Tage im Leben des Herrn Tobias

In einer absurden Welt kann gerade ein scheinbar unsinniger Text sinnvoll sein.


Der Herr Tobias hängt aus dem Fenster
greisenhaft seine Augen
starr sein Lächeln
Denken und Glauben ersterben in ihm
er revoltiert gegen den Geist der Umnachtung
gegen die Dialektik des Unverstandes
wie an einem Faden schwingt er umher
Stunden zerbrechen in ihm
Tage zerfressen ihn wie Ameisen
Zeit zerblättert ihn
hat er nicht gesehen
hat er nicht gehört
die Stimme des Chaos
Tränen hängen wie Wolken über ihm
sein Atem kristallisiert in Siliziumoxiden
am Tag des Baumes wird er sich erheben
und er wird anführen das Heer der Gasäugigen
die antreten zur letzten Schlacht dieses Universums
geisterhaft in ihrem Wesen
schamlos in ihrem Unwesen
Tobias, sei du unser Führer
wie wir dich führen werden
in Ewigkeit
Herr Tobias, gib dich zu erkennen
wir haben dich durchschaut
du bist der, der du bist
Menschen wie Maschinen
sie weinen und lachen
Gardinen, leise wie Wellen
rote Mützchen
garstig und doch so rein
kleine Frauen mit nassgekämmten Haaren
das gefällt
und im Schatten des Waldes tanzt der Alte
ein ewiger Protest gegen die Unzucht dieser Welt
aber haben wir denn eine Chance
gibt es sie denn, die Freiheit
die sie meinen und die ich meine
ich und immer wieder ich
mein Atem währet ewiglich
das ist wie ein Fließen
manchmal ein Rauschen und Toben
Schmerz, wo bist du
Geist, wo klebst du
Rübe, wo wächst du
agiert aus Leute
denn morgen, ja morgen
und dennoch
immer wieder dieses Rufen
dieses Weinen in der Stille
dieses Stöhnen am Nachmittag
dieser Dreck in den Häusern
dieser Dreck in den Menschen
 
Hallo Stefan,
da noch niemand diesen Text kommentiert hat, dachte ich mir, ich kommentiere ihn einfach selbst. Oder noch besser, ich befrage den Autor.

- Tag, Stefan!
- Tag, Stefan!
- Was hast du dir bloß bei diesem merkwürdigen Text gedacht?
- Ich habe gar nicht viel gedacht, ich habe einfach geschrieben bzw. schreiben lassen.
- Von wem denn?
- Vom Unterbewusstsein bzw. Unbewussten.
- Aha, so sieht es also in deinem Unbewussten aus.
- Nicht nur in meinem. Mal was vom „kollektiven Unbewussten“ gehört?
- Zeigt uns der Text die existentielle Verlorenheit des Menschen in einer absurden Welt?
- Nein, er zeigt uns die verlorene Absurdität in einer weltlichen Existenz.
- Verstehe ich nicht.
- Ich auch nicht.
- Ist der Herr Tobias eine Art postmoderner Christus, der uns erlösen will?
- Nein, er ist nur ein Kauz, der aus dem Fenster guckt und von einem kosmischen Krieg träumt.
- Genau, da wollte ich noch nachfragen. Was soll denn das Heer der Gasäugigen sein?
- Das ist ein Schreibfehler, ich wollte eigentlich sagen, das Heer der Glasäugigen.
- Mal ehrlich Stefan, ist der Text nicht ziemlich sinnlos?
- Man sollte den Begriff des Sinns nicht so restriktiv limitieren, sondern semantisch expandieren.
- Kannst du das noch mal verständlich sagen!
- Na ja, alles hat Sinn, oder vielleicht hat auch nichts Sinn, so genau weiß das niemand.
- Stefan, ich danke dir für das Gespräch.
- Immer wieder gerne.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Selbstkommentierung

Es gibt heftige Gegner aller Selbstkommentierung hier in der Lupa. Ich bin ein Befürworter gründlicher Selbstkommentierung, insbesondere dann, wenn der Dichter auf Kommentare antwortet und Dinge erklärt. Wesentlich ist allerdings, daß die Deutung jedes Lesers das Übergewicht hat, und der Schreiber muß es hinnehmen, daß da andere "innere Filme" laufen als in ihm, dem Autor als "erstem Leser" seines Textes. Aber eben deshalb, weil der Schreiber immer der erste Leser seines Textes ist, hat er genauso ein Recht auf den eigenen inneren Film, die eigene Deutung, den Selbstkommentar, wie jeder andere Leser auch.
Er verliert nur die "Deutungshoheit" in dem Moment, wo er den Text aus der Hand gibt, veröffentlicht, anderen zu lesen gibt.
Der Kommentar, vor allem in dieser Form, ist wunderbar, sehr erhellend, ich finde ihn gut.

Als ich vor einigen Tagen dieses Gedicht hier las, dachte ich etwas ganz anderes, nämlich: es sei eine Art Mitleidsgedicht, Betroffenheitslyrik, über einen Altzheimer-Patienten. Why not, dachte ich, haben wir doch schon öfter hier gehabt in der Leselupe. Mitleid ist eine feine Sache, Mitgefühl zu erregen ist schon an sich sympathisch. Wer anderes sucht, "blättert" weiter im virtuellen Forenheft. Aber ich hatte nicht sehr sorgfältig gelesen, deshalb korrigiert sich in mir einiges durch das Lesen Deines Kommentars.

