Testlauf

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Silke_Honert

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Testlauf


Schnee und eisige Kälte überall. Sie kämpfte sich den Abhang hinauf. Endlich oben angelangt, geblendet von den Scheinwerfern eines Autos, das langsam auf der beinahe unpassierbaren Straße heranfuhr, brach sie zusammen. Mit letzter Kraft hob sie ihren Arm und stieß einen Hilferuf aus, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Die brennenden Schmerzen in ihren Gliedern, die langsam wieder zum Leben erwachten, ließen sie zu sich kommen. Sie konnte nichts sehen. Sie lag offenbar auf der Rückbank eines fahrenden Autos und jemand hatte ihr gleichgültig eine Decke übergeworfen, die nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Gesicht bedeckte. Verwirrt versuchte sie sich aufzurichten und stellte fest, dass ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Sie schüttelte die Decke ab, kämpfte sich in eine aufrechte Position und versuchte den Fahrer zu erkennen. Sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen. Die emotionslosen Augen im Rückspiegel verrieten ihr, mit wem sie es zu tun hatte.
[ 3]Ihren Revolver hatte sie bereits bei Ihrem Unfall verloren, und ihr Entführer hatte sicher auch das Klappmesser und das Reizgas aus Ihrer Manteltasche entfernt - sofern sie die Sachen nicht schon auf dem Rückweg zur Straße verloren hatte.
[ 3]„Was willst Du?“ Sie stellte fest, dass sie kaum sprechen konnte. Ihre Lunge schmerzte schlimmer als zuvor und sie fragte sich beiläufig, ob eine ihrer gebrochenen Rippen vielleicht daran schuld war. Immerhin, sie hatte kein Blut gespuckt.
[ 3]„Halt die Klappe, Schlampe.“ Der Fahrer starrte Sie unbewegt im Rückspiegel an. Vielleicht war in seinen Augen ein wenig Spott zu sehen.
[ 3] „Sag, was Du von mir willst. Vielleicht bin ich ja nett und gebe es Dir.“
Der unverkennbare Hohn in ihrer Stimme ließ seinen Blick noch kälter werden.
[ 3] „Wer sagt Dir, dass ich nicht schon habe, was ich will?“
[ 3]Sie überlegte. Wenn er die Disc gefunden hatte, die in ihrem Mantel eingenäht war, war sie in echten Schwierigkeiten. Sie konnte im Halbdunkel des Wagens nicht erkennen, ob die Nähte aufgetrennt worden waren. Natürlich brauchten sie noch den Entschlüsselungscode, doch er würde ihr kaum abnehmen, dass sie ihnen dabei behilflich sein würde. Aber weshalb hatte er sie dann nicht einfach getötet, anstatt mit ihr Richtung Chicago zu fahren? Die Antwort war einfach. Weil er ein brutaler Bastard war. Und ziemlich sauer auf sie.
[ 3] „Wo fahren wir hin?“
[ 3] „Wirst schon sehen. Ich möchte bezweifeln, dass Du jemals wieder Deine Klappe so weit aufreißen wirst.“
[ 3] „Du kennst mich doch. Mein großes Mundwerk macht meinen besonderen Charme aus.“
[ 3] „Herrgott noch mal, Du bist ein wahres Miststück!“ Es klang beinahe bewundernd. „Falls Du dich fragst, ob ich die Disc habe…ich habe sie. Also, Schätzchen, was könntest Du wohl noch zu bieten haben, um mich milde zu stimmen?“ Offensichtlich hatte er Lust auf Spielchen, bevor er mit ihr tat, was immer er geplant hatte.
[ 3] „…den Entschlüsselungscode?“
[ 3] „Darling, in einer Stunde werden sich ein Dutzend Experten daran setzen, die Disc zu entschlüsseln und ich wette mit Dir, sie werden nicht länger als fünf Minuten dafür brauchen. Ich schätze, Du hast ein echtes Problem.“
[ 3]In einer Stunde? Dann konnten Sie nicht mehr weit von Chicago entfernt sein und was immer er vor hatte, ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
[ 3] „Richtig. Die werden nicht mehr als fünf Minuten brauchen, um den versteckten Sender zu aktivieren, der euch innerhalb kürzester Zeit zwei Dutzend Agenten auf den Hals schickt.“ Natürlich war nicht genug Zeit gewesen, die Disc mit einem Sender zu präparieren aber sie konnte darauf hoffen, dass dem Maulwurf in ihrer Organisation nicht genug Zeit geblieben war, diese Information weiterzugeben.
[ 3]Misstrauisch starrte er sie im Rückspiegel an. Natürlich glaubte er ihr nicht, doch er war zumindest verunsichert. Er setzte zu einer Erwiderung an, doch sie schnitt ihm das Wort ab:
[ 3] „Hey, ich weiß, wann ich verloren habe. Ich helfe Euch bei der Entschlüsselung und ihr lasst mich ungehindert abziehen.“ Sie versuchte so unschuldig wie möglich zu klingen.
[ 3]In diesem Augenblick trat ein dunkler Schatten auf die Straße vor ihnen. Ihr Entführer war gut trainiert und reagierte blitzschnell. Und tat genau das Falsche. Er setzte zur Vollbremsung an riss gleichzeitig das Lenkrad herum. Der Wagen rutschte auf der spiegelglatten Fahrbahn ohne zu reagieren geradeaus und krachte in das Hindernis.

