Szenen ...

Haremsdame

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„Das hast du doch nur getan, damit du es leichter hast!“
Wütend warf Sepp die Tür hinter sich zu. Maria standen die Tränen in den Augen. Das passierte ihr häufig, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte. Wo sollte sie nun die in ihr aufsteigende Wut loswerden? Ihre kranke Schwiegermutter konnte ja nichts dafür.
Losgegangen war alles mit dem Tod ihres Schwiegervaters. Seitdem hatte Sepp die Stellung des Despoten übernommen. Statt sich an der Mehrarbeit zu Hause zu beteiligen, versteckte er sich hinter der Mehrarbeit im Büro.
„Mami“, klang es aus dem Kinderzimmer. Ihr Jüngster war von dem Lärm aufgewacht.
„Ja, Benjamin, ich komme.“ Mit gespielter Fröhlichkeit begab sie sich ins Kinderzimmer. Der Vierjährige streckte schon die Ärmchen aus. Seine Wärme schob ihren Kummer beiseite. Sie genoss dieses tiefe Glücksgefühl, das sie seit Beginn der Schwangerschaft kannte. Damals waren sie noch eine intakte Familie gewesen. Damals war sie noch mit ihren Schwiegereltern in die Operette gegangen und das Ungeborene hatte zur Musik in ihrem Bauch getanzt. Nun tanzte sie kurz mit dem Knirps auf dem Arm durchs Zimmer, während er ihr ein feuchtes Küsschen auf die Wange drückte.
„Warum weinst du?“ Fragend sah der kleine Mann auf seine Mutter.
„Das sind Freudentränen, weil ich dich so lieb habe.“
„Ich habe dich auch lieb, Mami.“
Dass das keine leeren Worte waren, wusste sie. Obwohl er noch so klein war, hatte er im Kindergarten ein Bild gemalt, das ihr die Luft genommen hatte. Da stand ein großes Strichmännchen mit ausgestreckten Armen im Mittelpunkt. Und darunter versammelten sich drei kleine und ein große Person.
„Das sind Sie“, hatte ihr die Kindergärtnerin erklärt. Neben den drei Kindern stand sogar ihr Mann unter ihrem Schutz.
Dabei fühlte sie sich oft so klein und unnütz. Seit ihre Schwiegermutter mit im Haus lebte, konnte sie nichts mehr recht machen, so sehr sie sich auch bemühte.
„Komm, jetzt gehen wir erst mal zum Waschen und Zähne putzen und dann zum Frühstücken.“
„Will aber gleich essen. Felix hat Hunger.“
 

Haremsdame

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Anna stand im Bad und ließ Wasser ins Waschbecken laufen. „Was mach ich nur?“, überlegte die vor der Tür lauschende Maria. Sie hatte ihrer Schwiegermutter doch deutlich gesagt, dass sie heute mal baden solle. Doch was machte die?
Durchs Schlüsselloch sah Maria, wie sie ihre Ellbogen badete. So konnte es nicht mehr weitergehen! Sie roch schon unangenehm. Aber hineingehen wollte Maria auch nicht. Es widerstrebte ihr, sich in fremdes Intimleben einzumischen. Stattdessen beobachtete sie, wie Anna über das Mieder, das sie noch auf der Haut trug, das frisch zurechtgelegte anzog. „Kein Wunder, dass sie nach Urin stinkt“, dachte Maria.
„Oma, es wäre besser, du würdest künftig auf deine Mieder verzichten“, bemerkte Maria, als Anna aus dem Bad kam. „Ich würde die Häkchen auch nicht auf bekommen, wenn ich es eilig hätte.“
„Ich trage so lange ich denken kann Mieder und das lasse ich mir von dir nicht verbieten!“
„Aber du kommst damit doch nicht mehr damit zurecht.“
Statt die Antwort abzuwarten, stürmte Maria in den Garten und versuchte beim Unkraut jäten wieder ruhig zu werden. Plötzlich stand Anna vor ihr und beschimpfte sie: „Immer willst du alles besser wissen. Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich lasse mir von dir nichts verbieten.“
Abends stand Anna vor dem Haus und erwartete die Heimkehr ihres Sohnes. Nachdem sie dem den Ärger über die Schwiegertochter mitgeteilt hatte, nahm er sie in den Arm. „Ich werde mit Maria reden. Ich weiß doch auch nicht, warum sie sich so verändert hat.“
 

