Teamwork

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H

HFleiss

Gast
Sein Optimismus hatte nicht lange angehalten. Schon nach den ersten Absagen war es mit seiner Laune vorbei. Mittags an den Briefkasten zu gehen, wenn die Postbotin kam, dazu konnte er sich schon seit Wochen nicht mehr aufraffen.

Dabei saß Wohlgemuth nach der Kündigung erst vier Monate zu Hause herum, unrasiert, in seinen Dreckjeans, und von morgens bis abends vor dem Fernseher. Er hätte als Baumaschinist arbeiten können, Baumaschinist hatte er in der DDR gelernt und auch ein paar Jahre auf dem Bau gearbeitet. Dann hatte er sich entschlossen, doch noch zu studieren, Verkehrstechnologie, an der Technischen Universität Dresden. Sein Studium fiel in die Wendezeit, er war ein Halber, ein Halber Ost, ein Halber West.

Beinahe wäre es mit dem Diplom nichts geworden. Professor Weise hatte ihn bei den Prüfungen abserviert, Wohlgemuth legte Widerspruch ein, und am Ende war er doch noch durchgerutscht. Ein widerlicher Bursche, dieser Weise. Jahrzehntelang den Leuten den Sozialismus eintrichtern, ihr seid unsere intellektuelle Avantgarde, hoho!, und wenn es ernst wurde, zurückzucken und den Kapitalismus heilig sprechen. Weise hatte ihn durchfallen lassen, als Retourkutsche für die Andeutung, damals, als plötzlich die neue Zeit über die Hochschule hereinbrach. Dank Widerspruch aber hatte er den Diplomingenieur dann doch in der Tasche. Nur eine Stelle in seinem Fach, nein, die hatte er bisher nicht finden können.

Zum Glück hatte er neben dem Studium seinen Maklerschein gemacht, war nach seiner Heirat mit Claudia und der Geburt der Tochter Jenny in eine kleine englische Firma eingetreten, die fusionierte aber nach drei Jahren mit einem Immobilienriesen, und er, das Zugpferd mit dem größten Umsatz, saß jetzt zu Hause, vor dem Fernseher mit seinem pottlangweiligen Programm. Es war ungerecht.

Akquise wird gesucht, beinahe von jeder dritten Annonce. Wohlgemuth schlug die Zeitung zu. Lächerlich, die Firmen taten, als suchten sie einen Kandidaten für das Bundespräsidentenamt, mit fetten, protzigen Lettern, doch wenn man genau las, handelte es sich wieder nur um Akquise. Nicht ein einziges Inserat, das Diplomingenieure in seinem Fach suchte. Ihm blieb eben nur die Akquise. Vorläufig. Bis es wieder mal klappte mit einem richtigen Job, entweder als Ingenieur oder im Immobilienmaklergeschäft, mit Dienstwagen, Provision und zahlungskräftigem Kundenstamm.

Herrgott, er war schon einundvierzig, und wenn er jetzt nichts fände, wäre es Essig mit der Karriere und dem von Claudia erträumten Häuschen auf Ibiza.

Claudia, wenn er nicht immer an sie denken müsste. Auch jetzt, während er die Annoncen überflog, ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Als ob sie hinter ihm stünde und ihn zur Räson riefe.

„Mach im Job alles, was du vor dir selbst vertreten kannst“, sagte sie erst neulich. „Aber denk immer daran, wo du hergekommen bist und dass du am nächsten Morgen wieder in den Spiegel sehen musst. Also zieh deine Kunden nicht über den Tisch, auch wenn das Provision bringt und das deinem Chef gefällt. Damit schadest du dir am meisten selbst.“

Diese Unbedingtheit! Doch wenn sie anders wäre, würde er sie dann lieben können? Trotzdem war er wütend geworden. „Aber das Häuschen auf Ibiza“, hatte er geantwortet, „das willst du haben! Wie, glaubst du, sind andere dazu gekommen – allein mit ehrlicher Arbeit?“ Darauf hatte sie nichts antworten können.

Es musste etwas geschehen. Claudia, wenn sie in der Dunkelheit von der Arbeit kam und sich auf der Couch an ihn lehnte wie an ein Sofakissen, murrte. „Soll ich etwa die Brötchen anschaffen“, fuhr sie ihn an, „oder wie denkst du dir das das? Denken“, fügte sie höhnisch hinzu, „das Denken hat sich der Herr abgewöhnt, seit er dafür nicht mehr bezahlt wird.“

Den Hohn hörte er wohl, tat dann aber so, als sei alles in Ordnung, und widmete sich weiter dem Vorabendkrimi im Fernsehen. „Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte er bloß. Auf die Palme brachte sie ihn mit ihrer Drängelei! „Was willst du eigentlich von mir“, sagte er abschließend. Es war klar, dass er keine Antwort erwartete.

Eines Abends kam Claudia mit einer Handvoll Post vom Briefkasten hoch. „Hier, du fauler Sack“, sagte sie und warf den Packen auf den Tisch.

