Tapfer

AnSuBa

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Ich bin Hanna Winter. Sagt das nicht schon alles? Nein, vermutlich nicht. Wie antwortet man auf die Frage: „wer bist Du?“ Was würde ich zuerst erzählen? Was würde ich überhaupt erzählen? Also, ich könnte von vorne beginnen.

Geboren wurde ich vor 37 Jahren in einer mittelgroßen Stadt im Norden, die am Meer liegt und einen schönen alten Stadtkern hat. Im Norden, in dem die Menschen eigen sind, härter im Nehmen und vielleicht auch Geben, viele no-nonsense Typen (ach, wie liebe ich diese Beschreibung): direkt, klar, vergleichsweise schweigsam, kühl, so wie das Wetter – etwas rauer, etwas wilder, etwas trotziger.

Vor 37 Jahren also kam ich in diese Welt und in eine Familie, die dem äußeren Anschein nach heil – vielleicht auch dem inneren – in landläufigem Sinne war. Ein Vater, der in einer der Werften in der Stadt als Maschinenführer arbeitete und sich zum Vorarbeiter hochgeschuftet hatte, weil er fleißig war, verlässlich, und mit seinen Arbeitern meist den richtigen Ton fand. Ein Vater, der klar trennte zwischen Aufgaben von Männern und Frauen und der daher im häuslichen Bereich wenig zu gebrauchen war. Mit einer für einen Mann seiner Generation und Tätigkeit zärtlichen Liebe für seine Söhne, fast alle seine Söhne, und vielleicht auch mit Liebe für mich, seiner einzige Tochter, der er aber keinen Ausdruck zu verleihen wusste. Mit mir wusste er nie etwas anzufangen und ich möchte bis heute glauben, dass es nur mit meinem weiblich-Sein zu tun hatte und nicht mit mir selbst. War ich anders? Ja und nein. Ein Mädchen halt, eine Tochter unter drei Söhnen, von denen einer – mein jüngster Bruder – nicht der Vorstellung meines Vaters von einem Sohn entsprach. Aber es gab ja zwei ältere, die ‚echte‘, ‚kernige‘ Bengel waren, so wie mein Vater auch sich selbst sah und in die er all seine Zuneigung, die er für Kinder empfinden konnte, steckte.

Meine Mutter, eine warmherzige und liebevolle Person, schüchtern und anhänglich zugleich, war ihrem Manne in allem ergeben, führte seinen Haushalt, gebar seine Kinder, versorgte stets ihn zuerst und erst dann uns und ich weiß bis heute nicht, ob sie auch jemals an sich selbst dachte, ja, ob sie selbst jemals eigene Wünsche und Ansprüche überhaupt entwickelte, ob sie sich selbst als ein eigenständiges Wesen ansah. Das ist ziemlich traurig, so im Nachhinein betrachtet, aber ich weigere mich anzunehmen, dass sie unglücklich war. Für sie schien nur immer festzustehen, dass sie mit und durch meinen Vater existierte, dass sie keine eigene Meinung, keine eigenen Vorlieben und Wünsche, keine eigenen Sehnsüchte hatte, die von denen meines Vaters abwichen.

Ich liebte sie und ich liebe sie immer noch und ich kann nicht zu lange darüber nachdenken, was aus mir, was aus uns allen geworden wäre, wenn ich noch heute zuhause anrufen könnte, ihre etwas außer Atem gekommene Stimme hören würde, die so gerne und leicht und wunderschön singen konnte, die sagte „Liebes, wie schön, dass Du Dich meldest.“

