkonventionelle Liebeserklärungen. Thierrys eher hohe Stimme sank in Suzannes Imagination um eine halbe Oktave tiefer.
Noch drei Kilogramm.

Suzanne überwarf sich mit ihren Freundinnen, die von dem alten Bild der immer fröhlichen, ständig quatschenden und lachenden Suzanne nicht loskamen. Nein, ab jetzt war sie nicht mehr everybody’s Sunshine.
Die neue Freiheit berauschte sie: Sie konnte auch leben, sogar ganz intensiv leben, ohne allen zu gefallen.
Sie hörte erneut mit dem Rauchen auf.
Noch zwei Kilogramm

Die erfolglose Schauspieler-Truppe überließ sie ihrem Schicksal. Sie hatte sich auf diesem Gebiet nichts mehr zu beweisen. Außerdem hatte sie keine Zeit mehr für aufreibendes Herumtelefonieren und emotionsgeladene Krisensitzungen. Die gekränkten Proteste hörte sie sich ruhig an und blieb genau so ruhig bei ihrer Entscheidung.
Sie zerstritt sich auch mit ihrer stets fröhlichen Mutter. Das tat gut.
Noch ein Kilogramm.

Sie gab das experimentelle Staubsauger-Schneckenhorn-Harfe-Trio auf. Das war nicht ihr Weg. Sie schmiss ihr Kommunikationswissenschaften-Studium und kippte eine Kiste voller Tagebücher mit oberflächlichem Teenie-Geplauder in den Müll. An ihrer Theaterschule bestand sie die Aufnahmeprüfung für den Profi-Intensivkurs.
Ihre Kochecke verwandelte sie in einen Meditations-Altar, die sperrigen Ravioli-Vorräte schenkte sie der Nachbarin, einer Mathematik-Studentin, die täglich drei Mal aß, während Suzanne vor lauter Theater spielen, Experimentieren und Meditieren das Essen oft vergaß. Beinahe hätte sie auch die 57-Kilogramm-Grenze verschwitzt. Die Waage konnte nun endlich zum Sperrmüll.

Thierry spielte zurzeit im Théâtre du Quartier Latin - zu Camus Zeiten eine revolutionäre Bühne.
Suzanne saß ganz außen links, in der ersten Reihe, aber im Abseits. Thierry sah sie dennoch sofort und blieb mitten im Satz stecken. Seine Augen waren viel heller, als Suzanne sie in Erinnerung hatte. Sie blickte in keine Abgründe, sondern in matte, verschüchterte Ratlosigkeit. Das Stück war auf pseudo-postmoderne Weise wirr und bedeutungslos, Thierry erschien ihr völlig nichts sagend. Viel zu flapsig, schlaksig und jungenhaft.

Als der Vorhang fiel, hastete Suzanne zur Garderobe. „Suzanne, warte doch“, hörte sie Thierry mit hoher, unsicherer Stimme hinter sich rufen, als sie schon an der Tür war.
Sie tat, als bemerkte sie ihn nicht.

Erst auf ihrem Fahrrad atmete sie auf, jubilierend trat sie in die Pedalen, raste unter dem Pariser Nieselregen all dem Wesentlichen entgegen, das in der eigenen Seele darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden.
 

Yoanna

Mitglied
Fange sofort an!

Hallo Nina,

was so eine Diät doch alles bewirken kann. In den Medien wird ja schon lange vor den Gefahren von Blitzdiäten gewarnt - die wahre gefährliche Dimension hast aber bislang nur du erkannt: Neue Impulse, und auf einmal ändert sich das ganze Leben. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder - nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn ich jetzt auf einmal eine Diät anfangen würde ...

Lustige Story, hat mir gefallen!

Gruß,

Yoanna
 

Nina Trebesi

Mitglied
Ich will so bleiben wie ich bin

Hallo Yoanna!
Verheiratet und drei Kinder? Das hört sich doch gut an! Lass die Diät mal lieber sein und bleib wie du bist!
Danke für Deinen Kommentar und liebe Grüsse an die ganze Familie!
Nina
 



 
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