Er ließ sich Zeit. Die drei großformatigen Briefe, die seine Bewerbungsunterlagen enthielten, ließ er ungeöffnet auf den Tisch fallen. Absagen, was sonst. Ein längliches Kuvert war übriggeblieben. Er stutzte. Eine französische Firma, der Name Jubac sagte ihm nichts. Abfallentsorgung, Recycling von Rohstoffen, Dependancen in aller Welt, las er. Ach ja, jetzt erinnerte er sich: die Annonce vor einiger Zeit. Er riss den Brief mit dem Zeigefinger auf, las. Ein Termin für ein Vorstellungsgespräch in der nächsten Woche! „Lumpensammler“, brummte er dennoch lustlos und so leise, dass Claudia es nicht hörte. Aber genau richtig qualifiziert für die Stelle war er. Spaßeshalber hatte er vor einem Jahr seinen Umweltberater gemacht. Er hielt nicht viel davon, und niemals hatte er ernsthaft geglaubt, dass er ihn eines Tages brauchen könnte.

„Abfallentsorgung“, sagte er und warf einen schnellen Blick zu Claudia hinüber, die ihn angestrengt von der Tür aus beobachtete.
„Vorstellungsgespräch“, sagte er.

„Na also“, sagte Claudia und verschwand in die Küche.

Die Firma Jubac hatte ihren Sitz in Reinickendorf, im ersten Stock eines frisch sanierten Wohnhauses. Im Erdgeschoss hockte ein Pförtner in einer pompösen Loge. Wohlgemuth hatte sich in Schale geworfen, sein guter Anzug kam ihm heute enger vor als sonst, der Bund schnürte am Bauch, er fühlte sich aufgeschwemmt. Der linke Schuh drückte, er hatte vom U-Bahnhof laufen müssen. Auf der Treppe fuhr er sich prüfend mit der Hand über das Kinn. Obwohl er zehn Minuten vor der Zeit eingetroffen war, ließ ihn die Sekretärin zu seinem Erstaunen sofort zum Firmenchef vor.

Wohlgemuth sah es auf den ersten Blick: Der Mann mittleren Alters, der sich hinter seinem Schreibtisch erhob, hatte Stil. Anzug, Frisur, Krawatte – alles stimmte. Eben ein Franzose, ein Franzose, wie Wohlgemuth ihn sich vorstellte.

„Sie können französisch sprechen und lesen? Fließend?“ Auf die erste Frage war Wohlgemuth nicht gefasst gewesen, natürlich konnte er kein Französisch. Ein bisschen Russisch war aus der Studienzeit hängen geblieben, und ein mangelhaftes Schulenglisch, das er nicht anzuwenden wagte. Das erste Manko. Ja, selbstverständlich, Englisch würde er sich aneignen, so schnell wie gewünscht. Nur Französisch, nein, das bringe er nicht, eine zu schwere Sprache, keine Ahnung vom Romanischen.

Wohlgemuth fühlte sich schlecht. Er war nicht er, nicht der alte Frank Wohlgemuth mit seiner gewohnten Selbstsicherheit, nicht der Beherrscher der Situation. Zu allem Ärger hatte er den Namen des Chefs vergessen. Letellier? Lepelle? Lepette? Er musste es darauf ankommen lassen. „Entschuldigen Sie, es ist peinlich“, entschloss er sich zu sagen, „ich bin etwas aufgeregt. Wie war Ihr Name?“

Herr Lapaix lächelte. „Lapaix“, sagte er dann, „Michel“, und deutete eine Verbeugung auf seinem Stuhl an. „Aber das ist verständlich, Herr Wohlgemuth. Vor Jahren, Sie glauben es kaum, saß auch ich auf diesem Stuhl.“ Wieder lächelte er. „Sie können es weit bringen bei uns. Mit Ihrer Ausbildung.“

Wohlgemuth taxierte Lapaix verstohlen: scharf hervorstoßende Nase, zupackender Blick, männliche Statur, aber nicht allzu männlich, eher grazil, das Geschniegelte störte nicht, nicht heute. Ein Fuchs. Aber sympathisch. Das Zurücklächeln gelang Wohlgemuth nun leichter.

Lapaix ergriff die vor ihm liegende Akte und hielt sie in die Höhe. „Sie haben eine ausgezeichnete Ausbildung. Diplomingenieur und Umweltberater dazu. Und wie kamen Sie auf den Maklerschein? Ausgezeichnet.“

Wie der Mann vor ihm saß, die Akte in der Hand hocherhoben – woher kannte Wohlgemuth diese Geste? Richtig, die Preisrichter! Die Preisrichter beim Eiskunstlauf, wenn sie ihre Nummernschilder über die Köpfe hielten! Eine Sechskommanull! Er hatte gewonnen, er konnte sich entspannen.

Den Schlüssel für den Wagen und die Papiere dürfe er auf der Stelle mitnehmen, der Ford, das neueste Modell, stehe auf dem Parkplatz. Wohlgemuth war so gut wie eingestellt, hatte Lapaix versichert. Bei Festgehalt plus Provision, Treibstoffverbrauch auf Firmenkosten. Ein sehr guter Job. Für Ostverhältnisse, dachte Wohlgemuth.

Lapaix machte keine Anstalten, ihn zu verabschieden. „Da wäre noch eine Kleinigkeit, Herr Wohlgemuth.“ Ein Dämpfer fürs Hochgefühl, Wohlgemuth witterte Unangenehmes.

