Textvorschlag für Anthologie

Andreas

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Der Spinnenmann

Bereits als kleiner Junge, war ich von einem Tier fasziniert, welches in meiner näheren Umgebung immer nur für Unruhe gesorgt hatte, sobald es irgendwo gesichtet wurde – die Spinne.
Schrille, hysterische Schreie, gefolgt vom Schlagen von Schuhen oder Stöcken auf das an sich ungefährliche und wehrlose Tier, erfüllten den Raum.
Ich blickte meist nur schockiert und mit viel Unverständnis durch die Runde der Erwachsenen, die ihren Sieg über dieses Kleine, possierliche Tierchen aufbauschten, nachdem der tote, zermatsche Körper im Innern eines Staubsaugers seine letzte Ruhe fand.
Es war wohl auch diese kindliche Unverständnis, welches ein ganz spezielles Interesse an diesen achtbeinigen Tieren in mir weckte und ich ergründen wollte, was an ihnen
so schlimm sein sollte.
Oft setzte ich mich in die Nähe einer Spinne, die irgendwo im freien oder auch in einem kühlen Kellerraum in ihrem Netz auf Beute lauerte und beobachtete sie.
Schnell stellte ich fest, daß es eine Vielzahl von verschiedenen Arten gab, die man in zwei Kategorien trennte – Die Webspinnen und die Wolfspinnen.
Die Webspinnen, waren meine heimlichen Künstler. Anmutig wie ihre dünnen, feingliedrigen Körper, waren auch die Beutenetze, welche sie in stundenlanger Arbeit erschufen.
Viele Menschen liefen achtlos durch diese Kunstwerke aus Form und Statik und schreckten hoch, wenn es sich das Netz klebrig um ihr Gesicht oder einen anderen nackten Körperteil legte.
Niemand interessierte, wie lange eine Spinne für ein solches Kunstwerk benötigt hatte, welches sie gerade durch ihre Unachtsamkeit zerstörten, daß die feine Seide aus der
dieses Netz gesponnen war, aus 2-8 Spinnenwarzen kam, welche auf dem kugeligen Körperabschnitt der Spinne lag und daß diese Spinnenfäden aus Eiweißmolekülen bestanden.
Kaum jemand weiß, daß die Reihenfolge der einzelnen Aminosäureketten wichtig ist, damit die außergewöhnlichen Eigenschaften der Spinnenseide ermöglicht wird.
Ein Spinnfaden hat einen extrem kleinen Durchmesser von nur 0,0005 Millimeter...
Doch ich schweife ab...
Die Wolfspinne hingegen ist ein Jäger auf dem Boden. Sie pirscht sich an die Beute und betäubt sie mit einem kurzen Biss in die Atemorgane, bevor sie diese in ein Erdloch oder eine andere Behausung zieht und in einem Seidenmantel konserviert.
Doch ob als Jäger im Netz oder am Boden, eines haben beide Arten gemeinsam – ihre Art sich zu bewegen.
Es ist eher ein Schweben oder ein lautloses Gleiten, an glatten Wänden, Decken oder im hohen Gras einer Wiese.
Die Beine sind wie eine Präzisionsmaschine koordiniert – schnell und fehlerfrei.
Niemals würde eine Spinne über ihr eigenes Bein stolpern – ein Umstand, wo teilweise wir Zweibeiner häufiger scheitern.
Es gibt wohl kaum ein Tier, daß sich bei der Jagd auf seine Beute mehr Mühe gibt als die Spinne um eine etwas angenehme Atmosphäre im Anblick des Todes zu schaffen.
Andere Tiere, zerreißen ihre Beute in Stücke und Speisen die herausgerissenen, blutüberströmten Fleischteile, während ihr Opfer schmerzverzerrt, noch immer um sein Leben kämpfend am Boden liegt.
Da ist es doch angenehmer von einer Spinne verspeist zu werden – zumindest, wenn man die Wahl hat.
Doch ein jeder hat seine eigene Anschauungsweise.