Ja, meine Mutter… In meinen Gedanken wird sie immer mehr zu einem Engel der Wärme und ich klammere mich an dieses Bild, mehr bleibt mir nicht. Meine wunderbare, etwas verhuschte Mutter, mit den blond-umrandeten, dunkelblauen Augen, die so freundlich und mitfühlend in die Welt blickten, den vielen bronzenen Sommersprossen überall – sogar auf den Ohren – den kastanienbraunen Haaren; und mit einem Körper, der wie geschaffen schien für das Nähren anderer Menschen, hat uns verlassen, als ich zwölf Jahre alt war. In meinem Wohnzimmer und auf meinem Nachttisch steht je ein Foto von ihr, das im Schlafzimmer zeigt sie, wie sie mich als Baby auf dem Arm hält und so glücklich und gelöst in die Kamera blickt, die sie eingefangen hat, als sie im Nachthemd noch und barfuß mit offenen, zerzausten Haaren das kleine Bündel auf dem Arm trägt, ihre Wange an die des Kindes geschmiegt und ihr die vollkommene, unbedingte und alles überstrahlende Liebe ins Gesicht geschrieben steht, dieses Bild, das mich nicht loslässt und dass ich nicht loslasse. Alles was für mich zählt, ist, dass dieses Baby auf ihrem Arm, dem die Liebe und die Freude und ja, auch der Stolz, gilt, ich bin. Alles, was mir meine Mutter geben konnte und gegeben hat, ist auf diesem Foto zu sehen und enthält mein Kapital fürs Leben.

Fünf Jahre später wurde mein jüngster Bruder geboren, der letzte in der Reihe, und ich weiß nicht, ob meine Eltern überhaupt noch bereit waren für ein weiteres Kind. Vermutlich hätte das keine Rolle gespielt, wäre er ein Kind wie meine älteren Brüder gewesen, voller Kraft, mit ungestümem Wesen, laut und mit rosig frischen Wangen. Aber schon, als meine Eltern mit dem neuen Baby nach Hause kamen, spürte ich, dass etwas anders gewesen sein musste. Ich hatte mich auf das Baby gefreut. Endlich würde ich nicht mehr die jüngste sein, hätte ein kleines etwas für mich, vielleicht wie ein Kätzchen, das ich mir vergeblich gewünscht hatte, auf jeden Fall aber ein Spielkamerad, vielleicht auch Spielzeug, der mich nicht ständig ärgern, meine Socken verstecken, meine Stifte zerbrechen, über meinen geliebten Stoffhasen lachen würde. Ja, ein kleines Wesen, das ich mit kindlicher Kraft lieben würde und das mich zurück lieben würde. Da war ich sicher. Und ja, wir wurden so ein Geschwisterpaar, eng verbunden, unzertrennlich zunächst und einander zugetan. Mich störte es nicht im Geringsten, dass er nie richtig sprechen lernte, dass er schielte und man daher nie genau wusste, ob er einen nun ansah oder nicht, dass er Schwierigkeiten hatte, auch nur einen Löffel so zu halten, dass nicht der gesamte Inhalt sonst wo landete, nur nicht in seinem Mund. Dieses Mündchen, das so lebendig schien, immer ein wenig glänzte durch den Speichel, der nie ganz verschwand, und das sich so reizend spitzen konnte, dass ich eine Zeit lang versuchte, meinen Bruder zu dressieren. Hat nie ganz geklappt und so blieb ich immer gespannt und beobachtete ihn genau, wann es wieder passierte um mich daran zu erfreuen. Ich küsste ihn dann und an dem Strahlen in seinen Augen erkannte ich, dass es ihn erfreute.

Bei der Geburt musste etwas schief gelaufen sein. Allerdings erzählte meine Mutter mir nie, was, und dann war es zu spät. Ärzte haben mir später erklärt, dass es zu gravierendem Sauerstoffmangel unter der Geburt gekommen sein muss, das Kind lag sehr ungünstig und in den entscheidenden Momenten hatte meine Mutter keine Kraft zum Pressen mehr gehabt. Ihr Herz war schon zu dieser Zeit angegriffen und geschwächt, hätte mein Vater das gewusst, wäre es vielleicht nicht zu diesem letzten Kind gekommen. Wer weiß.