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„Heute wird im Seniorenclub Karten gespielt, soll ich dich hinbringen?“, fragte Maria.
„Da sind doch nur alte Leute“, wehrte Anna ab.
„Vielleicht kannst du es wenigstens probieren, damit du mal was anderes siehst“, versuchte Maria sie zu motivieren. Sie hoffte auf vorübergehende Abwesenheit der Frau, die ihr seit dem Tod des Schwiegervaters wie ein kleines Kind am Rockzipfel hing.
Früher war das Kartenspiel im Haus der Schwiegereltern regelmäßig gepflegt worden. Da wurden nebenbei Gäste bewirtet und viel gelacht. Seit Opas Tod waren Besuche rar geworden.
Vielleicht würde das Zusammensein mit anderen Anna etwas von ihrer Trauer ablenken. Es kostete Maria viel Kraft, jeden Tag neu zu gestalten. Ihre Gedanken drehten sich fast ausschließlich um das neue Familienmitglied, das sie vor wenigen Wochen geerbt hatte. Einerseits hatte sie Mitleid, auf der anderen Seite hoffte sie auf baldige Besserung der Symptome, die sie an den Rand der Überforderung katapultierten.
Statt sich auf eine Diskussion einzulassen, lud sie die Schwiegermutter ins Auto und fuhr sie zur Seniorenbegegnungsstätte.
„Das ist ja die Anna!“, freute sich einer der Kartenspieler. Sofort hatte er gemeinsame Erinnerungen parat und bat die alte Dame an den Tisch. „Seit Viktor nicht mehr kommt, konnten wir nur noch Skat spielen. Mit dir können wir endlich wieder einen Schafkopf wagen!“
Zufrieden räumte Maria das Feld. Zu Hause überwachte sie Viktorias Hausaufgaben, als es an der Tür läutete. Draußen stand Anna, sichtlich erbost:
„Da gehe ich nie wieder hin!“
„Was ist den passiert?“
„Die haben behauptet, ich würde falsch spielen!“
 

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An Annas Kleiderschrank hing viele Monate das Brokatkleid, das sie zur Goldenen Hochzeit tragen wollte. Wie hatte sie sich auf diesen Festtag gefreut. Doch alles entwickelte sich gegen sie. Der Geburtstag ihres jüngsten Enkels hätte das Fest nicht in Frage gestellt, aber dann war die Kommunion ihres ältesten Enkels ausgerechnet auf diesen 6. Mai gelegt worden.
„Dann feiern wir halt später“, tröstete Hans. Wenige Tage danach wurde er mit Wasser in der Lunge ins Krankenhaus eingewiesen.
„Es sieht schlecht aus“, meinte der Arzt, „aber wir tun, was wir können.“
Hans verließ die Klinik noch einmal.
„Nachts im Traum bin ich immer so fleißig“, erzählte er des öfteren, „aber wenn ich morgens aufstehen soll, dann komme ich nicht aus dem Bett.“
Manchmal arbeitete er noch in seiner Schneiderei. Dann nähte er Skianzüge für seine Enkel oder half seiner Schwiegertochter beim Herstellen von Kinderkleidung. Er freute sich über ihr Interesse. Weniger freute er sich über das Verhältnis zu seiner Frau.
„Die zündet uns nochmal das Dach über dem Kopf an“, schimpfte er, oder: „Wenn ich mir was zum Mittagessen wünsche, dann kocht sie bestimmt was anderes.“
Wenn solche Worte fielen, zog sich Anna beleidigt ins ehemalige Zimmer ihres Sohnes zurück. Oder sie setzte sich ins Auto und fuhr irgendwohin.
Danach waren die Ärgernissen zwischen den Eheleuten vergessen. Abends saßen sie dann wieder friedlich im überheizten Wohnzimmer vorm Fernseher, wo Hans schon sehr bald einschlief.
Manchmal kamen die Enkelkinder zu den Großeltern über den Hof gelaufen. Anna verwöhnte die drei mit Schokolade, was Maria zwar nicht gerne sah, aber schweigend duldete. Schließlich war es durchaus vorteilhaft, dass die Großeltern ihre Kinder liebten. So konnten Sepp und sie auch mal was ohne die Kinder unternehmen.
Als sie im August zum Kegelausflug fuhren, blieb Viktoria bei Oma und Opa und die Buben besuchten Marias Eltern. Zum Abschied bat Hans um die Telefonnummer des Hotels. Das hatte er noch nie getan. Am Abend schlief er nicht bei Frau und Enkelin, sondern blieb im Wohnzimmer. Morgens wachte er nicht mehr auf...
 