Wer glaubt, zwanzig Meilen pro Stunden seien langsam, der ist noch nie mit diesem Tempo ungebremst in ein Wildschwein gefahren, dachte Sie ironisch, während sie angewidert schniefte und das Blut, dass ihr von der Nase in den Mund gelaufen war, ausspuckte. Sie war mit dem Kopf gegen den Vordersitz geprallt und hatte sich dabei beinahe die Nase gebrochen. Sie schaffte es die Tür zu öffnen und kämpfte sich aus dem Auto. Die Straße war eine einzige Rutschbahn und ihre Hände waren immer noch auf dem Rücken gefesselt. Sie warf sich mit aller Kraft gegen die Fahrertür, die ihr Entführer, der eine Minute lang bewusstlos gewesen war, gerade zu öffnen versuchte. Befriedigt hörte sie sein schmerzerfülltes Aufstöhnen, als die Tür gegen seinen Körper prallte.
[ 3]Sie schlitterte den Abhang zum Wald hinunter, fiel mit einem Aufschrei auf ihre lädierten Rippen und kämpfte sich sofort wieder auf die Beine. Obwohl sie nicht besonders schnell vorankam, schaffte sie es dennoch einen ordentlichen Vorsprung herauszuholen. Ihre Hände, die sie verzweifelt versuchte aus den Fesseln zu befreien, waren glitschig von ihrem Blut, was die Stricke langsam ins Rutschen brachte. Sie brauchte die Disc. Sie brauchte die verdammte Disc. Mit einem letzten Ruck kamen ihre Hände frei. Sie warf sich hinter einen mit Eiszapfen bedeckten Busch und hoffte, dass sich ihr keuchender Atem ein wenig beruhigt haben würde, bis er in ihre Nähe kam, und sie nicht verriet.
[ 3]Sie musste nicht lange warten. Im blassen Mondlicht war seine massige Gestalt im Schnee gut auszumachen. Sie hatte nur eine Chance.
[ 3]Kaum dass er auf ihrer Höhe war, schoß sie hinter dem Busch hervor und beförderte mit einem gezielten Tritt den Revolver aus seiner Hand. Sie nutzte seine Überraschung, warf ihm eine handvoll Schnee ins Gesicht und rammte ihre Faust gegen seinen Kehlkopf. Keuchend brach er zusammen und krümmte sich im Schnee. Nach ein paar Tritten in die Nieren war er so weit. Sie schlang ihm ihre Fesseln um den Hals und zog sie gnadenlos zu, bis die zweihundert Pfund Mann reglos unter ihr am Boden lagen.
[ 3]Sie versuchte wieder zu Atem zu kommen. Es gab keinen verdammten Knochen in ihrem Körper, der ihr nicht weh tat und die Kälte tat ihr übriges. Am liebsten hätte sie sich neben ihren Widersacher gelegt um bis in alle Ewigkeit zu schlafen. Sie gab sich einen Ruck und begann ihn zu durchsuchen. Immer hektischer tastete sie ihn ab, dreht jede Tasche wieder und wieder um, bis klar war, dass er die Disc nicht bei sich. Tränen brannten in ihren Augen als sie erkannte, dass sie sich zum Auto zurückkämpfen musste. Wütend starrte sie auf die Lichter der Häuser, die ganz in der Nähe waren und rappelte sich schließlich seufzend auf, um in die entgegen gesetzte Richtung zu gehen.
[ 3]Sie schien Stunden für den Weg zu brauchen. Sie war noch hundert Meter von der Straße entfernt, als sie Stimmen hörte und Lichter durch die Bäume blitzen sah. Fassungslos und zornig stampfte sie mit dem Fuß auf. Das durfte einfach nicht wahr sein, dass die Polizei den Wagen gefunden hatte.
[ 3]Doch es war kein Polizist, der gemütlich rauchend an der lädierten Kühlerhaube des Wagens lehnte. Sie kannte den Mann, hatte in den letzten Jahren mehrere Stunden am Tag mit ihm verbracht und ihn dabei gleichermaßen hassen und lieben gelernt. Zwei Agenten schafften das Wildschwein von der Straße, das wie sie jetzt sah und roch, wesentlich länger als eine halbe Stunden tot sein musste. Aus einem dunkelgrauen Mercedes stieg der Leiter ihrer Einheit aus und musterte sie missbilligend.
[ 3] „Sie haben länger gebraucht als wir gedacht haben. Und sie hätten vorher ausschließen müssen, dass ihr Feind die Disc womöglich im Auto zurückgelassen hat.“ Er hielt ihr vorwurfsvoll den Datenträger unter die Nase.
[ 3]Hinter ihr, brach schnaufend ihr vermeintlicher Entführer aus dem Dickicht hervor und sie beobachtete entgeistert, wie er - nicht ohne sie giftig anzublicken - an ihr vorbeihumpelte und in den wartenden Lieferwagen einstieg. Das war ein Test gewesen? Sie hatte sich mehr als eine Woche lang durch den halben Nordwesten der USA gequält um ihre erste Mission durchzuführen und das war alles nur ein Test gewesen? Wütend starrte sie ihren Ausbilder an, der sich immer noch an den Kühler des beschädigten Wagens lehnte und gelassen seine Zigarette rauchte. Er schien weniger kritisch als sein Vorgesetzter zu sein, denn er sah sie anerkennend an. Er lächelte und bot ihr eine Zigarette an. Gedankenverloren blickte er auf den Kadaver, den seine Kollegen inzwischen in den Straßengraben geworfen hatten.
[ 3] „Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es war, das verdammte Wildschwein aufzutreiben...“
 



 
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