„Aber ich denke, diese äußerst winzige Kleinigkeit, übrigens in Münster, Assessment Center, eine kleine Schulung, ein letzter Test, nicht mehr, Sie verstehen? Eine Formalität. Sie mit Ihrer Ausbildung, Herr Wohlgemuth, werden sie mit Bravour bestehen, ich bin gewiss. Also, in einer Woche in Münster, Herr Wohlgemuth?“

Der Ford stand tatsächlich auf dem Parkplatz und war nagelneu. Irgendwie verrückt. Wohlgemuth konnte noch nicht an sein Glück glauben. Und doch, falls er sich nicht dumm anstellte – unbedingt herumfragen musste er, wie solch ein Assessment Center abläuft und wozu das Ganze überhaupt gut war -, falls er sich also nicht dumm anstellte, war er ab nächster Woche Kundenberater bei Jubac. Dass Lapaix ihm gleich die Wagenschlüssel gab! Er musste wohl sehr überzeugend auf ihn gewirkt haben. Trotzdem, reichlich verwirrend das Ganze. Assessment Center, dieser amerikanische Blödsinn, war das der Haken? Lapaix hatte gut reden – ein kleiner Test.

Als Wohlgemuth Ostberlin erreichte, er hatte sich an den Wagen gewöhnt, schon nach ein paar Kilometern, und als er durch die Frankfurter Allee fuhr, malte er sich Claudias Gesicht aus, wenn er ihr die Wagenschlüssel zeigen würde. Zur Bürgerheimstraße musste er links in die Atzpodienstraße abbiegen. Erstaunlich, mit welcher Geschmeidigkeit sich der Ford in die Abbiegerspur hineinlenken ließ.

Am meisten freute sich nicht Claudia, wie Wohlgemuth gehofft hatte, sondern Jenny. „Da kannst du mich ja zur Schule fahren!“ Sie klatschte in die Hände. „Isabella und Miranda kommen jetzt auch mit Auto.“ Sie fiel ihm um den Hals. Wohlgemuth hörte sie den ganzen Abend in ihrem Zimmer herumtanzen.

Claudia hielt sich zurück. „Mal sehen, vielleicht treib ich ein paar Unterlagen auf“, sagte sie. „Assessment Center – nie was davon gehört.“ Aber sie gab sich eine Spur ruhiger als in der letzten Zeit.

Sie hielt Wort, einen ganzen Berg Bücher schleppte sie am nächsten Abend an. Bis nach Mitternacht saßen sie beisammen, Claudia testete ihn, und Wohlgemuth konnte sich gut vorstellen, dass sie das Zeug zu einer Lehrerin gehabt hätte. Nichts ließ sie durchgehen, die geringste Ungenauigkeit verlangte Wiederholung des Halbverdauten. Wohlgemuth büffelte. Sechs kurze Tage, nur sechs kurze Tage, er musste sich hineinfinden ins Ungewohnte. Schule war eben doch was Anderes als die Praxis, wo es aufs Exerzieren nicht ankam.

Auf der Fahrt nach Münster hatte Wohlgemuth den Anblick der wechselnden Landschaften genossen, genauso wie das Schnurren der Räder auf dem Beton der Autobahn. Ausgeruht, obwohl er ungewohnt früh aus dem Haus gegangen war, betrat er mittags die Halle des kleinen Hotels, das er nach drei Tagen verlassen würde. Tot oder lebendig, feixte er.

Sie waren fünf Kandidaten fürs Assessment Center, drei Männer seines Alters, ein jüngerer Kerl und eine schon beleibte Frau um die Fünfzig. Jeder hatte ein Doppelbettzimmer bekommen, auf Firmenkosten, wie der Anlageberater Herr Federmeier von Jubac – aus Hessen, stellte er sich vor – bei der Begrüßung am Abend betonte. So ein Assessment Center sei kein billiges Vergnügen, jeder Teilnehmer koste die Firma eine Summe im mehrstelligen Bereich. Aktives Engagement setze er also voraus. „Teamwork, meine Damen und Herren“, sagte Herr Federmeier, „Engagement, Durchsetzungsvermögen – Ihre Aufgabe in den kommenden drei Tagen. Keine Angst, meine Dame“, er grinste die Beleibte an, „alle Kandidaten sind in derselben Lage wie Sie.“

Wohlgemuth brummte zustimmend. Ein anerkennender Blick traf ihn.

„Sie werden lernen, Ihr Gegenüber psychologisch zu ergründen und seine schwachen Stellen zu finden. Nur die besten Argumente, die auch eingängig sind, eingängig, Herrschaften, zählen beim Verkauf, nur so bringen Sie Ihre Produkte an den Mann. Und nichts zählt mehr als der Erfolg, meine Herren.“ Federmeier lachte. „Übrigens, von Abfall verstehe ich nicht mehr als Sie in diesem Moment, Sie werden mir hoffentlich auf die Sprünge helfen?“ Der Witz kam an. „Ja, und deshalb keine Bange, schlüpfen Sie in die Rollen, die Ihnen das Assessment Center zuteilt. Sie werden spielen, Sie werden verkaufen lernen. Sie kennen das doch, das alte Kinderspiel Kaufmannsladen. Oder?“ Federmeier blickte einem nach dem anderen in die Augen, als suche er sich vorzustellen, wie jeder abschneiden würde.

Wohlgemuth senkte die Lider. Was suchte er hier? Das Assessment Center war ein Witz. Kunden aufreißen, das hatte er drei Jahre lang bei der Immobilienfirma gemacht, das beherrschte er aus dem Effeff. Jetzt, wo er wusste, worum es sich bei dem Assessment Center handelte, fühlte er sich mit einem Mal gedemütigt.

„Sie sind nicht einverstanden, Herr Wohlgemuth?“ Die Frage Federmeiers schreckte ihn auf.