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„Wenn keiner zu meiner Beerdigung kommt, hat sich mein Leben nicht gelohnt“, hatte Hans oft gesagt. Auch wenn sein größter Wunsch, das Jahr 2000 noch zu erleben, nicht in Erfüllung ging, konnte er doch zufrieden sein. Es kamen mindestens 200 Trauergäste auf den Friedhof und gaben ihm die letzte Ehre.
Sicherlich hatte Anna einen großen Anteil an seiner Beliebtheit. Sie war immer die lebenslustige Frau gewesen, der es nicht schwer fiel, Kontakte zu knüpfen. Sie war freundlich, achtete auf ihr Äußeres und hieß jeden Besucher willkommen.
Während der Beerdigung ihres Mann hatte es den Anschein, als würde sie nicht begreifen, was hier vor sich ging. Fünfzig Jahre war sie mit Hans durch dick und dünn gegangen und nun schäkerte sie am Grab mit den Verwandten und Freunden.
Maria konnte nicht begreifen, dass sie keine einzige Träne verdrückte. Ihr kam es so vor, als würde Anna im schwarzen Kleid die Glückwünsche zur Goldenen Hochzeit entgegennehmen.
 

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Das letzte große Fest, zu dem Anna geladen hatte, war ihr 70. Geburtstag. Den wollte sie im Garten feiern. Siebenschläfer wartete in diesem Jahr mit herrlichem Wetter auf, so dass dem Ansinnen nichts im Wege stand. Das Angebot von Maria, beim Herrichten der Feier zu helfen, schlug Anna aus: „Du hast doch erst vor wenigen Wochen Benjamin bekommen, da solltest du dich noch schonen.“ Welche junge Mutter hört so etwas nicht gern?
Sepp kam an diesem 27. Juni schon mittags aus der Arbeit nach Hause. Es war klar, dass zumindest zum Tische aufstellen seine Hilfe gebraucht wurde. Natürlich erklärte sich auch Maria bereit, beim Eindecken zu helfen.
Erst da entdeckten die beiden, dass Anna in diesem Jahr - entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit - keine Kuchen bestellt hatte. Zum Glück waren in der Tiefkühltruhe noch eingefrorene Torten und der Bäcker hatte natürlich auch ohne Vorbestellung noch Köstlichkeiten in seiner Verkaufstheke. In Windeseile wurde eingekauft, aufgetaut, eingedeckt und Kaffee gekocht.
Als die Gäste kamen, war Anna – wieder entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit - noch nicht umgezogen. Doch das ging im Trubel des Tages unter. Die teilweise noch eisigen Tortenstücke trafen dank der sommerlichen Temperaturen auf großen Zuspruch bei Verwandten und Freunden.
„Wo sind denn Eure anderen Kinder?“, wollten die Großonkel und -tanten wissen, nachdem sie den kleinen Benjamin ausgiebig bewundert hatten. Stefan kam aus seinem Kinderzimmer, doch Viktoria blieb unauffindbar. Bis jemand auf dem Boden einzelne Zehnerl, Fuchzgerl und Markstücke entdeckte. Maria verfolgte die Spur, die zum Nachbarn führte. Dort spielte Viktoria selbstvergessen mit den Freundinnen.
Oma hatte ihren Kleingeldvorrat mit den Worten an die Dreijährige weitergegeben: „Kauf dir was Schönes.“ Die hatte nichts besseres zu tun, als das Klimpern beim Fallenlassen der Münzen zu genießen. Vielleicht hatte sie auch an das Märchen von Hänsel und Gretel gedacht und ihren Rückweg markiert? Auf jeden Fall hat sie dazu beigetragen, diesen besonderen Tag im Gedächtnis zu verankern.
 