Nachdem meine Eltern nun mit diesem neuen Bündel nach Hause gekommen waren, ging äußerlich alles weiter wie bisher. Meine Mutter versorgte uns Kinder, kochte, wusch, putzte und versuchte, die Enttäuschung meines Vaters mit hochdosierter Freundlichkeit und Wärme zu kompensieren. Aber etwas hatte sich verändert, ich konnte es spüren. Wenn mein Vater das Wort an meine Mutter richtete, was zunehmend seltener geschah und sich auf häusliche Dinge beschränkte, so schwang nicht mehr die vorher immer dagewesene Güte mit, kein Wohlwollen mehr, und immer weniger Interesse. Das Verhältnis zwischen meinen Eltern wurde kühler, distanzierter und ich begann zu sehen, wie sehr meine Mutter darunter litt. Wenn ich sie am frühen Morgen in der Küche antraf, wo sie die Frühstückspakete für Vater und uns Kinder vorbereitete, lächelte sie nicht mehr. Ihr Blick wurde sorgenvoll, die Schatten unter ihren Augen wurden größer und tiefer und einmal wurde ich in der Nacht von ihrem Schluchzen geweckt, als sie sich in unserem kleinen Badezimmer eingeschlossen hatte und mit einem Handtuch vor dem Mund versuchte, ihr Weinen nicht zu laut werden zu lassen, dass sie jemanden weckte. Ich blieb in jener Nacht vor dem Bad sitzen, auf dem kalten Fußboden, dessen glatte kühle Oberfläche zwar keine Abdrücke auf meinen Beinen hinterließ, dessen Kälte mir aber bis ins Herz kroch. Ich fühlte mich unendlich verlassen und weinte aus purer Traurigkeit, die ich nicht verstand, stille Tränen mit, die mir auf die Knie tropften und kalt wurden. Als ich mich schneuzen musste, wurde es plötzlich still im Bad, das Schloss ging und meine Mutter kam heraus. Ihr Gesicht war rotgefleckt, ihre Augen verquollen und als sie mich sah, füllten sich ihre Augen mit so viel Tränen, dass sie unheimlich glänzten. „Ach, Hanna-Kind.“ sagte sie mit brüchiger, zittriger Stimme und sie beugte sich zu mir herunter, griff meine Hand und zog mich mit in die Küche – ihr liebster Ort. „Du kannst doch nicht auf dem kalten Boden sitzen, da wirst Du doch krank! Warum schläfst Du denn nicht? Musst Du auf Toilette?“ Ich nickte und schüttelte den Kopf und mir kullerten die Tränen und ich wollte nur meine Mutter umarmen, da sie nicht mehr weinen sollte und ich wünschte mir, sie würde mich trösten und mir in einer engen Umarmung ins Ohr flüstern, dass alles gut werde. Sie nahm mich auch in den Arm und drückte mich fest an sich und strich mir immer wieder über den Rücken und den Kopf, aber sie sagte nichts. Vielleicht gab es einfach nichts zu sagen, ich weiß es nicht mehr.

Die Traurigkeit meiner Mutter sollte noch weitere Jahre dauern und manchmal, wenn es mir besonders schlecht geht, dann halte ich in Gedanken Brandreden gegen meinen Vater, die ich mir als Jugendliche nur exakt zweimal im direkten Angriff erlaubt habe. Wäre er freundlicher gewesen, hätte er nicht meiner Mutter die Schuld an der schweren Behinderung meines sanftmütigen, wunderbaren und liebevollen Bruders gegeben und sie den Rest ihres Lebens mit Schweigen, mit Desinteresse, mit Bitterkeit gestraft, dann, ja dann wäre sie vielleicht nicht gestorben. Und ich hätte ein anderer Mensch werden können, ein optimistischerer, ein leichtfüßigerer, ein vertrauensvollerer. Dann hätte ich nicht mit zwölf erwachsen sein müssen, und die Aufgaben meiner Mutter übernehmen, meinen älteren Brüdern und meinem Vater das Essen machen, ihre Wäsche waschen, die Wohnung in Ordnung halten müssen. Und nicht alleine für das Wohl meines jüngeren Bruders sorgen. Mein Vater machte nämlich von Anfang an klar, dass er nicht für ihn sorgen würde, dass er ins Heim käme, wenn ich mich nicht kümmern würde, dass er meine Aufgabe sei. Ich bin bis heute froh, dass mein Bruder nie in der Lage war, zu verstehen, was mein Vater da androhte, obwohl er die Abneigung voll und ganz spüren musste.