„Doch“, er stotterte, er merkte, dass ihm das Blut in den Kopf stieg, „doch, natürlich bin ich einverstanden, Herr Federmeier“, hörte er sich sagen.

Das Frühstück wurde im Restaurant eingenommen. Es war reichlich: Toast, Fünfminutenei, Kaffee oder Kakao, man konnte wählen. Wohlgemuth sah sich um. Der junge Kerl ihm gegenüber kam aus Hamburg, hatte er gesagt, Franz Hansen. Er kodderte. Sowie der den Mund auftat, kodderte es aus ihm heraus. Ein Proll, eine Lusche, der Hansen, der und Kunden bearbeiten. Da muss sich Lapaix vergriffen haben in seiner Menschenfreundlichkeit. Sprechenkönnen gehörte nun mal zum Handwerk des Verkaufsgeschäfts, Pech für Hansen.

Die Miergel, die Beleibte, beschäftigte sich noch immer mit dem Frühstücksei. Wenn sie so langsam begreift, wie sie isst, heiliger Sankt-Nimmerleinstag, dachte Wohlgemuth. Hier geht es um Schnelligkeit, in diesem Tempo wird sie hier nichts.

„Mir macht es nichts aus, von Frankfurt/Oder nach Berlin zu ziehen, im Gegenteil“, hatte sie vorhin gesagt. Jetzt beugte sie sich mit vollem Mund über den Tisch. „Der Federmeier, der Clown – aber pscht! -, der hat was angedeutet: Sie wollen angeblich nur vier von uns, nicht fünf.“

Wohlgemuth hatte nichts Anderes erwartet. Als ersten stoßen sie den Hansen ab, na klar.

Ziesche, der lange dünne Sachse aus Leipzig, aus der Heldenstadt, Wohlgemuth grinste, Ziesche, der Sanfte, wird Schwierigkeiten mit seinem Akzent bekommen. Held hin, Held her. Zwei Kinder, seit einem Jahr arbeitslos, da brauchte er den Job.

Die Chancen des Dicken aus Köpenick, Bornstedt hieß er wohl, konnte Wohlgemuth noch nicht abschätzen. Stummm kauend schaufelte Bornstedt Toast auf Toast in sich hinein. Bisher hatte er außer seinem Namen und wo er herkommt, noch nichts gesagt am Tisch.

Also alle bis auf Hansen aus dem Osten, das hatte Wohlgemuth wissen wollen. Alle zusammen keine Konkurrenz für ihn. Er stand auf. „Wir sehen uns“, sagte er forsch und ging aufs Zimmer.

Am nächsten Morgen dann das Verkaufstraining. Auch andere Firmen hatten Kandidaten geschickt, Wohlgemuth schätzte, dass fünfundzwanzig Leute zusammengekommen waren. Der Raum hatte etwas von einem Klassenzimmer mit den in Reihen aufgestellten Tischen, vorn, an der Stirnwand, hing statt einer Tafel ein Packen plakatgroßer, noch unbeschrifteter Papiere.

Federmeier, er war also nicht nur für die Organisation zuständig, sondern unterrichtete auch, riss ein Blatt ab und schrieb auf, was ihm die Jobkandidaten zuriefen: „Freundlichkeit!“, „Herzlichkeit!“, „Entgegenkommen!“

Kindereien, dachte Wohlgemuth. Bisher hatte er sich noch nicht beteiligt an dem allgemeinen Lerneifer. Reden würde er sowieso nur, wenn es unbedingt nötig sein sollte. Überhaupt, die Veranstaltung war albern. Sollten die anderen sich erst mal abrackern, und dann würde er kommen, dann, wenn es ernst wird.

Federmeier hatte ein paar Mal auffordernd zu ihm herübergeblickt. Wohlgemuth reagierte nicht, er war hinter dem breiten Bornstedt in Deckung gegangen.

Nach dem Mittagessen, das wieder reichlich, aber langweilig war, Schweinebraten mit Sauerkraut, begann das Rollenspiel.

Das Rollenspiel, wusste Wohlgemuth aus Claudias Unterlagen, war der Dreh- und Angelpunkt in diesem Assessment Center. Federmeier bestimmte Bornstedt zum Kneipier und Kunden, Frau Miergel
mimte die Verkäuferin von Jubac. Sie sollte Bornstedt, der nicht interessiert war, zum Kauf von drei kleinen Abfallcontainern überreden. Beide, Bornstedt und die Miergel, sollten sagen, was für ein Typ der Kunde war, ob aufgeschlossen oder ablehnend oder neutral und ob vielleicht der Laden voller Kundschaft war.

Wohlgemuth meldete sich. „Eine zusätzliche Schwierigkeit: Die Gaststätte geht nicht, zu abgelegen in der Seitenstraße“, sagte er, und darauf einigte man sich dann.

Die Miergel schlich sich in die Szene. „Ich komme von Jubac“, sagte sie zu Bornstedt und lächelte ihn an wie eine Zehnjährige, „wir haben ein neues Angebot an Containern. Sie sind sicher daran interessiert?“

Bornstedt tat, als ob er allein sei, träge räkelte er sich auf seinem Stuhl. Die Miergel geriet ins Stottern. „Aber Sie sind sicher daran interessiert?“, sagte sie noch einmal.

Bornstedt reagierte noch immer nicht, räkelte sich noch mehr, gähnte hinter theatralisch vorgehaltener Hand und schloss die Augen: Was sollte er in einer leeren Kneipe mit drei Abfallcontainern, ihm reichte der eine, auch wenn das Angebot noch so günstig war.