Haremsdame

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Anna war ihr Leben lang sehr großzügig gewesen. Sie kaufte zu gern ein. Oft mehr, als sie selbst brauchte.
Jeden Donnerstag hatte sie die Aufgabe, die während der Woche in der Schneiderei entstandenen Anoraks und Skianzüge auszuliefern. Meist kam sie dann mit Kleidungsstücken zurück, die nicht in der eigenen Werkstatt entstanden waren. Manchmal hatte sie Sportbekleidung auf Bestellung von Freunden oder Bekannten mitgebracht, manchmal aber auch aufs Geratewohl.
Viele Nachbarn, Freunde oder Freundesfreunde kamen zu ihr, weil sich der günstig erstandene Vorrat von teurer Markenkleidung herumgesprochen hatte. Manche Stücke waren zweiter Wahl, doch die kleinen Webfehler blieben für Laien unsichtbar.
Kleidung, die Anna nicht verkaufen konnte, bekamen die nächsten Verwandten geschenkt. Obwohl sehr schöne Stücke dabei waren, wurde es Maria manchmal zu viel. „Sie schiebt uns alles hinten rein, was wir von vorne nicht nehmen“, beklagte sie sich bei einer Freundin. Die verstand Marias Bedenken nicht, hatte sie doch eine Schwiegermutter, die nur an sich selbst dachte.
 

Haremsdame

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Die drei Kinder von Marias Freundin waren nur wenige Wochen jünger als Stefan, Viktoria und Benjamin. Die Frauen, seit der Schulzeit befreundet, hatten sich gegenseitig zu Taufpaten gemacht. Sie besuchten sich regelmäßig, obwohl sie jedesmal die Großstadt durchqueren oder umfahren mussten.
Einmal rief Anna bei der Freundin an. Als Maria ans Telefon gerufen wurde, erschrak sie furchtbar, weil sie eine schreckliche Nachricht befürchtete.
„Du hast gewonnen“, flötete Anna in den Apparat.
„Wie, wo, was …? ? ?“
„Ja, auf Deinem Küchentisch liegt ein Brief! Da steht drin, dass Du eine halbe Million gewonnen hast!“
„? ? ?“
„Freust du dich denn gar nicht?“
„ . . . doch . . . Wo kommt der Brief denn her?“
„Von der Post.“
„Soll ich gleich heimkommen?“
„Ja, das wäre das Beste“
Beim Heimfahren überlegte Maria, was sie mit dem vielen Geld anfangen könnte. Doch irgendwie konnte sie sich nicht richtig freuen. Wo hatte Anna die Telefonnummer ihrer Freundin her? Wieso war sie in ihre Wohnung gegangen, wenn niemand da war?
Zu Hause entdeckte sie auf den Küchentisch Reklame von Reader's Digest, die sie kurz vorm Losfahren aufgerissen und dann liegen gelassen hatte. Als Anna diesen Brief in der leeren Wohnung liegen gesehen hatte, war ihr nichts besseres eingefallen, als bei ihrem Sohn in der Arbeit anzurufen. Der wusste, wo seine Frau zu finden war und hatte seiner Mutter die Telefonnummer der Freundin weitergegeben.
 

Haremsdame

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Hans und Anna hatten sich ihren Wohlstand hart erarbeitet. Nicht selten brannte das Licht in der Werkstatt bis Mitternacht. Wenn die drei angestellten Näherinnen nachmittags ihren Arbeitsplatz verließen, schnitt Hans die Teile für den nächsten Tag zu oder bügelte Nähte aus.
Auch nach Jahrzehnten waren die Schulden, die er kurz nach dem Krieg aufgenommen hatte, noch nicht getilgt. Damals war die Wohnungsnot noch groß und an das Anmieten einer eigenen Werkstatt gar nicht zu denken. In seiner Verzweiflung kaufte er ein drei Hektar großes Grundstück samt einer alten Baracke. Die baute er zu einem Wohnhaus mit Werkstatt um und verstand es, den von der Gemeinde verlangten Abriss bis nach seinem Tod hinauszuschieben. Um die Zinszahlungen zu verringern, verkaufte er zweimal Teile des Grundstückes an Bauwillige.
Immer wieder wurde das Dach der Baracke undicht. Da Eimer unter den tropfenden Stellen auf Dauer keine Lösung waren, wurde es erneuert. Hans schloss einen Bausparvertrag ab. Den überschrieb er nach der Geburt des ersten Enkels zusammen mit dem Grundstück auf seinen Sohn. Einzige Auflage: eine Einliegerwohnung im neuen Haus.
Als Hans endlich schuldenfrei war, gönnte er sich und seiner Frau noch schöne Reisen - nach China und Moskau. Doch am meisten fühlte er sich durch eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, die er zusammen mit einem Freund unternahm, für die harten Jahre seines Arbeitslebens entschädigt.
 