Heute lebt mein jüngster Bruder in einer betreuten Wohngemeinschaft einer Stiftung mit wohlklingendem Namen, mit sehr aufmerksamen und wohlmeinenden Betreuerinnen und Pflegern, er kann sogar ein paar Stunden am Tag in einer Werkstatt mithelfen, die sich der Landschaftspflege widmet. Viele seiner neuen Mitbewohner und Freunde arbeiten in den unterschiedlichen Betrieben, die zur Stiftung gehören und ich bin sicher, dass mein Bruder glücklich dort ist. Zumindest macht er diesen Eindruck, auch wenn er zu Beginn nicht begreifen konnte, dass er da bleiben soll. Ich habe ihn versorgt, bis ich einundzwanzig Jahre alt war und meinen ersten Studienabschluss in der Tasche hatte. Für meinen Master wollte ich in eine andere Stadt ziehen und auch, wenn mein Vater mich nicht weiter finanzieren wollte, war mir klar, dass ich gehen müsste, wollte ich nicht versauern und mein Leben vergeuden mit der Pflege, Betreuung und Versorgung meines Vaters und meines Bruders. Ich suchte also diese Stiftung, sah mir alles an und entschied, dass dies der Ort sei, an den ich meinen Bruder schicken konnte, ohne mich schlecht zu fühlen. Ich besorgte alle Papiere und organisierte den finalen Umzug, und machte sowohl meinem Vater als auch meinen älteren Brüdern, die sich in der ganzen Sache sehr bedeckt hielten und immer wenig Interesse oder Zuneigung für ihren jüngeren Bruder gezeigt hatten (da waren sie offenbar ganz in die Spuren meines Vaters getreten), deutlich, dass sie würden zahlen müssen. Nachdem ich fast zehn Jahre lang neben der Schule und neben dem Studium, ja, neben meiner Kindheit und Jugend, meinen Bruder versorgt und gepflegt hatte, mit ihm zum Arzt gegangen, die Sonderschule gesucht und ihn hingebracht und abgeholt hatte, so gut es ging, war es jetzt an der Zeit, dass ich mein eigenes Leben in die Hand nehmen musste. Es würde meinem Bruder gut gehen und ich würde ihn regelmäßig besuchen. Bezahlen durften die anderen. Obwohl insbesondere meine älteren Brüder zunächst protestierten, zeigten sie sich schließlich einsichtig und waren im Grunde froh, dass sie sich so leicht aus der Nummer herauskaufen konnten. Auch mein Vater stimmte der weitgehenden Finanzierung der Unterbringung und Versorgung von Maik zu und so war es am Ende beschlossene Sache.