Die Miergel packte es nicht, sie redete und redete auf Bornstedt ein, bis Federmeier dazwischen ging. „Also?“, fragte er. „Was hat die Verkäuferin nicht beachtet?“

„Nicht die Einnahmen“, sagte Ziesche schüchtern, der neben Wohlgemuth in der hintersten Reihe saß.

Federmeier nickte anerkennend. „Ja, richtig, Herr Ziesche, den Umsatz hat sie nicht beachtet. Darüber informiert man sich vorher, unauffällig. Wie tut man das?“

„Indem man einen Wirtschaftsdetektiv hinschickt!“, rief Bornstedt übermütig, stolz darauf, dass es ihm so gut gelungen war, so gut Desinteresse zu spielen.

Federmeier verzog das Gesicht, als ekle er sich. „Ein Detektiv kostet Honorar, Herr Bornstedt. Frau Miergel aber will Umsatz machen. Was also ist zu tun?“ Hansen, vorn, in der ersten Reihe, schnipste mit den Fingern. „Sie, Herr Hansen?“

Hansen zwängte sich wie ein Hilfsschüler aus der Bank, bis er stand. „Ich“, er sah sich triumphierend um, „ich bestell mir ein paar Bier, auf Firmenkosten. Aber abends, wenn die Kneipe nicht mehr ganz so leer ist. Ich teste die Lage.“

„Sehr gut, Herr Hansen“, Federmeier nickte anerkennend. „Sie sehen also, es braucht Vorbereitung, wenn man verkaufen will. Herr Hansen und Herr Ziesche bitte, würden Sie sich mal hier vorn hinsetzen?“ Diesmal war Ziesche der Kneipier, Hansen der Containerverkäufer.

Wohlgemuth fielen die Augen zu. Mit ihm hatte Federmeier wohl was Besonderes vor. Aber er hatte die Lage im Griff, stellte er fest. Doch aber nur Routine, sagte er sich dann, bloße Routine. Der weiß, wie er mit uns Hirnis aus dem Osten umzugehen hat, und wir kuschen, wir spielen mit wie die ersten Menschen. Aber alle Achtung, der weiß, wie er zu Geld kommt. Drei Tage lang dieser Spaß, und Federmeier steckt das Dreifache von dem ein, was uns alle zusammen in einem halben Jahr erwartet. Heringe sind wir für den, nichts als kleine Fische.

Abends, bei der Auswertung, sparte Federmeier nicht mit Lob. Hansen strahlte. Die Miergel saß da wie in der Kirche, die gefalteten Hände unter dem Bauch. Bornstedt atmete schwer, Ziesche wirkte angestrengt und ausgepumpt auf Wohlgemuth. Er, Wohlgemuth, kommt morgen dran, ahnte er, Federmeier wusste, dass er schon mal Immobilien verkauft hatte.
Nach der Auswertung ging es los in die Stadt. „Auf ein Bier“, sagte Hansen, „auskundschaften, wie der Umsatz ist. Vielleicht fange ich hier an mit dem Geschäft.“ Er lachte über seinen Witz.

Münsters Innenstadt war sauber und langweilig, Hängegeranien vor den Fenstern, strahlendweiße Gardinchen dahinter, eben westdeutsche Provinz, hier wurden die Straßen gesaugt. Wohlgemuth konnte den Hohn nicht unterdrücken, er grinste in sich hinein, während sie durch die Gassen liefen. Ein paar Leute saßen in dem schummrigen Restaurant herum, sprachen gedämpft und blickten, wenn Ziesche etwas sagte, natürlich zu laut und zu sächsisch, amüsiert zu ihnen hinüber.

Himmel, hier wohnen. Wohlgemuth grinste. Da müssten sie ihm aber anständig was zahlen.

Am nächsten Morgen bestätigte sich Wohlgemuths Ahnung, dass Federmeier mit ihm etwas Besonderes vorhatte. Wieder war Ziesche der potentielle Jubac-Kunde, diesmal Direktor einer mittelgroßen Papierfabrik, und Wohlgemuth spielte den Verkäufer. Er sollte Ziesche einen großen Papiercontainer und einen mittelgroßen Container für die Kantine aufschwatzen.

„Ich habe mich ein bisschen umgesehen in Ihrer Firma“, begann Wohlgemuth das Verkaufsgespräch. Ziesche erschrak, unsicher blickte er Federmeier an. War das erlaubt, dass sich einer umsieht in der Firma, ohne Wissen des Chefs? Federmeier nickte zustimmend: Es war erlaubt.

Wohlgemuth gab ihm großherzig das Stichwort für eine annehmbare Antwort, Ziesche reagierte nicht. „Ja, sicher“, sagte er endlich, „ich kann Container schon brauchen, Sie sehen ja, wie es hier aussieht, der Müll verpestet mir den Hof. Und da ist ein Container ganz gut für die Firma“, stotterte er.

Wohlgemuth war irrtiert. Wehr dich, Junge, Ziesche, damit ich mich mit dir anstrengen muss, so einfach fällt doch niemand auf dieses Scheißangebot herein! Ziesche blieb dabei: Er brauchte unbedingt einen Container.

Der Ziesche tat Wohlgemuth Leid. So würde es nichts mit dem Job für den Langen. Mit dem musste er fair sein, der nahm ja alles für bare Münze, der beobachtete ihn nicht, der wehrte sich einfach nicht, der baute keine Zäune um sich herum, dem konnte er jetzt zehn Container aufschwatzen, Ziesche würde kein Argument dagegen finden.