rosste

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hallo gabriele,
das waren noch zeiten, da sich arbeit lohnte. da ist eine fahrt mit der transsibirischen eisenbahn eine gute idee, dem vergangenen nochmal näher zu kommen...

st
 

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Anna fuhr gern und rasant Auto. Sie kam in den fünfziger Jahren schon mit dem eigenen DKW Meisterklasse zur Fahrprüfung. „Der hatte noch einen Holzfussboden“, erzählte sie gern. Und Sepp wusste aus seiner Kindheit, dass der eines Tages ein großes Loch hatte.
Hans genoss es, sich von seiner Frau kutschieren zu lassen. Seine Müdigkeit am Steuer war legendär und hatte schon zu diversen Kratzern am Lack geführt. Seine Anna dagegen lieferte so manche Rennfahrten ohne einen einzigen Unfall. Ihr konnte niemand so leicht das Wasser reichen. Sogar der eigene Sohn hatte es einmal nicht geschafft, seiner Mutter zu folgen.
Eines Abends geschah dann das Unvorstellbare: Anna fand den ungezählt oft gefahrenen Weg zu ihrer Schwester nicht mehr. Hans, der es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht hatte, begann zu schimpfen. Das verunsicherte sie noch mehr.
Wenn man Hans Worten Glauben schenkte, dann waren sie stundenlang durch unbekannte Gegenden geirrt und hatten das Ziel erst spät erreicht. Niemand konnte sich vorstellen, wie so etwas geschehen konnte. Da sich diese Begebenheit nicht mehr wiederholte, geriet sie für die nächsten drei bis vier Jahre in Vergessenheit.
 

Haremsdame

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Nach Hans Tod baute Anna innerhalb weniger Wochen zwei Unfälle. Jeder schob das auf ihre trauerbedingte Verwirrtheit. Sie vergaß fast alles: Tageszeiten, Essen, notwendige Erledigungen – man konnte schon fast sagen: sie vergaß zu leben.
„Kein Wunder, Vaters Tod war für sie ein Schock“, sagte Sepp. Da er jeden Tag für den Familienunterhalt sorgen musste, verließ er sich voll auf seine Frau. „Die hat genug Zeit, sich um Mutter zu kümmern“, dachte er.
Früher hatte Anna Maria und die Kinder manchmal zum Essen eingeladen. Dafür wollte sich Maria nun revanchieren und holte Anna zum Essen. Sie bemühte sich redlich, Anna aus ihrer Lethargie zu reißen und versuchte, sie in Gespräche zu verwickeln. Doch die Antworten blieben kurz oder ganz aus. Nur in Momenten, in denen sich Maria ganz ihren Kindern zuwandte, meldete sich auch Anna zu Wort.
„So kann es nicht mehr weiter gehen“, dachte sich Maria. Auf der Suche nach Auswegen kam sie zur Beratungsstelle der Diakonie.
„Wir können ihre Schwiegermutter für drei Wochen auf Erholung schicken.“
Maria überlegte: „Vielleicht täte ihr das gut. Sie ist immer gerne gereist und liebte Gesellschaft.“
Nun ging alles ganz schnell: In einem Erholungszentrum gab es noch einen freien Platz. Die zweite Septemberhälfte versprach goldene Tage und Anna schien sich auf die Abwechslung zu freuen.
 

Haremsdame

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Maria atmete auf. Endlich konnte sie sich wieder ganz ihrem Nachwuchs widmen. Das Hin- und Hergerissensein zwischen den Ansprüchen der Oma und denen der Kleinen ließ nach. Sie fand wieder Zeit zum Spielen und für den Haushalt.
Am Wochenende besuchten sie Anna und erschraken. Statt einer lebenslustigen Frau, die ihre Auszeit genoss, fanden sie ein Häufchen Elend vor.
Anna war aus dem Bett gefallen und hatte nun Schmerzen. Sie mied die Mitbewohner und wollte nur noch nach Hause. Am liebsten hätte Sepp sie gleich mitgenommen, doch Maria weigerte sich.
„Gib ihr doch ein wenig Zeit, sich einzuleben“, bat sie ihren Mann. Sie hatte Angst vor Annas Rückkehr nach Hause und wusste nicht, wie lange sie es schaffen würde, Annas Animateurin zu sein. Sie wollte, dass es der Schwiegermutter gut ging. Deren Trauer und Niedergeschlagenheit konnte sie jedoch kaum ertragen.
 