Wie gesagt, meine Faszination wuchs immer mehr und meine Beobachtungen wurden immer länger und intensiver.
Meine Besessenheit führte sogar soweit, daß ich mir auf meinen Oberarm eine Spinne, genauer gesagt eine Tarantel eintätowieren ließ, die in Lateinamerika beheimatet ist.
Der Tätowierer war wirklich ein Künstler – die Spinne sah wie echt aus und aus der Entfernung konnte man wirklich glauben, daß sich auf meinem Arm eine ausgewachsene Tarantel bewegte.
Ihr graziler, wohlgeformter Körper war braun und auf dem Rücken schwarzgestreift.
Ich war stolz auf dieses Kunststück welches nun auf meinem Körper prangte.
Dann, einige Wochen später, passierte etwas eigenartiges.
Mitten in der Nacht wurde ich wach und spürte etwas klebriges an meinem Arm.
Als ich das Licht anschaltete, sah ich, daß es etwas Blut war – nicht viel, eigentlich nur einige wenige Tropfen. Zuerst dachte ich, daß ich mich vielleicht irgendwo gestoßen hatte und hoffte, daß die Tätowierung dabei nicht beschädigt worden war.
Doch das Kunstwerk auf meiner Haut war durch keinerlei Kratzer beschädigt worden; ich fand auch keine Wunde, aus welcher das Blut gekommen sein konnte.
Dann untersuchte ich das Bett und wurde fündig. Anscheinend hatte sich eine vollgesaugte Stechmücke oder ein sonstiges Tierchen auf meiner Bettdecke niedergelassen und sich an meinem Blut bereichert; ich mußte mich umgedreht und es damit zerdrückt haben.
Eigentlich nichts tragisches. Ich vergaß dieses Ereignis schnell wieder.
Ein paar Tage vergingen und als ich nach einer angenehmen, warmen Dusche vor dem Spiegel stand, bemerkte ich eine winzige Veränderung an meinem Oberarm. Mir war, als hätte sich die Tätowierung etwas nach oben geschoben.
Doch ich verwarf den Gedanken wieder und schüttelte meinen Kopf. Wie sollte so etwas möglich sein.
Ich mußte mich schlicht geirrt haben.
Aber es geschah etwas weiteres seltsames. Wieder einige Tage später, bemerkte ich einen weichen Flaum von dunklen Haaren, der sich über die tätowierte Spinne legte und diese noch echter erscheinen lies.
Es störte mich nicht weiter und wieder ignorierte ich die Veränderung mit einem Kopfschütteln.
Dann, eines Nachts wachte ich auf, da ich einen spitzen Stich an meinem Oberarm spürte.
Eine Stechmücke, dachte ich nur und zog die Decke etwas höher um meine Haut zu schützen.
Doch es war keine Stechmücke – zumindest konnte ich mir das anhand meiner Verletzung absolut nicht vorstellen, die am nächsten Morgen zu sehen war.
Mein Oberarm war stärker angeschwollen als dies bei Stechmückenstichen der Fall war.
Er hatte auch eine rötlich-blaue Färbung.
Wieder direkt an meiner Tätowierung, die sich auch auf merkwürdige Weise verändert hatte.
Ich hätte schwören können, daß meine Tarantel noch vor wenigen Tagen eine andere Lage gehabt hatte.
Es schien mir, als hätte sie sich etwas gedreht.
Langsam wurde ich etwas unruhig, da auch der Flaum auf der Tätowierung fester zu werden schien.
Ich machte mir mit einem Kugelschreiber eine Markierung auf meinen Oberarm, direkt unterhalb an einem der behaarten Spinnenbeine.
Anscheinend wurde ich langsam verrückt; meine Fantasie spielte mir einen bösen Streich.
Es war doch vollkommen unmöglich, daß sich eine auftätowierte Spinne bewegte.
Aber es war wirklich so. Zwei Tage später untersuchte ich meinen Arm; die Markierung lag nun etwa einen Zentimeter unter dem Spinnenbein.
