Szenen im Wartezimmer

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In der großen Augenarztpraxis gibt es eine Reihe von Warteräumen. Selbst die schmalen Gänge sind bestuhlt, und dennoch werden die Sitzplätze oft knapp. Von weither kommen die Patienten, um sich untersuchen, behandeln und operieren zu lassen. Das Gedränge in den Durchgängen und vor den beiden Tresen erinnert an die Versorgung von Menschenmassen in einem Krisengebiet der Dritten Welt. Dabei ist es nicht einfach, überhaupt einen Termin zu bekommen. An einem Vormittag finden dreißig Operationen statt.

Die Sprechstundenhelferinnen – ihre Zahl ist gewiss zweistellig – arbeiten sehr angespannt. Ab und zu eilt eine von ihnen durch die Wartezimmer und ruft die Namen von Patienten aus. Hat sie wieder einen gefunden, malt sie ihm mit Tintenstift ein Kreuz neben das kranke Auge. So ähnlich markiert man Schafe vor der Schur oder Bäume vor der Fällung. Manchmal träufelt die Helferin einem Kranken Tropfen in ein Auge. „Halt, nicht dieses“, wehrt ein Patient ab, „das ist doch mein Glasauge. Das andere bitte.“ Nachher lacht er: „Darauf fallen sie oft herein.“

Ein Stuhl wird stets frei gehalten. Er steht vor dem Eingang zum Operationstrakt, auf ihm ruhen sich die eben Operierten kurze Zeit aus, wenn sie herausgeführt werden. Im Zehn-Minuten-Takt kommen sie zurück, mit grünem Umhang, Operationshaube und Stoffüberschuhen. Rasch tritt der Angehörige, der sie in die Praxis begleitet hat und bald darauf wegbringen wird, zum Patienten oder der Patientin. Die ersten Worte nach der Operation werden gewechselt. In diesem Augenblick wird ein Stück Innenleben sichtbar, der Grad an Zuwendung wird ablesbar. Eine Helferin nimmt Umhang, Haube und Überschuhe fort.

Auf einmal wird es noch enger. Ein Krankentransport schafft sich Raum. Sie bringen im Rollstuhl eine Greisin, ihr Gatte geht nebenher. Die kleine alte Frau ist derart in sich zusammengesunken, dass sie nur noch Kindergröße hat. Sie ist still, fast apathisch. Ihr Mann dagegen wirkt sehr gesund, er ist drahtig und behände. „Für den Rollstuhl ist hier aber kein Platz“, stellt eine Sprechstundenhelferin klar. Der kurzgeschorene, stiernackige Krankentransportmann sagt: „Sie kann auf normalem Stuhl sitzen, sie hat einen Rollator, ich bring ihn her.“ Dann trägt er den Rollstuhl zwischen den zurückweichenden Menschen hinaus. Die Greisin sitzt auf einem Stuhl zwischen anderen wartenden Patienten, ihr Mann steht neben ihr oder geht ein wenig vor ihr auf und ab.

Die beiden sind um die achtzig und gehören offenbar einem gut situierten hanseatischen Bürgertum an. Sie sind sehr sorgfältig gekleidet, doch ohne Extravaganz. In ihrer Schicht ist es sonst nicht üblich, in der Öffentlichkeit durch auffälliges Benehmen auf sich aufmerksam zu machen. Doch die bisherigen Alltagsgesetze gelten für sie jetzt nicht mehr. Die Frau ist ängstlich, verwirrt, sie stößt kleine, besorgte Klagelaute aus. Und er, der solide, zurückhaltende hanseatische Gatte, tut, was er sonst peinlich vermeidet: Er agiert vor fremden Menschen wie auf einer Bühne, spricht laut und überdeutlich, unterstreicht mit vielen Gesten, was er ihr Beruhigendes sagt: „Nein, ich gehe doch nicht fort. Ich bleibe hier bei dir, bis du fertig bist. Ganz bestimmt bleibe ich in deiner Nähe.“ Und um sie noch mehr zu besänftigen, fügt er hinzu: „Du warst doch schon mal hier, erinnerst du dich nicht? Alles ging so schnell, war so schnell vorbei – da hast du gesagt: Machen wir es bald auch auf der anderen Seite …“ Sie scheint sich nicht zu erinnern.

Immer wieder gehen alte Menschen unsicher, ängstlich in den Operationsraum hinein und kommen ein wenig erleichtert und von fremder Hand gestützt später wieder heraus, einen ganzen Vormittag lang.
 

TaugeniX

Mitglied
Das Wimmelbild... Immer wieder begegne ich ihm in Deinen Geschichten. Hier macht es die Fliessbandmedizin mit den Menschen: mit zwanzig namenlosen Ordinationshelferinnen, die man nicht mehr als Schwester anspricht, wie mit den Patienten, denen man das zu behandelnde Auge mit Filzstift ankreuzen muss - der Verwechselungsgefahr wegen.

Dass der alte Patrizier sein in sich ruhendes autarkes Selbstbewußtsein in diesem Gewimmel verliert und sich vor den Leuten selbstdarstellen muss, ist der schmerzhafteste Stich von allen.
 
Ach, TaugeniX, ich kann doch nichts dafür, dass wir in einer Massengesellschaft leben ... Alle Details wurden dort so von mir im Verlauf mehrerer Stunden zur Notiz genommen, nichts erfunden, nichts hinzugefügt. (Ich war zweimal als Begleiter eines Patienten mitgekommen.) Die Praxis ist für ambulante Operationen wohl eine der ersten Adressen in Hamburg, daher überlaufen.

Persönlich haben mich die Auftritte vor dem OP-Raum am meisten beeindruckt, wie sie hineingehen, herauskommen und empfangen werden.

Danke für deine aufmerksame Reaktion.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

TaugeniX

Mitglied
Ich weiß, dass Du die Wahrheit schreibst, "nichts als die Wahrheit", Arno. Eine Zeit lang arbeitete ich in einer Lungenambulanz, - genau das gleiche Bild. :(

Deswegen war meine erste Regung auch, die "Meinen" in Schutz zu nehmen: "was können wir denn dafür, bei so viel Patienten und so wenig Zeit". Aber ich fühle, dass Du keinen Vorwurf machst.

Dass ich einen anderen Schmerzpunkt sehe als Du, liegt am Blickwinkel: ich bin ja drinnen, im Behandlungsraum wo diese Menschen beängstigt rein und erschöpft und erleichtert rausgehen.
 



 
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