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Während Annas Erholungsaufenthalt richteten Sepp und Maria die Einliegerwohnung für Anna her. Sie hatte drei Zimmer und war groß genug für zwei Personen. Aus diesem Grund bekam der inzwischen zehnjährige Stefan ein eigenes Dachzimmer in Omas neuer Wohnung, Nun hatte jedes Kind ein eigenes Reich.
Nun, da Stefan bei Anna wohnte, war sie nicht mehr allein. Sepp und Maria hofften, auf diese Weise den alten Spruch „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“ etwas abzumildern. Schließlich gab es keine andere Möglichkeit, denn nun, da Hans nicht mehr lebte, musste das alte Haus wirklich abgerissen werden.
Weiter verminderte Annas Umzug die Gefahr einer Feuersbrunst durch kaputte Elektroleitungen oder einen falsch eingeheizten Ölofen.
Ab diesem Zeitpunkt kam Anna noch häufiger in die Familienwohnung. Maria fand das nicht gut und hätte ihr gern den Schlüssel abgenommen. Statt dessen kaufte Sepp neue Schlösser, damit die Schlüssel für beide Wohnungstüren passten.
 

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Marias Schwierigkeiten mit der einst geschätzten Schwiegermutter nahmen zu. Was auch an dem getrübten Verhältnis der Eheleute lag.
„Ich träume davon, mich selbst über die Runden zu bringen und bin froh, dass Sepp seine Mutter in der Nähe hat, wenn ich gehe. Ich glaube, seine Mutter steht ihm näher als ich. Er kann mit ihr besser umgehen, schließlich weiß er von seinem Vater, wie der immer mit ihr umsprang. Er weiß zwar, dass ich anders bin, will mich auch anders haben – aber so, wie ich jetzt bin, kann er mit mir nichts anfangen. Er will sich sein Leben nicht durchs Nachdenken erschweren. Alles unter den Teppich kehren und heile Welt spielen, das ist seine Art“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Und weiter: „Ich bin kein Diplomat, sondern sehr ehrlich. Trotzdem versuche ich, zu meinem Wort zu stehen. Vielleicht ist hier der Haken? Ich habe ihm mein Wort gegeben und will es jetzt nicht brechen.“
 

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Kurz nachdem Benjamin in den Kindergarten gekommen war, hatte Maria eine Arbeit als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität angenommen. Die zehn Wochenstunden ließen sich gut in ihren Alltag integrieren und auch mal an etwas anderes denken. Sie brauchte die geistige Anregung, die sie durch die Einarbeitung in diverse Computerprogramme bekam. Die Arbeit gab ihr das Gefühl, ein vollwertiger Mensch in der Gesellschaft zu sein. In den Jahren zu Hause war sie sich oft wie eine Dienstmagd vorgekommen; nur für das Wohlbefinden der anderen zuständig. Jetzt, wo die Kinder keine Babies mehr waren, sehnte sie sich nach etwas anderem.
Als Hans noch lebte, holte Anna den kleinen Benjamin manchmal aus dem Kindergarten ab. Das war für Maria eine große Hilfe gewesen. Nun passierte es immer häufiger, dass Anna ihre Hilfe anbot und dann die versprochenen Handgriffe vergaß.
Wenn sie sich wenigstens nicht immer so langweilen würde!, schrieb Maria wutentbrannt in ihr Tagebuch. In ihrer neuen Wohnung sind schon überall dicke Staubränder, über die ich wegzusehen versuche. Ich befürchte, dass ich es auf Dauer nicht ertrage, mit ihr zusammen zu leben. Die Belastung wird mir zuviel! Meine Kinder sind mir wichtiger als meine Schwiegermutter, die immer nur sich sieht. Sie ist unselbständiger als meine Kinder. Sie tut nur, was man ihr sagt und dann hinter ihr stehen bleibt. Für sie ist es selbstverständlich, dass wir uns um alles kümmern. Am schlimmsten ist, dass sie immer in meiner Küche rumkruschen will und mir damit zu sehr in meinen Bereich eindringt.
Wenige Tage später fuhr sie fort:
Wenn Oma mir die Küche aufräumt, tut sie es gerne. Auch wenn ich es nicht will, weil ich mich unterdrückt fühle und nicht einmal dann, wenn Sepp außer Haus ist, so schalten und walten darf, wie ich es will. Wieder muss ich Rücksicht nehmen und mich anpassen. Das macht mich aggressiv und ungerecht. Warum darf ich nicht mein Leben leben? Wenn ich selbst mehr Raum für mich hätte, könnte ich auch den anderen mehr Raum zugestehen, müsste weniger meckern und schimpfen.
 