Mit seinem Umzug jedoch begann auch für mich ein neues Leben, ich fühlte mich zum ersten Mal seit langer Zeit frei. Obwohl ich zunächst große Sehnsucht und ein noch größeres schlechtes Gewissen hatte, legte sich bald zumindest das schlechte Gewissen, da mein Bruder anfing, seine neue Umgebung anzunehmen, endlich merkte, dass er nicht der einzig Besondere Mensch auf dieser Welt ist und dieses Gefühl der Zugehörigkeit und Akzeptanz, das er in und von der Stiftung und all der netten Menschen, die dort wohnten und arbeiteten, bekam, ihn auf neue Weise strahlen ließ. Glücklicher hatte ich ihn selten erlebt und wenn ich ihn besuchen kam, was ich wirklich alle zwei Wochen machte, dann gurgelte er vor Aufregung und Freude, mir alles zu zeigen, zu erklären und war so stolz auf seine Arbeiten, dass es mir regelmäßig die Tränen in die Augen trieb. Ich brachte ihm immer Nutella-Sandwiches mit, die er auch als Kind schon so geliebt hatte und selbst wenn das seltsam anmutet, so wurde dies unser Ritual und mein Bruder freute sich unendlich, wenn ich diese kleinen, randlosen, weichen Weißbrotscheiben, die dick mit der Schokoladencreme bestrichen waren, herausholte und ihm gab. Er aß sie immer sofort und wenn ich nicht mitgedacht und entsprechende Vorkehrungen getroffen hatte, dann war ich nach seiner ‚spontanen‘ Umarmung wenigstens im Gesicht und an meinem Pullover oder Shirt schokoladenverschmiert. Es machte mir jedoch rein gar nichts aus.

Mit 21 Jahren fühlte ich mich also zum ersten Mal frei und es war klar, dass ich meine Stadt verlassen würde, um weiter zu studieren. Meinen ersten Abschluss hatte ich in zwei Jahren hingelegt, womöglich war das jahrelange Training in Selbstorganisation hilfreich gewesen, was bestimmt jedoch auch nicht ganz unwichtig war, war das Stipendium, das ich erhielt verbunden mit einem Darlehen, das ich nicht würde zurückzahlen müssen, wenn ich meinen Abschluss in zwei Drittel bis drei Viertel der vorgesehenen Regelstudienzeit mit einer gewissen Note schaffen würde. Nun ja, das hatte ich und so blickte ich einem weiteren Stipendium entgegen und war unendlich froh, dass ich nicht nebenher arbeiten müsste, zumindest nicht notwendigerweise, allerdings war für mich auch immer klar gewesen, dass ich auf keinen Fall in der Pflege oder Versorgung oder Ähnlichem gearbeitet hätte. Mein Traum war, in einer Bibliothek oder Buchhandlung zu arbeiten oder im Stadtarchiv oder bei der Polizei. Noch hatte ich mich nicht näher damit beschäftigt, ich wusste nur, dass ich gerne recherchierte, knobelte, unnötiges aber interessantes Wissen anhäufte, auf literarische oder historische oder psychologische Spurensuche ging und ich war gespannt, wohin mich meine Neigungen treiben würden.

Oft musste ich dabei an meine Mutter denken und fragte mich, ob ihre Zurückhaltung darin, eigene Wünsche zu formulieren oder auszuleben, bei mir zu einem Übermaß an Umtrieben geführt hatte, dass ich versuchte, die Welt in all ihren bunten Farben, in all ihren Facetten aufzusaugen, auszuprobieren und sie zu verfolgen. Wer weiß. Vielleicht musste ich aber auch nicht nur dieses Fehlen sondern auch die an mir selbst erlebten Einschränkungen kompensieren.