Ich stand da, wie von der Tarantel gestochen – ein recht passender aber makaberer Vergleich.
Plötzlich sah ich diese Tätowierung, auf die ich noch vor wenigen Wochen so stolz gewesen war mit ganz anderen Augen. Ich erlebte etwas, daß ich nicht logisch erklären konnte und dieser Umstand jagte mir ein mächtige Portion Angst ein.
Immer häufiger spürte ich die nächtlichen Stiche und die darauf folgenden Schwellungen wurden von Mal zu Mal schlimmer. Ständig war es der Oberarm mit der Tätowierung.
Der Arzt, der meine Verletzung untersuche, lies süffisant die Bemerkung fallen, daß mich wohl meine Spinne gebissen hatte; jedoch das Lachen von mir blieb aus.
Nein, ich war mir eigentlich schon fast sicher, daß es wirklich so sein mußte.
Doch wem sollte ich das sagen? Dem Arzt etwa? Dieser würde mich wohl gleich an einen Kollegen aus der Psychiatrie überweisen.
Also schwieg ich und nahm die Salbe entgegen, die eigentlich eher bei Mückenstichen helfen würde.
Zuhause angekommen, stellte ich mich mit nacktem Oberkörper vor den Spiegel.
Die Spinnentätowierung schien zu lauern und mir war, als würde sie sich zum Sprung bereit machen. Ich füllte mich plötzlich wie eine Beute und eine Gänsehaut überzog meinen Körper.
Nun empfand ich die Furcht und den Ekel vor dieser Spinne, welchen ich als Kind bei den Erwachsenen nicht hatte verstehen können.
Mit zitternden Fingern fuhr ich vorsichtig über die Tätowierung, in Erwartung, daß die Spinne sich auf irgendeine Weise bewegen würde.
Die Haare auf den aufgezeichneten Beinen und dem Oberkörper der Tarantel waren nun richtig schwarz und sie fühlten sich auch nicht mehr menschlich an.
Doch sie blieb regungslos am selben Fleck sitzen und schien mich mit ihren runden, pechschwarzen Augen genauestens zu beobachten.
Ich nahm eine Nadel und führte diese langsam zu meiner Tätowierung.
Dann stieß ich zu. Die Nadel bohrte sich in den Kopf der Spinne und damit auch tief in meinen Oberarm.
Ein höllischer, kurzer Schmerz bereitete sich aus und kleine Blutstropfen quollen aus dem Einstichloch.
Das Blut wirkte seltsam dunkel, fast schwarz und mir war, als hätte ich für einen kurzen Moment ein schmerzhaftes Aufbäumen der Spinne bemerkt – nur eine kurze Bewegung.
Langsam zog ich die Nadel wieder aus meinem Oberarm heraus und somit auch aus der bewegungslosen Tarantel, deren Augen zu glänzen schienen.
Wieder vergingen einige Tage, in denen ich es vermied die Tätowierung auf meinem Arm anzuschauen.
Sie war ein Teil von mir – doch irgendwie war sie dennoch fremd und nun auf eine unbeschreibliche Art bedrohlich.
Dann kam für mich die Gewissheit.
Ich stand wieder vor dem Spiegel und rasierte mich, als ich einen kleinen, schwarzen Strich auf meiner Haut wahrnahm, der sich etwa einen Zentimeter über meinem T-Shirtrand befand.
Ich strich mit meiner nassen Hand darüber, jedoch er lies sich nicht entfernen.
Dann zog ich den Rand des Shirts etwas nach unten, um zu sehen, womit ich mich da eigentlich beschmutzt hatte.
Vor lauter Schreck, lies ich das Rasiermesser in das leere Waschbecken fallen.
Der vermeintliche Strich, war ein Stück eines der Beine meiner tätowierten Tarantel.
Dann zog ich das T-Shirt aus und verschaffte mir Gewissheit.
Die Tätowierte Tarantel, war von meinem Oberarm bis hin zu meiner Schulter gewandert.
Sie wirkte auch größer als vorher – ihr Magen schien gefüllt zu sein.
