Tagebuch April II/2007

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H

HFleiss

Gast
Das Katerchen inspiziert morgens sein Revier. Erst das Arbeitszimmer, dann hockt er auf dem Balkon und lauscht bedauernd den Vogelstimmen im Hof. Das Wohnzimmer hat er sich erobert, er hatte den längeren Atem.

Vor zwei Tagen fuhren wir Dampfer. Nachmittags schlug das Wetter um, und wir beeilten uns, ins warme Unterdeck zu kommen. Ein opulentes Mittagessen aus der Mikrowelle, als wir über den Müggelsee fuhren. Der Dampfer lag ruhig, kein Gefühl von schaukelndem Ozeandampfer im stürmischen Atlantik. Zwei Möwen flogen uns bis in die Spree nach, ein Mann knipste sie durch die Scheiben. Die Fahrt ging vorbei an ausgeschlachteten Großbetrieben: KWO, TRO, WF, Rundfunk. Die Gespräche an den Tischen stockten. Das Ungeheuerliche, so scheint es, wird noch empfunden. Das gesamte Rundfunkgelände mit allen Gebäuden und allem Inventar hat der rot-rote Senat kürzlich an einen Privaten verramscht – für unglaubliche 350.000 Euro! Wieviel Euro wurden für den Großen Sendesaal mit seiner weltberühmten Akustik dabei veranschlagt? Der Kapitän am Mikro war betont zurückhaltend, nicht das übliche Hauen und Stechen gegen die tote DDR, wie sonst auf den Schiffen, vor allem in der Innenstadt.

Bei Aldi der bekannte abgestandene Geruch. Immer wenn ich hier bin, will mir die Erinnerung an unseren guten alten Konsum kommen. Wurschtlig, ein viel zu kleines Angebot. Die Kassenfrauen genauso unfreundlich, aber schneller, getrieben von der Angst um den Arbeitsplatz. Das ist der auffallendste Unterschied. Ich lächle sie an, wenn sie „Hallo“ sagen. Dann lächeln auch sie, dankbar, so scheint es, und ihre Verdrossenheit weicht. Heute nicht viel eingekauft: Brot, Milch, ein bisschen Belag. Die Verkäuferin seufzte, es lohnte sich kaum, den Betrag in die Kasse zu tippen. In der Halle kaum Menschen,
der Mann nach mir legte nur ein Bündel Porree aufs Band. Man merkt, die Mitte des Monats ist überschritten, jeder muss rechnen. Wann wird das bewährte alte Anschreibesystem wieder eingeführt?
 
A

Arthrys

Gast
hm,

ein dunkler Text, mit zwei kleinen Lichtblitzen (Kater und Kassenfrau). Vielleicht sollte dein Protagonist den schweren Vorhang einmal für einen Augenblick beisteite schieben. Es soll auch noch ein wenig Sonne geben, auf dieser Erde, und der Frühling kam früh in diesem Jahr.
Gruß
Arthrys
 
A

Arthrys

Gast
hm,

Schatten sind für mich die Dinge, die sich auf der Erde im Augenblick immer mehr ausbreiten. Sie heißen z.B. übertriebener Egoismus, Verantwortungslosigkeit, Zynismus, Machtgier, Brutalität usw. usw. gekleidet in "Global-Kapitalismus Extrem", Losung: Macht und Geld.
Dem stehen gegenüber Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Erschöpfung, gekleidet in Armut. Armut hat keine Lobby, und wenn doch, hat sie die GRöße eines Stecknadelkopfes.
Unterschwellig hast du all diese Dinge beschrieben, aber nicht benannt. Aber das macht nix. Kam trotzdem rüber.
Gruß
Arthrys
 
H

HFleiss

Gast
Arthrys, wenn ich die Augen davor verschließe, und das tun die meisten Menschen, verschwinden sie nicht. Sich der Dinge erst einmal bewusst zu werden, das ist der erste Schritt. Man muss sie aber erst einmal kennen.

Hanna
 



 
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