Ich bin ziemlich gut in der Schule gewesen, nicht die allerbeste, aber in beinahe jedem Fach überdurchschnittlich. Besonders mochte ich die Naturwissenschaften und Geschichte und ich hatte das große Glück, zwei Klassenlehrer zu haben, Frau Grothe und Herrn Lehmann, die meine Lust am Lernen und die Mühelosigkeit, mit der ich meine schulischen Aufgaben erledigte, nicht nur bemerkten, sondern sich irgendwann verabredet hatten, mich gezielt zu fördern. Sie schlugen mir immer wieder vor, in bestimmte AGs zu geben, nominierten mich für spezielle Programme der Nachmittagsgestaltung, die ich so gerne besucht hätte, versuchten bestimmt mindestens einmal im Jahr meinen Vater zu überreden, mir wenigstens ein paar der Kurse zu ermöglichen und – als das alles nichts half, da mein Vater mich im Haushalt brauchte und nicht sehen konnte, warum er jetzt nun ausgerechnet mich fördern sollte, wo er doch zwei ältere, kernige Söhne hatte (und außerdem, die Schulbank drücken und irgendwelche Firlefanzkurse belegen, war ja auch nichts für wilde Jungs), die nicht für irgendwelche Programme vorgeschlagen waren. Insgeheim war ich ganz fürchterlich stolz auf mich und mir reichte eigentlich das Wissen um die Bemühungen meiner Lehrer, später machte mich die Tatsache recht traurig, dass ich nichts davon habe wahrnehmen können. Für den Moment jedoch erinnere ich mich, dass ich mich freute. Auch dass ich vor meinen Brüdern gewählt worden war, machte mich glücklich – auch wenn es bedeutete, dass sie mich noch mehr ärgerten und mich ständig damit aufzogen. Trotzdem, mir blieben die Wettbewerbe, die Matheolympiade, der Geschichtswettbewerb und der ein oder andere Bio- und Physikkontest.

Die Schule war also immer ein Ort der Zuflucht für mich gewesen, ein Ort der Zufriedenheit und auch ein Ort, an dem ich wahrhaft glücklich war. Meine MitschülerInnen ließen mich weitgehend in Ruhe, ich hatte wechselnde Freundinnen, immer so, wie es sich ergab und als ich den Verlust meiner Mutter verkraften musste, wusste kein anderes Kind und ich glaube, auch meine Lehrer nicht, mir gut zu helfen. Ich verpasste drei Monate Schule, da mein Vater mich vom Unterricht befreite – nicht, damit ich trauern kann, sondern weil er total überfordert war, mit seinem Ärger und ich denke auch, mit seiner Traurig- und Bitterkeit, die ich ihm in dieser Zeit einmal unter Tränen und in größter seelischer Verzweiflung ins Gesicht schrie. Ich hatte ihn zuvor noch nie so zornig und ängstlich gleichzeitig erlebt und sein Entsetzen über meine Vorwurf äußerte sich in einer schallenden Ohrfeige, die mir so scharf auf der Wange und meinem Ohr brannte, mir einen Hörsturz mit Schwindel verursachte, dass ich mich tagelang im kleinen Zimmer, das ich mir mit meinem jüngeren Bruder Maik teilte, verkroch und bestimmt zwei Monate nicht mit meinem Vater und auch nicht mit meinen älteren Brüdern sprach.

Seltsamer Weise ließ mein Vater mich gewähren, erklärte der Schule, dass ich Ruhe und eine Auszeit benötigte, und erwähnte den Vorfall nie wieder. Im Gegenteil, er tat, als wäre es nicht geschehen und verlangte von mir die Übernahme der Aufgaben, die vorher meine Mutter erledigt hatte. Es war eine schreckliche Zeit. Ich kam mir falsch vor, bei jedem Handgriff, den ich tat, sei es das Geschirr in die Spülmaschine stellen oder das Wohnzimmer staubsaugen, die Wäscheberge abtragen, oder auch meine zunächst sehr ungelenken Versuche, ein Essen für alle zu kochen, sah ich meine Mutter vor mir und es wollte mir nicht in den Kopf gehen, dass ich sie einfach so ersetzen sollte und offenbar konnte. Ich wollte keines dieser Dinge tun, da ich so dachte, dass ich hiermit auch den Geist meiner Mutter verdrängte, ihre Essenz, die in jedem Raum, in jedem kleinen Detail und auf, über und in mir war, mich streichelte und umfing, und auch und vor allem in meinem Bruder, der so lange nicht verstand, dass sie nicht wiederkäme, der zu Beginn nicht wollte, dass ich ihn anzog und ihm sein Brot oder Obst reichte, dass ich mit ihm ins Bad ging um ihn zu waschen. Er stieß mich einfach zurück und rief immer nur nach Mama. Und wenn ich vor Erschöpfung, Verzweiflung, Trauer oder einfach nur weil ich die Nerven verlor, zu weinen begann – zunächst wollte ich nicht, dass Maik mich weinen sieht, aber irgendwann schaffte ich das nicht mehr und heulte laut in seinem Beisein, während ich ihm seine Hose, seine Strümpfe, sein Shirt anzog - dann endlich begann auch er zu begreifen, dass Mama nicht mehr da war. Ich hielt das alles nur schwer aus und in dieser Zeit ging etwas in mir kaputt und verloren.