Mein blasses Gesicht schaute mich aus dem Spiegel verständnislos an.
Wie zum Teufel konnte das möglich sein? Es gab hierfür keine natürliche, keine logische Erklärung. Diese Tätowierung lebte und ernährte sich von meinem Blut.
Ich mußte sie vernichten. Sie war nicht mehr weit von meinem Hals entfernt und ich wollte nicht wissen, was passieren würde, wenn sie dann zubeißen würde. Bestimmt würde mein Hals auch so anschwellen wie mein Oberarm – vielleicht würde ich ersticken.
Dann viel es mir wieder ein – die Wolfspinne betäubt ihre Beute durch einen Biss in die Atmungsorgane
Es mußte etwas geschehen.
Mit fliegenden Fingern durchsuchte ich die Schublade meines Schrankes nach der Visitenkarte des Tätowierers und wählte, nachdem ich diese endlich gefunden hatte, mit zitternden Fingern seine Nummer an.
Er sollte dieses ekelige Vieh von meinem Körper entfernen.
Doch ich hörte nur seine Stimme auf dem Anrufbeantworter.
Als ob die Tarantel ahnte, was ich vorhatte, konnte ich nun zum ersten Mal deutlich eine langsame Bewegung erkennen.
Nur einige Millimeter – aber sie hatte sich bewegt.
Ich mußte nun handeln. Schnell handeln.
Wieder eine kurze Bewegung auf oder in meiner Haut. Ich war schon nicht mehr ganz Herr meiner Sinne. Mein schneller Atem flog durch den Raum und mein Puls schlug
bis zum Hals.
Säure – schoß es durch meinen Kopf. Es war die einzige Möglichkeit die ich hatte.
Im Keller hatte ich noch etwas Salzsäure, die ich zum Reinigen von Metallen benutzte.
So schnell ich konnte holte ich den Kanister.
Zurück im Badezimmer schaute ich wieder in den Spiegel.
Nur noch wenige Zentimeter trennten die Spinne von meinem Hals. Ich mußte handeln...
Nicht denken ... nicht denken... nicht denken...
Ein beißender Gestank nach verbranntem Fleisch und die lauten Schreie aus meiner Kehle, vermischten sich mit dem unsagbaren Schmerz, welchen ich empfand, während sich die Säure langsam durch meine Haut fraß.
Dann wurde es dunkel vor meinen Augen und ich fiel in eine tiefe Ohnmacht.
Als ich wieder erwachte, holte mich der Schmerz sofort ein.
Es war bereits Abend geworden. Es mußten also mehrere Stunden vergangen sein.
Ich knipste das Licht an und stand vor dem Spiegel. Ich hatte es geschafft, die Tarantel war zerstört. Nichts erinnerte mehr an ihr Vorhandensein. Zitternd vor Schmerz und Kälte stand ich vor dem Spiegel und mit Tränen in den Augen blickte ich auf meinen zerfressenen Körper – die Säure hatte ganze Arbeit geleistet, ich würde einige häßliche Narben erhalten.
Ich rief den Krankenwagen und nur wenige Minuten später, wurde ich behandelt.
Der Sanitäter gab mir ein Spritze. Alles um mich begann langsamer zu werden, die Schmerzen verschwanden, die Stimmen wurden tiefer und leiser und sie klangen wie
aus einer anderen Welt. Ich spürte nur noch Müdigkeit und das Verlangen meine Augen für
einen kurzen Moment zu schließen; nur für einen Moment...
Dann hörte ich wie durch eine dicke Wand gesprochen die Stimme des Sanitäters dessen Worte mich laut aufschreien lassen wollten, jedoch ich schaffte es nicht mehr,
da die Spritze ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.
„Auf seinem Rücken befinden sich seltsame, kleine schwarze Punkte. Hunderte....“
Die Tarantel hatte anscheinend meinen Körper als Eiablage benutzt und diese würden nun sicherlich in wenigen Tagen schlüpfen....


© by Andreas Seiller
 



 
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