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Anna klagte immer häufiger über Schwindelgefühle. Der um Hilfe gerufene Hausarzt wusste keinen Rat. Er verschrieb Aspirin für die Hirndurchblutung. An weitere Untersuchungen dachte er nicht. „Ältere Leute werden manchmal eigenartig“, tröstete er Maria. Da erinnerte sie sich an Hans Zornesausbrüche und seinen Ausspruch: „Die zündet uns nochmal das Haus über dem Kopf an.“
Wenn Maria in der Arbeit war, vergaß sie das Gefühl, Annas externer Erinnerungsspeicher zu sein. Wenn sie jedoch heimkam und Anna schon wartend vor dem Haus stand, fühlte sie sich extrem gestresst. Immer öfter überlegte sie, wie lange das noch so weiter gehen sollte.
Körperlich ist sie noch so gut drauf. Ob man gegen den geistigen Verfall etwas unternehmen kann? Ich mache das keine zwanzig Jahre lang mit. Ich streike bald! Ich lasse mir meine soeben gewonnene Freiheit von ihr nicht wegnehmen. Warum versucht sie denn nicht selbst frei zu sein?
 

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Maria hasste es, nach verschwundenen Schlüsseln suchen zu müssen oder Schneiderscheren in ihrer Küche zu finden. Mit Sepp konnte sie darüber nicht reden, deshalb suchte sie ihren Frust im Tagebuch loszuwerden:
Da heißt es immer, wenn man in abgeschlossenen Wohnungen lebt, könnte man mit alten Leuten zusammenwohnen. Aber wo ist die abgeschlossene Wohnung? Wo bleibt mein Reich, in dem ich in Ruhe gelassen werde? Immer muss ich alles stillschweigend hinnehmen, weil ich sonst die Böse bin. Und Sepp ist sauer, weil ich seine Mutter nicht leben lasse. Lässt sie mich denn leben? Ich möchte endlich mal keinen Druck mehr bekommen. Zu lange habe ich mich untergeordnet und angepasst. Jetzt, wo ich endlich dabei bin, mich freizuschwimmen, hängt sich wieder jemand an mich. Wann finde ich die Kraft, mich allein durchzubringen? Eine Arbeit in einer anderen Stadt, das wäre was. Ob ich mal den Mut bekomme, diesen Traum zu verwirklichen?
 

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Marias Druck nahm zu. Da sie weder mit Annas noch mit ihrer eigenen Veränderung etwas anzufangen wusste, suchte sie nach Auswegen. Zwar träumte sie davon, ihren Mann und dessen Mutter zu verlassen, hatte aber viel zu große Angst vor den finanziellen Unsicherheiten, denen sie dann gegenüber gestanden wäre. So manifestierte sich in ihrem Kopf der Gedanke, aus dem Leben zu scheiden.
Doch wie? Aufhängen, das wär's. Aber wenn mich dann eines der Kinder findet? Das kann ich ihnen nicht antun.
Nach langen, ergebnislosen inneren Kämpfen und zunehmenden körperlichen Beschwerden überwies der Hausarzt die 38jährige an eine Psychiaterin. Die bot ihr zur Krisenprophylaxe wöchentlich ein Gespräch über zwanzig Minuten an. „Für eine Therapie ist es noch zu früh“, meinte sie, „Sie sind noch zu verzweifelt.“
Stattdessen schlug sie vor, Anna zu untersuchen. „Es gibt eventuell Möglichkeiten, die Vergesslichkeit zu bekämpfen.“
Anna weigerte sich, einen neuen Arzt aufzusuchen und Maria war zu kraftlos, um sie gegen ihren Willen dort hinzubringen. Ihr war es peinlich, beim Seelenklempner gelandet zu sein. Und sie wusste, dass sie auf Sepps Hilfe nicht rechnen konnte.
 



 
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