Wohlgemuth beobachtete aus dem Augenwinkel Federmeiers bemüht neutralen Gesichtsausdruck. Er schwankte. Entweder machte er Ziesche jetzt auf der Stelle fertig, indem er ihm nicht zwei, sondern fünf Container aufdrängte, oder Ziesche schaffte ihn selbst mit seiner Hilflosigkeit, verdammt. Federmeier hatte das gewusst, das sah er dem Kerl an. Der mit seinem Teamworkgeschwätz. Verkäufer und Käufer sind Todfeinde, am Ende kommt es doch darauf an, wer sich durchsetzt. Nur das zählte, Mitleid leistete sich niemand im Verkaufsgeschäft, das wusste doch jedes Kind. Teamwork, es war zum Lachen.

Federmeier strahlte und blickte auffordernd zu Wohlgemuth hinüber: Der geborene Verkäufer!

Wohlgemuth schlug zu. Und während er sprach, wunderte er sich, dass er dazu fähig war. Am Ende hatte er Ziesche sechs Container verkauft. Ziesche, der merkte, dass er verloren hatte, wurde klein und kleiner.

Noch machte sich Wohlgemuth keine Gedanken darüber, was nun mit Ziesche werden sollte. Er verteidigte sich: Natürlich war Federmeier stärker als er, der hatte seinen gutbezahlten Job. Natürlich musste er Ziesche fertig machen, ihm blieb doch nichts Anderes übrig. Na, den Eklat hätte er sehen mögen, wenn er seine Chance bei dem Langen nicht genutzt hätte!

Plötzlich fielen ihm Claudias Reden ein, die abendlichen Streitereien bei laufendem Fernseher: Noch immer nichts, noch keine Stelle? Das Herumgetanze von Jenny, als er mit dem Ford ankam.

Ja, er hatte es richtig gemacht, Ziesche oder er. Auch er hatte schließlich Familie. Und dann: Federmeier, der Dreckskerl, hatte ihm keine Wahl gelassen.

Zieh die Leute nicht über den Tisch, hörte er Claudias Stimme.
Er glaubte, ein Echo zu vernehmen: „ich! ich! ich!“

Wohlgemuth stand auf, ging durch die Reihe, nach hinten, zu seinem Platz, bemüht, seiner Miene den Ekel, der ihm unversehens im Magen saß, nicht anmerken zu lassen.

Zur Schlussauswertung am Abend des dritten Tages erschien Lapaix, geschniegelt wie immer und in ausgezeichneter Laune. Enthusiastisch bedankte er sich bei seinen Kandidaten fürs engagierte Mitmachen. Allen habe der Exkurs in die Verkaufslandschaft Neues vermittelt, nun hätten sie ein vorläufiges Rüstzeug mitbekommen für das, was sie in der Praxis erwarte. Es sei doch alles gar nicht so schlimm gewesen. Oder? Er lachte. Allerdings hätte sich wider Erwarten gezeigt, dass nicht jeder der Kandidaten den ausreichenden Biss besitze, das Erkennen der Schwäche des anderen, das Zupackenkönnen. Und Zupacken, meine Damen und Herren, müsse man nun mal unbedingt im Verkaufsgeschäft, das wussten schon die alten Sumerer. „Meine Damen und Herren“, beschloss er seine Rede, „verlassen Sie jetzt bitte diesen Raum, wir rufen Sie einzeln wieder herein.“

Wohlgemuth stand rauchend am Fenster. Als er sich umblickte, erschrak er: Ziesche war nirgends zu sehen. Hansen aber war in Hochstimmung, er unterhielt die Wartenden mit Witzen, sein kodderiges Hamburgisch ging Wohlgemuth auf die Nerven. Wohlgemuth wandte sich wieder dem Fenster zu.

Herrgott, er war ein Schwein, anspucken könnte er sich. Ohne Skrupel hatte er Ziesche, Familienvater wie er, in den Sack gehauen. Helfen hätte er ihm müssen, dem armen Kerl. Aber wie bloß? Ziesche, den Namen würde er so bald nicht mehr vergessen.

Wohlgemuth drückte sich die Stirn an der Scheibe platt, er verstand sich nicht mehr. Er hatte funktioniert. Das war es, er hatte funktioniert, wie jeder andere, er war nicht einen Deut besser als Hansen zum Beispiel. Hansen war ein Rindvieh, aber er wusste, worauf es ankam. Sich ducken, wenn die Zeit kommt, dass man sich ducken muss, und den großen Mann spielen, wenn die Situation es erlaubt. Und sich krümmen vor den großen Tieren, wie sie es gern haben.

Ziesche aber, Ziesche der Sanfte, der Unverdorbene, war auf der Strecke geblieben, dem war klar gewesen, dass er zum Verkäufer nicht taugte. Der Wohlgemuth oder ich, das hätte er sich sagen müssen, Leben oder Tod. Denn darauf kam es an: Alles oder nichts. Ja, Ziesche war auf der Strecke geblieben, weil er, Wohlgemuth das Schwein, ihm nicht geholfen hatte. Nützen würde es dem armen Kerl nichts mehr, wenn er, Wohlgemuth, jetzt alles hinwarf. Aber, ihm fiel Claudia wieder ein, es musste wohl sein, sonst war er nicht mehr er. Claudias vorwurfsvolle Blicke, nein, die würde er nicht ertragen können.