Okay.
 
HALLO MONDNEIN!

- Stefan
- Ja, Herr Tobias
- Hat jemand über mich geschrieben?
- Ja, bisher ein Leser.
- Und wer ist das?
- Ein Dichter und Maler, er besitzt eine beeindruckende Homepage.
- Bestimmt hat er geschrieben, dass meine Geschichte unrealistisch ist. Müssen sich die Leute denn immer in meine Realität einmischen!
- Nun bleib mal cool. Das hat er gar nicht geschrieben. Aber er hielt dich zunächst für einen Alzheimer-Patienten.
- Also, das geht ja gar nicht. Vielleicht hat er gemeint, dass du Stefan ein Alzheimer-Patient bist.
- Egal, jedenfalls beansprucht er die Deutungshoheit über dich, Herr Tobias.
- Nun ja, wenn man so bedeutend ist wie ich, muss man es heroisch ertragen, dass einen die Leser deuten. Sie dürfen mich gerne umdeuten, missdeuten, verdeutlichen oder überdeuten, ich meine überinterpretieren. Aber jetzt muss ich mich um die letzte Schlacht des Universums kümmern.
- Schon gut, Herr Tobias.

Viele Grüße
Stefan Sternau
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
umdeuten, missdeuten, verdeutlichen oder überdeuten, ich meine überinterpretieren
nein, Du beanspruchst eine deutungshoheit, die Dir genauso wenig zusteht wie irgendwem sonst: mir mißfällt, wenn meine deutung Deines gedichts als "umdeutung, mißdeutung" oder "überdeutung" und "überinterpretation" qualifiziert wird; "verdeutlichung" mag in ordnung sein, dagegen habe ich nichts.

bei genauer betrachtung habe ich Dein gedicht noch gar nicht gedeutet, und außer Dir auch sonst noch niemand. gräm Dich nicht, das ist normal hier in der lupa: es gibt ausgezeichnete lieder, die nicht einen einzigen kommentar evoziert haben.
 
Hallo Mondnein,

mit dem Umdeuten, Missdeuten und Überdeuten war allgemein gesprochen, damit warst natürlich nicht du gemeint, denn wie du ja selbst schreibst, du hast den Text gar nicht interpretiert. Da hat sich Herr Tobias etwas unklar ausgedrückt …

Aber wie du auch schreibst, man muss durch die Veröffentlichung die Deutungshoheit abgeben, ich würde lieber sagen: teilen. Und es ist ganz normal, dass dann Deutungen kommen können, die mit der Sicht des Autors nicht übereinstimmen. Was kein Nachteil sein muss, eine Umdeutung kann auch für den Autor neue Einsichten bringen. Und Deutungen, die für den Autor Fehldeutungen sind, muss er eben tolerieren.

Viele Grüße

Stefan Sternau

Übrigens: Es würde mich interessieren, was der Text bedeuet, den du unter deine Beiträge setzt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
sato bandhum asati nir-avindan
des Seienden Band im Nichtseienden heraus-fanden

hridi pratishya kavayo manisha
im Herzen forschend Dichter durch ihr Denken

Rigveda 10,129 (siebenstrophige Schöpfungshymne) 4. Strophe, zweite Hälfte
aus dem vedischen Sanskrit (dieser 3000 Jahre alten Hymne) übersetzt durch Hans Zimmermann.
 
Hallo Mondnein,

vielen Dank für die Erklärung. Ein schöner, subtiler, poetischer Text. Ob ich ihn vollständig verstehe, bin ich mir nicht sicher. Ich werde einmal weiter darüber nachdenken oder nachlesen.

Viele Grüße
Stefan Sternau
 

revilo

Mitglied
Gestatte mir eine Frage, lieber Herr Tobias:

Hast Du - mit Verlaub - noch alle Latten am Zaun?

Viele Grüße von revilo
 
An revilo:

- Hallo Stefan.
- Ja, Herr Tobias.
- Interessiert sich denn gar niemand mehr für mich, Stefan?
- Doch, es hat jetzt noch neu jemand geschrieben, und zwar revilo.
- Was will er denn von mir wissen? Ob das Universum endlich ist? Ob Einstein mit seiner Relativitätstheorie recht hat? Ob es eine Unsterblichkeit der Seele gibt? Wie sich das mind-body-Problem lösen lässt? Ob ich einen besseren Beweis für den großen Satz von Fermat habe? Ob der Reduktionismus oder der Emergentismus recht haben? Ob das heutige System der chemischen Elemente vollständig ist? Ob die Unschärferelation und damit die indeterministische Deutung der Quantenphysik nicht doch als subjektivistisch zu relativieren ist? Oder ob Donald und Daisy Duck Sex haben?
- Nein, er will wissen, ob du alle Latten am Zaun hast.
- Merkwürdig, welchen Zaun meint er denn?
- Unseren Gartenzaun.
- Na gut, wenn es ihm so wichtig ist, guck ich mal nach.
(Er geht raus und kommt nach 5 Minuten zurück.)
- Und wie sieht es aus, Herr Tobias?
- Alle Latten sind noch da, Stefan.
- Dann ist es ja alles bestens. Ich werde das revilo mitteilen.
- Tss, was manche Menschen wissen wollen … und dabei hätte ihm die letzten ungelösten Geheimnisse des Universums erklären können!
 



 
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