Ich spürte aber auch, und das war vielleicht die Kraft der Jugend oder Kindheit, dass ich wieder etwas anderes tun musste, dass ich mich nicht aufgeben wollte, dass Leben und auch Lust auf das Leben in mir war, die hinaus wollte, die gelebt werden wollte und so nahmen zwei Dinge langsam konkrete Gestalt an. Ich schwor mir, dass ich nie dafür verantwortlich sein wollte, dass jemand anderes dieselbe Erfahrung wie ich machen musste. Ich würde keine Kinder haben. Ich musste plötzlich mutterlos meine eigene Mutter sein, und das konnte ich nicht. Die Vorstellung, irgendwann einmal eigene Kinder zu haben, überforderte mich und strengte mich schon beim bloßen daran denken an. Also war mir klar, dass mit mir nicht passieren würde.

Diese Entscheidung erleichterte mich sehr und ebnete mir den Weg zur zweiten Konsequenz meines Verlustes: Ich stürzte mich auf das Lernen, ich lernte und las alles, was mir zwischen die Finger kam, die kleine Schulbibliothek bot mir schon bald keinen Platz und keine Neuigkeiten mehr und ich bat meine Lehrerin Frau Grothe, mit mir einen Stadtbücherei-Ausweis für mich zu beantragen. Meinen Vater konnte und wollte ich nicht bitten und nach ein wenig Auseinandersetzungen mit den Menschen von der Bücherei, die sich vor allem darum drehten, wer die Bezahlung übernimmt, wenn ich Ausgeliehenes nicht rechtzeitig zurückgab, der Ausweis selbst war für Kinder und junge SchülerInnen kostenlos, bekam ich den Ausweis. Frau Grothe, diese wunderbare Frau, die in der Zeit nicht nur meine Lehrerin war, sondern ebenfalls auch meine Not erkannte, sich für mich einsetzte und mich auch, wenn sie es nicht mehr aushielt, mal in den Arm nahm. Sie duftete immer nach Kirsche und hatte oft weiche, anschmiegsame Stricksachen an. Und auch, wenn sich ihre Umarmungen zunächst fremd und merkwürdig anfühlten, so war doch Frau Grothes Warmherzigkeit und Zuneigung und Interesse für mich so spürbar, dass ich irgendwann diese Umarmungen herbei sehnte.

Nach unserem erfolgreichen Bibliotheksstreifzug – Frau Grothe würde alle Kosten übernehmen, die durch mich entstünden, wobei ich mir schwor, ihr nie auch nur einen Cent schuldig zu bleiben – ging sie mit mir feiern und lud mich zu einem großen Eisbecher in einem nahen Eiscafé ein. Beides waren neue Erfahrungen für mich, das Zelebrieren und die Einladung zum Eis.

Mit der Zeit wurde Frau Emilia Grothe zu meiner engsten Bezugsperson, wie eine Oma oder Tante, die ich aufsuchte, die ich anrief, die für mich da war, die mit mir in die Stadt zum Einkaufen ging, wenn ich neue Schuhe oder eine Jacke für meinen Bruder brauchte, die mit mir zum ersten Mal zur Frauenärztin ging (mit Erlaubnis meines Vaters), die mir dabei half, über den Verlust meiner geliebten Mama hinwegzukommen. Sie war es auch, die mir vorschlug, ein Tage- oder Briefe-Buch an meine Mutter zu verfassen, so dass ich mich ihr nah fühlen könnte, wann immer ich wollte und sie schenkte mir zum ersten Geburtstag, an dem ich nicht von meiner Mutter liebevoll geweckt wurde, ein wunderschönes Notizbuch, mit goldenem Schnitt, feinen, zarten, abgerundeten Seiten und einem filigranen unaufdringlichen Blumenornament auf dem Umschlag.