Wohlgemuth spuckte aus, auf den polierten Steinfußboden, er trat in den Auswurf hinein und verschmierte ihn mit dem Fuß. Er sah die Kronen der Bäume vor dem Fenster im Herbstwind erschauern, ein paar Spatzen flogen auf. Stumm zwängte er sich durch die Wartenden hindurch, hin zur Treppe aus dem Haus.

Wie würde Claudia reagieren, wenn er ihr von Ziesche erzählte? Wie er den armen Kerl fertig gemacht hatte, eiskalt. Nein, nicht eiskalt, in Eifer war er geraten, in Hitze, es war das Jagdfieber gewesen, das ihm in den drei Jahren bei den Engländern angezüchtet worden war. Man hatte von ihm erwartet, dass er funktionierte – und er hatte funktioniert.

Plötzlich, er stand schon auf der Treppe, blieb er stehen. Nein, Claudia würde, er war sich jetzt ganz sicher, wenn er ihr die Sache mit Ziesche erzählte, sie würde nichts sagen, aber ihn wieder eine ganze Woche lang nicht ansehen und nur das Nötigste sprechen. Vielleicht, er sah sie mit brennenden Augen und verächtlichem Blick vor sich, würde sie von Scheidung reden, wer konnte es wissen. Claudia, die Gerechtigkeitsfanatikerin. Claudia, die immer versuchte, fair zu ihren Kolleginnen zu sein, obwohl sie die Chefin der Unterwäscheabteilung im größten Kaufhaus der Stadt war, die sich aus Prinzip vor ihre Leute stellte. Sie hatte eben die DDR noch nicht ablegen können, das war es. Wie oft hatte er ihr das vorgehalten. Und wie oft war sie heulend nach Hause gekommen, weil sich ihre Gerechtigkeitsvorstellungen nicht mit der Realität deckten.

Klar, dass sie von ihm den selben Blödsinn erwartete. Aber er wusste, er würde sprechen, zu Claudia, von Ziesche, wie der vor Angst blass wurde, als er merkte, dass er verloren hatte. Er würde nicht nur, er musste sprechen! Sonst, keine Frage, würde irgendwas zwischen Claudia und ihm zerbrechen. Claudia war zu feinfühlig, sie würde merken, wenn er an einem Problem schluckte, ihr konnte er nichts vormachen. Sie würde fragen, immer wieder fragen. So lange, bis er endlich redete.

Entschlossen stieg er die Treppe wieder hoch und ging er an seinen Platz am Fenster zurück, die Blicke der anderen registrierte er kaum.
Die Tür ging auf. Bornstedt kam heraus, grinsend, das Victory-Zeichen zeigend. Federmeier rief von drinnen Wohlgemuths Namen auf. Wohlgemuth war es, als sei er in Trance geraten, so locker war plötzlich der Steinfußboden unter ihm, butterweich, er kam ihm mit jedem Schritt entgegen. Auch war ihm, als sei sein Gehör ausgeschaltet, er war benebelt wie nach zwanzig Glas Pilsner. Endlich stand er vor dem Tischchen, zog den Stuhl davor heran, saß, ohne dass er begriff, warum und seit wann er saß.

Lapaix reichte ihm irgendwelche Papiere herüber, erhob sich, schüttelte seine Hand, sagte etwas.

Wohlgemuth, die Papiere in der anderen, ließ die Hand los. Er musste etwas erwidern, sich bedanken.

„Ich ...“, sagte er verlegen, „ich wollte nur bemerken, dass ...“
Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Hoch aufgerichtet stand er vor Lapaix, der ihm erstaunt ins Gesicht sah.

„Ich ...“, begann er noch einmal, schwieg einen Moment. Die Stille tropfte im Raum.

„Ich kann nicht“, sagte er entschlossen. „Ich kann die Stelle nicht annehmen, Herr Lapaix.“

Lapaix lächelte interessiert. „Ach ja?“, sagte er, noch immer lächelnd.

Plötzlich brach es aus Wohlgemuth heraus. „Nehmen Sie Ziesche statt meiner. Er hat zwei Kinder, er braucht die Stelle. Mehr als ich.“

Lapaix öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schwieg aber.

„Verstehen Sie doch, Herr Lapaix, es war ungerecht. Unsere Waffen waren ungleich, Ziesches und meine. Ich hab genug Erfahrung im Verkauf, Ziesche aber ist blanker Neuling, der musste ja Fehler machen. Ich hab das Assessment Center überhaupt nicht gebraucht, ich weiß, dass ich verkaufen kann. Ich habe den armen Kerl aufs Kreuz gelegt, ohne an irgendwas anderes zu denken als an meinen eigenen Erfolg. So war es, Herr Lapaix. Leider.“

Lapaix schwieg, musterte ihn jetzt aber so durchdringend, als wolle er hinter seine Stirn blicken.

„Geben Sie Ziesche meine Stelle. Bitte, Herr Lapaix.“ Wohlgemuth wandte sich um und ging mit steifen Beinen zur Tür, legte die Hand auf die Klinke.

„Einen Moment, Herr Wohlgemuth!“ Lapaix war plötzlich hinter ihm.
„Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Wohlgemuth: Sie wollen Herrn Ziesche Ihre Stelle, die Sie sich hart erarbeitet haben in den letzten drei Tagen, Sie wollen ihm Ihre Stelle schenken? Wie kommen Sie dazu? Und Sie glauben, ich sei damit einverstanden?“

Wohlgemuth erwiderte nichts, maß Lapaix mit einem verächtlichen Blick. Es war derselbe Blick, den er Claudia andichtete, falls er jetzt ja gesagt hätte und sie von Ziesche erführe. Er drückte die Klinke herunter, stieß die Tür weit auf und lief, ohne sich umzusehen, zur Treppe.

Plötzlich rannte er. Er rannte, als sei Lapaix hinter ihm her, hinunter auf die Straße, an die Luft, an die kühle, frische Luft. Luft! Endlich.

Die Autos auf der Autobahn Richtung Berlin fuhren dicht an dicht. Der Tacho zeigte einhundertsechzig. Zu langsam, er würde erst in der Dunkelheit zu Hause sein. Natürlich, in jedem Fall würde er erst im Dunklen in Berlin ankommen, selbst wenn er zweihundert führe. Er ging auf hundertzwanzig herunter, vorn sah er einen Rastplatz, hinter ihm wurde gehupt. Er reagierte nicht, er sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde war er jetzt unterwegs.

Er stellte sich vor, wie Claudia ihn ansehen würde, wenn er ihr sagen würde, wie alles gelaufen war: das ganze überflüssige Assessment Center, die Quälerei mit Ziesche, das dumme Gesicht von Lapaix, als er nein sagte. Nein sagen, hatte er richtig gehandelt, als er das Angebot von Lapaix zurückwies? Oder war es nicht vielmehr die Angst vor Claudias Unerbittlichkeit gewesen, ihrem Beharren auf Fairness, hatte er sich von ihrer Geradlinigkeit einschüchtern lassen? War er selbst denn davon überzeugt gewesen, das Richtige zu tun? Verdammt, egal, wie er sich entschieden hätte, irgendwas wäre irgendwem zerbrochen.

Wohlgemuth schlug nervös auf das Lenkrad. Ja, ja, ja! Es war richtig gewesen. So wie das Assessment Center gelaufen war – war ihm denn etwas Anderes übrig geblieben? Er musste nein sagen, er hatte keine Wahl gehabt. Nicht, wenn er seine Selbstachtung nicht verlieren wollte. Nicht, wenn er Claudia nicht verlieren wollte.

Hinter ihm wurde das Hupen lauter und nervöser, mehrere Pkw überholten ihn auf der Nebenspur. Er glaubte, den Fahrtwind zu spüren, wenn sie an ihm vorbei zischten. Ohne dass er noch an ihn gedacht hätte, fuhr er am Rastplatz vorbei.

Er ging auf hundertvierzig hinauf, unvermutet fuhr der Wagen hinter ihm so dicht an ihn heran, dass er Gas geben musste. Der Ford schoss los, Wohlgemuth fluchte und umklammerte das Lenkrad. Es hatte zu regnen begonnen, er schaltete den Scheibenwischer ein. Sein Blick ging zum Tacho: hundertachtzig, hundertneunzig, zweihundert. Der Regen wurde immer dichter, Wohlgemuth ärgerte sich, dass er die Brille nicht aufgesetzt hatte.

Das Rücklicht des vor ihm fahrenden Mercedes verschwamm plötzlich zu einem blutroten Fleck, wurde immer größer, Wohlgemuth riss die Augen auf. Claudia, dachte er, Claudia wird staunen. Sie wird ihm in die Haare fahren, wie sie es immer tat, wenn sie auf ihm lag, sie wird ihren heißen Körper an ihn drängen, sie wird nichts sagen. Er wird ihren Leib spüren und auf kein einziges Wort warten. Sie wird ihn ansehen, stundenlang, ein ganzes Leben lang, immer nur ansehen.

Ein Ruck ging durch den Ford, Wohlgemuths Brust wurde gegen das Lenkrad gepresst. Dann war Stille. Die Welt ist stehen geblieben, dachte er verwundert, die Erdkugel hat sich aus ihrer Achse befreit und treibt durch das Weltall. Aber diese Stille, diese himmlische Stille. Rieselnde, riesenhafte Stille.
 

petrasmiles

Mitglied
Ich würde mir ein anderes Ende wünschen ...

... aber das Leben schreibt schon manchmal Geschichten, die mir nicht gefallen ...
Die Konfliktdichte ist sehr einfühlsam dargestellt und auch glaubwürdig. Und besonders gefallen hat mir, dass eine Frau einen Mann und seine besondere 'innere Befindlichkeit' beschreiben kann, ohne Klischees zu bemühen. Das hatte was Zärtliches, auch wenn sie ihn dann sterben lässt ;-)
Gruß
Petra
 
H

HFleiss

Gast
Liebe/lieber Petrasmiles,

ich übersetz mal: lächelnde Petra. Also Petra, mit dem Schluss hast du Recht, ich hab ihn mir auch anders gewünscht.
Aber er ergibt sich zwangsläufig. Und zwar deshalb, weil das Aufbegehren Wohlgemuts etwas nostalgisch Utopisches an sich hat, heute greift doch jeder zu jedem Strohhalm, nur um Arbeit und Einkommen zu haben. Mit dem Unfall (so stelle ich mir das eben vor) mache ich dieses Aufbegehren zu etwas, was Folgen hat, mach die Geschichte (hoffentlich) realistischer. Muss man erst mal drauf kommen. Irgendwas habe ich mir also dabei gedacht. So ist das Leben.

Hanna
 



 
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