Beim Durchblättern der Seiten, das mir eine unerklärliche Freude machte – dieses satte, leise Rauschen, entstieg dem Notizbuch ein frischer, holziger Duft nach Papier, so unverbraucht und rein, dass ich am liebsten meine Nase darin versenkt hätte. Ich wollte sofort losschreiben und irgendwie spürte ich meine Mutters Anwesenheit, ihre Zustimmung und ihre Erlaubnis. So elend ich mich in jener Zeit fühlte, war dies ein lichter Moment, ein kurzer, aber mächtiger Ausblick auf eine friedlichere und freudvollere Zeit und ich war Emma, wie ich sie später nennen durfte, als sie nicht mehr meine Lehrerin war, sondern meine Freundin wurde, so unendlich dankbar dafür.

Dieses erste Notizbuch besitze ich noch heute. Ich habe es durch die vergangenen Jahre gerettet und noch heute kann ich mit diesem die Erinnerung an meine Mutter heraufbeschwören und in meinen dunkelsten Momenten verschafft es mir ein wenig Trost, da ich ihr dann besonders nah bin und sicher, dass ich sie finden würde. Das Notizbuch, das von der ersten bis zur letzten Seite vollgeschrieben ist, kleine, enge, kindliche Kritzeleien –überwiegend mit Bleistift, so dass ich manchmal versucht bin, die Buchstaben und Wörter nachzuzeichnen und es fürchterlich schwierig finde. Ich verliere mich zu schnell und muss vielleicht weinen, oder lachen, oder beides zusammen. Auf jeden Fall bin ich dann plötzlich nicht mehr allein. Ja, dieses Notizbuch wurde zu meinem Talisman, meinem Schutzschirm und gab mir die Möglichkeit, zu überleben.

Neben dem Notizbuch hatte mir Frau Grothe zu meinem Geburtstag Nr. 1 nach dem Ende der Welt auch einen Kuchen gebacken, den sie mit in die Schule brachte. Ich erinnere es noch genau, Mandarine-Quark-Kuchen mit einem Mürbeteigboden und 13 Kerzen oben drauf und ein paar Schokolinsen, die so gar nicht zu dem Kuchen passten. Mir schnürte es ziemlich die Luft ab und ich hätte auf der Stelle losheulen können, zum einen, weil ich mich so überwältigt fühlte, so merkwürdig gesehen; es war, als verließe mich alle Kraft und ich hätte mich am liebsten zu einer winzigen Kugel zusammengerollt und zum anderen, vor Glück, denke ich. Ich konnte nicht fassen, dass – obwohl meine Mutter nicht mehr da war und ich mich so allein und verlassen fühlte – jemand mir einen Kuchen und ein Notizbuch schenken würde.

Zuhause hatte ich nicht auf meinen kommenden Geburtstag hingewiesen und mein Vater und meine Brüder schienen den Tag wirklich vergessen zu haben. Ich erinnere, dass ich schon heulend morgens das Haus verließ, weil niemand auch nur erwähnt hatte, dass heute vielleicht ein besonderer Tag sei. Diese Ungerechtigkeit machte mich schwach. Aber als ich später am Tag nach Hause kam, fand ich auf meinem Bett eine kleine Karte und das Foto von meiner Mutter mit mir als Baby im Arm. Gerahmt und hinter Glas.
‚Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Hanna. Sei stark und bleibe tapfer. Dein Vater‘.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo AnSuBa, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

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